Kino in Oz
Filmfestivals in der Corona-Ära
Weniger als sechs Monate nach der diesjährigen Berlinale hat die Coronavirus-Pandemie die Filmfestivalszene des Jahres 2020 komplett verändert. Unsere Filmkritikerin Sarah Ward beschäftigt sich mit diesen Veränderungen und unserer neuen Filmfestivallandschaft.
Von Sarah Ward
Als im Februar dieses Jahrs die Berlinale veranstaltet wurde, hätte sie eigentlich nicht das letzte Hurra sein sollen. Im ersten Jahr unter den neuen Co-Direktoren Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek und zum 70. Geburtstag der prestigeträchtigen Veranstaltung sollte das Festival 2020 eine größere filmische Darbietung und Feier als ja zuvor sein. Als die Vorhänge über die Leinwände in der deutschen Hauptstadt glitten, verweilte die Berlinale leider in einem unausweichlichen Schatten, der nichts mit der Veranstaltung selbst oder ihren Vorführungen zu tun hatte. Die Menschenmenge wurde dadurch zwar nicht beeinträchtigt, aber das Coronavirus war dennoch ein häufiges Gesprächsthema und auch der Grund dafür, dass Handdesinfektionsmittel und Taschentücher auf dem winterlichen Festival häufiger zu sehen waren als sonst.
Eine Woche später wurden in Deutschland Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abgesagt, was der erste Schritt Richtung strengeren Lockdown-Maßnahmen war. Wenn das größte Filmfestival des Landes in diesem Jahr von auch nur einer Sache profitierte, dann war es mit Sicherheit ein glücklicher Zeitpunkt. So hat die Berlinale 2020 nun einen ganz besonderen Platz in den Herzen der Besucher - für viele war es „die letzte große Veranstaltung“ und es wird voraussichtlich erstmal nichts wirklich Vergleichbares in der nahen Zukunft geben. In den Monaten danach haben hochkarätige Veranstaltungen wie SXSW, Cannes und Telluride ihre Festivals für 2020 abgesagt, viele weitere sind ganz oder teilweise online gegangen, und andere planen weiterhin kleinere Versionen. Angesichts des unterschiedlichen Status des Coronavirus rund um den Globus ist dies eine sich ständig weiterentwickelnde Situation; Filmfestivals rechnen jedoch mit riesigen Veränderungen.
Den Feind umarmen
Festivals wurden dazu gezwungen, sich gerade dem zu beugen, dem sie sich sonst weitgehend widersetzten, oder es sogar verabscheuten. Einem Übel, dem sich auch Cannes in den letzten Jahren beugen musste: Streaming-Plattformen. Das französische Festival hat des Öfteren bereits seine Verachtung für Netflix zum Ausdruck gebracht, indem es dessen Feature-Filme seit 2018 vom Wettbewerb ausgeschlossen hat, und obwohl nicht alle andere Veranstalter einheitlich mitgezogen sind, hat sich dennoch eine unzufriedene Haltung weit verbreitet. Auf der Berlinale zum Beispiel hörte man in diesem Jahr Buhrufe als das Netflix-Logo erschien, noch bevor der Film überhaupt angefangen hat. Die Roma von Alfonso Cuaron hätte 2018 zwar den Hauptpreis der Filmfestspiele von Venedig gewonnen, aber die Einstellung, dass digitale Kanäle eine Bedrohung für das Kinoerlebnis darstellen, ist nach wie vor weit verbreitet.
Plötzlich konnte man dann nicht mehr in Person in die Kinos oder auf Filmfestivals gehen. In einem abgedunkelten Raum zu sitzen und mit anderen Filmfreunden auf eine riesige Leinwand zu starren, gehört zu den großen Freuden des Lebens, aber monatelang wurde es aus dem gesellschaftlichen Repertoire der Menschheit ausgelöscht. In weiten Teilen der Welt ist das sogar immer noch der Fall, auch in Melbourne, wo sich das diesjährige Melbourne Internationale Filmfestival (MIFF) nähert. Das MIFF sagte sein live Festival bereits im April ab und kündigte dann eine reine Online-Veranstaltung im Mai an, sodass die Show weiterhin stattfinden wird - allerdings in einer ganz anderen Form.
