Cassandra’s Eyes
Dies ist kein Gedicht // Dies ist ein Verschleiertes erinnerungsstück
© Sadia Rahman Shupta
"Du hast es schon richtig erraten: Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Manchmal ist es zu viel und manchmal ist es zu wenig", schreibst du.
Von Rubina Nusrat Puspa
Heimweh ist eine Krankheit
Du weißt nicht, wie du das schreiben sollst, ohne scheinbar in Tränen auszubrechen. Da ist ein aufgestauter Schwall von Sehnsucht - und nach etwas, das man sich nicht mehr physisch aneignen kann, zumindest nicht sofort. Nicht, wenn man nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Auch wenn man nicht minderjährig ist, aber wenn man an einem Ort wie diesem lebt, muss man, egal wie alt man ist, wie eine Minderjährige leben, bis man verheiratet wird.Was ich gerade schreibe rührt her aus einem Zustand der Wut, des Verletztseins, des Neides und des Wunsches nach etwas, das unerreichbar ist.
Du hattest Pläne. Du hattest feste, todsichere Pläne, die du dir von niemandem durchkreuzen lassen wolltest. Da, wo du jetzt stehst, scheint alles, was du hattest - deine Träume, Hoffnungen und Bestrebungen - recht ehrgeizig.
Du hast Angst, dass du die Träume, die du im Moment hast, im Nachhinein vielleicht ebenfalls als ehrgeizig bezeichnen würdest.
"Du hast es schon richtig erraten: Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Manchmal ist es zu viel und manchmal ist es zu wenig",
schreibst du.
Du hast vor ein paar Minuten mit jemandem von den Schulfreunden telefoniert.
Heutzutage hast du kaum noch Kontakt zu ihnen. Vor allem, weil ihr nichts mehr gemeinsam habt - nur noch eure Vergangenheit.
Aber wenn mal das vorkommt, ist es zu viel.
Das Heimweh, die Sehnsucht des Zurückwollens, ist überwältigend.
Der Drang, sie über einen Handy-Bildschirm zu greifen, ist überwältigend.
Du vermisst den Ort, den du früher dein Zuhause genannt hast, und dir ist peinlich, was die Menschen dort vertreten.
Es ist an der Zeit, weiterzumachen.
Im Gespräch mit deiner Freundin wird dir klar, dass alle erwachsen geworden sind - einige haben einen Job, andere sind verheiratet und wieder andere studieren. Nach dem Telefonat war die Stille ohrenbetäubend; die Schwere in deiner Brust drohte dich ganz und gar zu verschlingen.
Du wolltest sie zurückrufen und sie bitten, dran zu bleiben, bis dich die Müdigkeit überkommt, und du schliesslich umfällst .
Du hattest das Bedürfnis, in Ohnmacht zu fallen. Du brauchtest alles andere als dieses Gefühl der Bedürftigkeit.
Du verlangst zu viel, das ist dir wohl klar. Du verlangst nach etwas, was so unvorstellbar ist - fast aberwitzig.
© Sadia Rahman Shupta
Wie kann man sich entlieben?
Wenn du dich im Spiegel betrachtest, sind deine Gedanken unfassbar abwertend. Du fährst mit den Fingern über die unebene Haut deines Gesichts, die Rundungen und Vertiefungen deines Bauches, die Grobheit deiner Oberschenkel und Hände: "Ich habe es satt, in meiner Haut leben zu müssen", sagst du leise vor dich hin.Schon bald versinkst du in deiner inneren Qual.
Das Wort Selbstliebe wird heute überall gepredigt. Aber egal, wie oft man durch all die Social-Media-Posts und Blog-Artikel scrollt, kann man die Selbstabwertung nicht stoppen.
Es ist eben so.
Du hast eine Krankheit, die es dir schwer macht, aus dem Bett zu kommen.
Das kann man zweierlei deuten – Trägheit oder Depression
Du wirst nicht sagen wollen, dass du unter Depressionen leidest. Das ist ein zu mächtiges Wort. Die Auswirkungen sind enorm. Du hast Angst.
"Ich bin ein glückliches Kind. Ich hatte eine gute Kindheit. Ich habe Eltern, die glücklich verheiratet sind. Ich habe Freunde", lautet der Refrain in deinem Kopf.
Du nimmst automatisch eine Defensiv-Haltung ein, um dich selbst zu besänftigen, dass mit dir alles in Ordnung ist.
Es ist alles in Ordnung.
Doch, es geht dir gut.
Ich bin der Hulk
Wenn man die Farbe des Neides googelt, findet man, dass Neid durch die Farbe Grün dargestellt wird. Da denkt man sofort an den Hulk. Hulk, dessen Persönlichkeit kindisch, wütend und zerstörerisch ist. Hulk, der fast immer alles, was ihm im Wege steht, zu Staub macht.Hulk, mit dem du dich identifizieren kannst.
Du bestehst wohl mehr aus Gier, Hass und Zorn als aus Fleisch und Blut.
Du denkst, eines Tages wirst du dich ändern. Das musst du auch. Es führt kein Weg daran vorbei.
Du denkst, dass das Leben so nicht weitergehen kann, wobei man im klebrigen Morast des Zynismus steckenbleibt.
Also versprichst du dir: "Morgen ist ein neuer Tag, ein frische Blatt. Ich werde ab morgen ein anderes Leben führen."
Das geschieht nie.
Der ganze Optimismus verfliegt doch irgendwann.
Bitte kümmere dich um Mama
Bitte schreibe nicht etwas Trauriges.Aber was schwirrt in deinem Kopf herum?
