Bicultural Urbanite Luke
Forever Young
In der erfundenen Welt des ‚Peter Pan‘ ist Nimmerland ein Fantasieort, an dem Kinder nie erwachsen werden müssen. In der realen Welt heißt dieser Ort Berlin. Könnte man zumindest meinen.
Fragen Sie einfach die Horden an ausgewachsenen Männern und Frauen – häufig Ende 20, 30, 40 und darüber hinaus –, die jeden Sonntagabend am Berghain Schlange stehen, dem weltberühmten Technoclub und Hedonisten-Spielplatz. In der deutschen Hauptstadt ist das Berghain nur einer von vielen dekadenten Clubs, in denen jeder, dem danach ist, rund um die Uhr ohne Unterbrechung dem Sinnestaumel frönen kann; surreale Weltflucht-Nischen, in denen heiße Bässe pulsieren und ein sanft beleuchtetes Meer glänzender Haut sich bis weit in die Bürozeiten des Montagmorgens hinein erstreckt.
Peter-Pan-Syndrom
Natürlich sind nicht alle älteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Partys ausgemachte ‚Peter Pans‘. Viele sind engagierte Freiberufler und Künstler mit flexiblen Arbeitszeiten und einem ‚Work hard, play hard‘-Schlachtplan. Gar nicht wenige von ihnen arbeiten sogar Vollzeit und gönnen sich noch einen freizügigen Tanz im Dunkeln, bevor sie am Montagmorgen wieder der Monotonie des grauen Alltags ins Auge sehen müssen. Aber alle eint ein unterschwelliger Wesenszug des populärpsychologischen ‚Peter-Pan-Syndroms‘: eine beharrliche Weigerung, die sorgenfreie Unschuld der Jugend vollends aufzugeben. Ein Bedürfnis danach, dass das Leben auch weiterhin Spaß macht.Verbringt man in Berlin einige Zeit damit, das Nachtleben (oder, richtiger, das „24-Stunden-Leben“) zu genießen, stellt man fest, dass die Stadt voller Kandidaten für diese Diagnose steckt – Menschen, die sich der zum Erwachsensein gehörenden Verantwortung zu entziehen suchen und sich stattdessen lieber ins Vergnügen stürzen. Im Lauf der Jahre habe ich mich mit Leuten aus jedem Teil des Peter-Pan-Spektrums angefreundet (und oft genauso schnell wieder entfreundet); sie reichen von denjenigen, die auf der Schneide erwachsener Ambitionen stehen, bis zu den deutlich traurigeren Fällen abgespannter und hoffnungsloser Menschen, die sich verzweifelt an die fadenscheinige Wahnvorstellung einer ganz klar längst vergangenen Jugend klammern. Die Lost Boys (und Girls) sind hier in all ihren vielen Formen zu finden.
Was die Frage aufwirft: Liegt das daran, dass Berlin Peter Pan-Persönlichkeiten anzieht, oder ist irgendwas im Berliner Trinkwasser, das die Menschen hier dieses sogenannte Syndrom entwickeln lässt? Insbesondere wenn es ans Feiern geht, ist das sicher auch eine Frage der Möglichkeiten. In meiner Heimatstadt Melbourne – und im Prinzip jeder anderen normalen Stadt der Welt – hätte man einfach nicht die Option, diesen Eskapaden endlos weiter zu frönen. Zu irgendeiner respektablen Zeit ginge die Party zu Ende und man würde nachhause geschickt, um die davongetragenen Schäden im harschen Licht des Badezimmerspiegels zu begutachten. Aber in Berlin ist es oft nur die eigene Selbstbeherrschung, die zwischen einem selbst und dem nächsten epischen Besäufnis steht.
Das deutsche Nimmerland
Natürlich geht die Idee, der eigenen Jugend nachzujagen, weit über die Grenzen des Clubs hinaus. Sich bis weit ins Erwachsenenalter hinein auch weiterhin auszutoben mag das offenkundigste Merkmal des modernen Peter Pan sein, aber es ist nur eine Verhaltensweise aus einem ganzen Spektrum, das zahlreiche Elemente des Lebens im deutschen Nimmerland durchdringt. Und während der gewohnt paternalistische Dr. Google diejenigen, die an diesem Syndrom ‚leiden‘, in ausschließlich abwertenden Farben malt, bin ich nicht davon überzeugt, dass ihr Verhalten nur krankhaft ist.Ja, wir werden alt und runzlig, egal, wie wild wir auch weiterhin tanzen. Und ja, natürlich möchte man den Komfort und die Sicherheit haben, die die ganze Verantwortung und harte Arbeit des Erwachsenendaseins mit sich bringen. Die tragenden Säulen des Erwachsenenlebens – erfüllende Arbeit, ein schönes Zuhause, Beziehungen von Bestand – sind ganz offensichtlich Dinge, die für ein langfristig erfülltes und tragfähiges Leben erstrebenswert sind. Aber wenn man in seiner Eile, sie zu erreichen, auch den letzten Funken jugendlichen Staunens und Verspieltheit ausrottet, läuft man Gefahr, die Fähigkeit zu verlieren, den Prozess des Ankommens zu genießen. Was ich an Berlin liebe, ist, dass die Menschen es sich hier nicht einfach bequem machen und dann alles daransetzen, es sich immer noch bequemer zu machen, bis sie schließlich sterben – sie leben weiter.