Energiewende
Ziviler Ungehorsam fürs Klima
Deutschland hat den Kohleausstieg beschlossen, doch in den rheinischen Braunkohlerevieren lässt der Energiekonzern RWE weiter Wälder roden und Dörfer umsiedeln. Der Widerstand dagegen ist vielfältig: von „Ende Gelände“ bis „Triole gegen Kohle“.
Von Bernd Müllender
Der Wind bläst kräftig über das Braunkohlerevier Garzweiler nahe Mönchengladbach an diesem Tag. Unten im Tagebau schaufeln Bagger pausenlos das braune Gold aus der Erde. Doch nicht nur Kohle wird hier gewonnen, auch an die hundert Windräder kann man rund um dem kleinen Ort Lützerath zählen, der direkt an der Tausende Hektar großen Kohlegrube gelegen ist. Nur, warum steht die Hälfte still?
Kaputt sind die Turbinen nicht: Sie sind ausgeschaltet, weil das Netz gesättigt ist. Ist genug Energie vorhanden, wird die Stromproduktion heruntergefahren – und weil sich die betagten Braunkohle-Kraftwerke nebenan nicht einfach in ihrer Arbeit unterbrechen lassen, ruhen die Windräder, während die Bagger weiterschaufeln. So verhindert die Trägheit der Kohleindustrie hier sehr direkt, Tag um Tag, Stunde um Stunde, die Gewinnung und Nutzung erneuerbarer Energien.
Die Bagger neben den Windrädern – in Lützerath ist der Konflikt zwischen Kohle und erneuerbaren Energien greifbar. Hier stehen sich Kohlekonzern und ziviler Widerstand gegenüber, unberührte Natur versucht neben dem Tagebau zu bestehen. In Lützerath stehen kaum noch zehn Häuser, hier wohnen offiziell gemeldet nur noch drei Menschen. Dennoch – oder gerade deshalb – ist dieser Winzling von Weiler direkt am größten Kohleloch Europas das neue Symbol für den Kampf gegen die klimaschädliche Technologie Braunkohle geworden. Der Grund: Das schon größtenteils geräumte Dorf soll dem Kohleabbau Platz machen.
Anti-Kohle-Aktivist*innen am Rand des Tagebaus Garzweiler 2019: Die weißen Malerkittel sind ein Markenzeichen des Bündnisses Ende Gelände.
| Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Marcel Kusch
Bastian Neuwirth von Greenpeace sagt mit Blick Richtung Bagger: „In Lützerath entscheidet sich Paris, die 1,5 Grad-Grenze.“ Wenn die Grube hier vergrößert und die darunter liegende Kohle verfeuert werde, sei das Pariser Klimaabkommen für Deutschland nicht mehr einzuhalten: RWE wolle noch fast 900 Millionen Tonnen Braunkohle fördern, was die im Klimaabkommen vereinbarten maximalen CO2-Mengen um ein Vielfaches übersteigen würde. Deshalb ist er heute hier, zusammen mit Aktivist*innen, Anwohner*innen und Naturschützer*innen: Sie alle wollen sich der Erweiterung der Grube in den Weg stellen.
Von Baumbewohnern und Baggerbesetzerinnen
Gegen die Braunkohle lehnt sich seit Langem ein breites Bündnis auf. Am auffälligsten sind die Leute von „Ende Gelände“ in den weißen Maler*innenkitteln, die sie bei ihren Besuchen und Besetzungen im Tagebau tragen. Sie nennen sich selbst „Zusammenschluss ungehorsamer Klimagerechtigkeits-Gruppen“, sind offiziell im Visier des Landesverfassungsschutzes und werden daher von vielen Medien als „linksextremistisch“ eingestuft.