Einen Abend, mehrere Abende oder gar ein ganzes Wochenende damit zu verbringen, sich durch das Angebot einer Streaming-Plattform durchzuarbeiten, ist längst Teil unseres Alltages geworden; jetzt aber auch die aktuellen, großen Kinofilme auf die gleiche Art zu konsumieren, ist ein Sprung in die Corona-Ära. Das MIFF bietet den Zuschauern Zugang zu mehr als 100 Filmen, darunter sowohl Spielfilme als auch Kurzfilme, und gibt sein Bestes, um seinen Zuschauern ein Festivalerlebnis zu Hause zu bieten. Auch viele bekannte Titel sind mit dabei, so wie der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag First Cow, Pablo Larrains Ema und hochgepriesene deutsche Filme wie Exile, No Hard Feelings und Lara. Einige davon werden während der Festivaltermine vom 6. bis 23. August auf Abruf verfügbar sein, während andere nur für bestimmte Zeitfenster verfügbar sind, so dass das Publikum sich ähnlich wie bei einem Live-Event einen Zeitplan zusammenstellen muss.
Online-Möglichkeiten
Dies stellt gleichermaßen einen willkommener Schritt, wie auch eine erfrischende Verpflichtung dar, dem Publikum ein Filmfestival in welchem Format auch immer anzubieten. Ein Online-Festival ist in den Augen des MIFF eindeutig besser als gar kein Festival. Ein kluger Schritt für jede Großveranstaltung, da das „MIFF 68 ½“, wie das diesjährige digitale Festival genannt wird, dadurch in der Lage ist, die Verbindung mit seinem Publikum in einem solchen Jahr weiterhin aufrechtzuerhalten. Die Filme des Festivals werden zwar nur auf kleinen Bildschirmen bei den Zuschauern zu Hause gezeigt, aber sie werden trotzdem gezeigt. Es ist natürlich nicht das erste große australische Filmfestival, das im Jahr 2020 online geht – es gab bereits das virtuelle Sydney Film Festival und Couched, ein digitaler Ableger des Revelation Perth International Film Festival - ein wirklich erfreulicher Trend.
So wie es nichts Besseres gibt, als einen Film auf der großen Leinwand in einem Kino zu sehen, so gibt es auch nichts Besseres als genau diese Freude mit einem Festival zu verbinden, und den Filmgenuss auf 11 hochzukurbeln. Sich auf eine virtuelle Übertragung einzulassen bietet nicht nur die Möglichkeiten ein bestehendes Publikum zu erreichen, sondern auch die Reichweite eines Festivals zu vergrößern. MIFF, SFF und Couched sind oder waren alle landesweit verfügbar, sodass es Zuschauer im ganzen Land genießen konnten, ohne die Kosten für Flugtickets und Unterkunft tragen zu müssen. Das primär auf Abruf verfügbare Format ist auch ein Segen für Filmfreunde mit Kindern, Krankheit, unflexiblen Arbeitszeiten oder einfach allgemeine Alltagsevents, die jongliert werden müssen, denn nicht jeder kann seine gewohnte Routine auf Eis legen, nur um sich Filme anzuschauen.
Ob nun nur ein kleiner Teil des üblichen Programms angeboten wird - wie es das SFF machte, indem es sich auf zwei reguläre Streams plus Kurzfilme konzentrierte - oder ein eher umfangreiches Programm wie es das MIFF und Couched angeboten haben, virtuell zu arbeiten ist auf jeden Fall ein dringend benötigter Schritt in die richtige Richtung - und es wäre schön, wenn es zu einer festen Gewohnheit werden würde. Mit dem Jahr 2020 als Testgelände haben Festivals herausgefunden, dass sie Zuschauer online und von außerhalb ihrer üblichen Stadtgrenzen anziehen können. Falls diese Optionen auch in Zukunft angeboten werden, vielleicht als Ergänzung zu einem größeren Live-Programm, dann werden die Zuschauer mit Sicherheit auch nach Isolation, Quarantäne und Lockdowns weiterhin zuschauen.