“Meine Augen stehen voller Tränen, und meine Finger schweben zittrig über der Tastatur.
Ich hasse es, wenn es still im Haus ist. Ich hasse es, wenn meine Mutter vor mir ins Bett geht. Ich vermisse das aus der Küche kommende Scheppern und Klirren. Ich möchte egoistisch sein. Ich möchte einen Wunsch nach dem anderen äußern. Ich will mich wie ein Kind benehmen: Gib mir dies, gib mir das, und gib es mir sofort. Ich möchte einen Wutanfall bekommen. Ich möchte meine Mutter umarmen - ich kann mich nicht erinnern, wann ich das das letzte Mal getan habe. Ich möchte ihr sagen, was ich auf dem Herzen habe. Ich möchte in den Armen von jemandem gehalten werden, ohne losgelassen zu werden. Ich möchte jeden Tag neben jemandem schlafen. Ich möchte über meinen Tag reden, egal wie langweilig oder mittelmäßig es klingen mag.
Ich möchte Zeit haben, ich möchte Zeit haben, ich möchte Zeit haben. Ich will nicht, dass die Zeit so schnell vergeht. Ich werde alt, meine Freunde ebenfalls und meine Familie auch. Ich kann es kaum in einem Film festhalten. Ich will nicht , dass die Zeit so schnell vergeht.
Ich will–"
Wegwischen, wegwischen, wegwischen.
Du wischst alles mit einem Papiertaschentuch weg.
Du kannst nicht einfach mit dir selbst allein gelassen werden.
"Ich möchte mit dir reden", denkst du.
"Ich wünschte, ich könnte mit dir reden."
Du hast kürzlich ein Buch mit dem Titel Please Look After Mom gelesen und musstest ständig daran denken. Du musstest etwas tun, irgendetwas, obwohl du nicht genau wusstest, was.
Du hattest das Bedürfnis zu weinen. Weinen um deine Mutter, weil dir durch das Buch klar geworden ist, wie sehr du sie für selbstverständlich hältst – wie schlecht du sie behandelst.
Einmal warst du mit deiner Mutter auf dem Weg ins Krankenhaus – für dich natürlich, denn deine Mutter würde niemals für sich selbst ins Krankenhaus fahren. Du erinnerst dich daran, wie du auf ihre Hände gestarrt hast – Hände, die du noch nie gehalten hast, seitdem du erwachsen bist. Während der ganzen Fahrt hast du immer wieder an das Buch gedacht; die Zeile "Entweder kennen sich Mutter und Tochter sehr gut oder sie sind sich fremd" ging dir ständig durch den Kopf.
Talente oder das Fehlen von Talenten
Du hast dich selbst zu sehr unter Druck gesetzt.Du bist nicht sehr begabt – wenn überhaupt. Schreiben ist das Einzige, was manchmal dir gut gelingt. Deshalb neigst du dazu, dich zu sehr unter Druck zu setzen. Du setzt dich so lange unter Druck, bis es in deinem Kopf zu hämmern beginnt und die Nerven in deinen Händen anfangen zu schmerzen.
Nichts ist furchterregender als ein leeres Blatt.
"Was da alles zum Ausdruck kommen kann ", denkst du. "Das Potenzial und die Enttäuschung, alles oder nichts."
Manchmal findest du es grässlich, dass du Englisch studiert hast. Du erzählst deiner Freundin: "Das tut weh."
Du willst automatisch gut darin sein – gut im Schreiben. Schließlich wolltest du doch schon immer schriftstellerisch tätig sein. Es gibt Zeiten, in denen es dir schwer fällt, Worte zu Papier zu bringen – Zeiten, in denen du so unmotiviert bist, dass du nicht weisst, was du tun sollst. Du jammerst deiner Freundin vor: "Ich kann das nicht". Deine Freundin sagt dir: "Ich bin da, wenn du Hilfe brauchst." Aber du willst keine Hilfe. Du willst es allein schaffen. Das ist die einzige Sache, von der du glaubst, gut schaffen zu können. Das darfst du nicht auch noch verlieren.
Du wirst deinen eigenen Erwartungen nicht gerecht und beginnst schließlich , jedes Wort zu hassen, das aus dir herausfließt.
"Vielleicht bin ich doch nicht für die Schriftstellerei geschaffen", denkst du dir.
Du möchtest eher aufgeben.
Abschiede und was alles dazu gehört
Du bist unendlich dankbar für Lehrer mit sanften Augen und gütigen Herzen.Du lässt sie nur ungern zurück
bzw. gehen.
Wenn du zu viel darüber nachdenkst, findest du es furchtbar, dass man heranwächst –Heranwächst, um etwas Größeres zu wollen, etwas mehr zu erreichen.
Das, was einmal genügte, reicht nicht mehr – der Drang, nach mehr, dröhnte in unseren Ohren.
Du verstehst also.
Es ist schwer zu akzeptieren, aber du verstehst es.
Und du lässt sie gehen.
ZUR AUTORIN:
Rubina Nusrat Puspa studiert zur Zeit Medien- und Kulturwissenschaften an der Brac University. Sie ist eine vielversprechende Schriftstellerin mit einer immer präsenten
Vorliebe für Literatur und dem starken Anliegen, ihre Werke der breiten Öffentlickeit weltweit vorzustellen. Besonders nahe liegen ihr Werke, die den Lesern einen Einblick in ihr wahres Wesen verleihen, und da sie in Saudi Arabien aufgewachsen ist, sind ihre Werke zum grossen Teil von Weltflucht und Wehmut geprägt.