An der Tradition festhalten
Live-Festivals wurden jedoch nicht überall, sei es weltweit oder innerhalb Australiens, komplett von der Tagesordnung gestrichen. Auf globaler Ebene gehören Venedig, Toronto und New York zu den Veranstaltungen die 2020 stattfinden werden, wenn auch mit Veränderungen - wie ein kleineres Programm, Vorführungen in mehreren Theatern gleichzeitig, Drive-in-Optionen und virtuelle Angebote. Dies plant auch die Berlinale für 2021. Und vor Ort wird erst „Revelation“, dann „Couched“ noch in diesem Jahr eine Live-Veranstaltung durchführen. In Adelaide und Brisbane halten die Filmfestivals an ihren traditionellen Oktoberterminen und einem Live-Format fest.
Dort, wo es sicher ist, ist dieses Vorgehen auf jeden Fall von Vorteil, da die Freude, einen Film in einem Kino zu sehen und persönlich an einem Filmfestival teilzunehmen, sicher nie verblassen wird. Und nach so langer Zeit in geschlossenen Räumen im Jahr 2020 sehnen sich Filmliebhaber zweifellos danach, ihrem Lieblingszeitvertreib irgendwo anders als auf der eigenen Couch nachkommen zu können. Dennoch kann man auch weiterhin nicht auf beständige Sicherheit vertrauen und darauf, dass Live-Veranstaltungen eine realisierbare Option bleiben. Nachdem der Termin von März auf August verlegt wurde, musste das Internationale Filmfestival von Hongkong seine Veranstaltung im Jahr 2020, weniger als einen Monat vor dem geplanten neuen Termin, dann vollständig absagen, als Maßnahme auf die zunehmenden Corona-Fälle in der Region. Hätte das MIFF sein Live-Festival verschoben, anstatt online zu gehen, wäre es mit derselben Situation konfrontiert gewesen.
Eine andere Frage: Wie wird ein Live-Filmfestival in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 und darüber hinaus aussehen, abgesehen von Filmvorführungen in sozial distanzierten Kinos? Reisebeschränkungen bedeuten, dass hochkarätige Gäste nicht teilnehmen werden, es sei denn, es handelt sich um Einheimische, und hochkarätige Talente per Zoom einzuladen hat definitiv nicht den gleichen Reiz. Rote Teppiche, Afterpartys, Podiumsdiskussionen und Workshops - das sind alles Programmkomponenten, die angepasst werden müssten. Das gilt auch für den Austausch mit anderen Filmliebhabern, sei es durch einen beabsichtigten Austausch oder durch ein spontanes Gespräch mit einem anderen in der Schlange.
Das Gesamtbild
Die Frage, wie Festivals in die Kinos zurückkehren, wie diese Erfahrung für das Publikum sein wird und ob Zuschauer in großen Scharen folgen werden, knüpft an die allgemeine Situation an, mit der die Filmindustrie derzeit konfrontiert wird. Die Normalität der Zeit vor der Berlinale ist noch keine Option, wie jeder, der seit der Öffnung australischer Kinos einen Film gesehen hat, feststellen konnte. Die großen Blockbuster des Jahres wie Tenet und Mulan und sogar anfänglich festivalgebundene Filme wie Wes Andersons The French Dispatch wurden ständig verschoben und je nach der weiteren Ausbreitung der Pandemie angepasst. So sehr sich die Kinoindustrie und das Publikum gleichermaßen einen klaren Weg zurück auf die große Leinwand wünschen, will jedoch niemand einen Film in einem leeren Kino zeigen.
Die Menschen wollen aber immer noch Filme sehen. Und die Filmliebhaber sind nicht nur traurig darüber, momentan keine Live-Events besuchen zu können, sondern sie wollen auch immer mehr und mehr als das übliche Streaming-Angebot sehen. Dies ist in der Tat ein Zeichen der Zeit, wie es sie im letzten Jahrhundert noch nie gegeben hat, ein Überlebensmechanismus und ein zwingender Schritt, vorherrschenden Sehgewohnheiten der neuen Situation anzupassen - im Idealfall gehört sie ab diesem Zeitpunkt aber auch bereits zur Festivallandschaft