An diesem Tag ist ihre Sprecherin Emilia Lange vor Ort. Sie sagt, die dezentrale Arbeit in vielen Städten, lokale Zusammenschlüsse und kleine Übungsgruppen machten den Erfolg der Gruppe aus, die sich mit Aktionen zivilen Ungehorsams vor allem gegen den Abbau fossiler Energieträger einsetzt.
Teilnehmer*innen des Bündnisses Ende Gelände und Demonstranten von Fridays for Future stürmen 2019 den Tagebau Garzweiler.
| Foto (Detail): © picture alliance/Geisler-Fotopress/Christoph Hardt
Ende Gelände war auch 2018 vor Ort, als sich Kohlegegner*innen gegen die Rodung des Hambacher Forsts einsetzten, ein Waldstück am Rand des nahegelegenen Tagebaus Hambach. Ende Gelände stürmte die Grube und besetzte die Kohlebagger. Allein waren sie mit ihrem Widerstand nicht: Auch die Bilder junger Leute, die über Monate in selbstgebauten Baumhäusern wohnten, um die Bäume vor der Abholzung zu schützen, gingen um die Welt. Die Baumhäuser wurden zwar im Herbst 2018 in einer umstrittenen und nachträglich als illegal eingestuften Polizei-Großaktion geräumt. Dennoch hatte der Widerstand zunächst Erfolg: Gemeinsam konnten die Baum- und Baggerbesetzer*innen, die Anwohner*innen und Demonstrant*innen mit ihren Menschenketten und Großprotesten die Abholzung so lange aufhalten, bis ein Richterspruch die Rodung des Forsts untersagte. Auch rund um Lützerath und den Garzweiler-Tagebau haben sich nun bereits Aktivist*innen in Bäumen eingerichtet.
Die Solidarität der Anwohner*innen mit den Anti-Kohle-Aktivist*innen ist groß. Sie versorgen die Waldbesetzer*innen sowohl im Tagebau Hambach als auch in den Garzweiler-Dörfern regelmäßig mit Lebensmitteln und Ausrüstung. Sei es die ältere Dame, die nach einer Führung so begeistert vom Engagement der jungen Menschen war, dass sie abends mit ein paar Kuchenblechen zurückkehrte, oder die Witwe eines Alpinisten, die bergeweise Kletterausrüstung in den Wald brachte. Viele Besetzer*innen haben zudem „Alltagspat*innen“ in den umliegenden Dörfern: Menschen, bei denen sie ihre Wäsche waschen oder duschen können.
Bei den Protesten stehen sie zudem oft Seite an Seite: die Anwohner*innen, organisiert in der Bürgerinitiative „Alle Dörfer bleiben!“, und die Aktivist*innen – so auch in Lützerath. Die Mitglieder der Bürgerinitiative, das sind Landwirt*innen, Angestellte, Schüler*innen oder Handwerker*innen aus den umliegenden Dörfern, die sich weigern, ihre Heimat aufzugeben: „Wenn hier der Kampf gewonnen wird, sind auch wir safe“, sagt eine Frau aus dem benachbarten Keyenberg.
Ziviler Ungehorsam – das bedeutet auch immer wieder Konfrontationen mit der Polizei: Blockade von „Ende Gelände“ beim Hambacher Tagebau im Oktober 2019.
| Foto (Detail): © christianwillner.com/Ende Gelände (CC BY-NC 2.0)
Emilia Lange von Ende Gelände freut sich über „viel Verständnis der Menschen hier für unsere krasseren Widerstandsformen“. Niemand von der Bürgerinitiative kritisiere Baggerbesetzungen, auch wenn diese illegal seien. Auch weniger prominente Gruppen besetzen in Garzweiler immer wieder die Bagger, wie beispielsweise „Lebenslaute“, ein 100-köpfiges Polit-Orchester, das mit Konzerten an Protesten teilnimmt. „Triole gegen Kohle“ nannten sie ihre Aktion, bei der sie unter den Förderbändern die Bach-Suiten anstimmten und so die Arbeit stundenlang stoppten.
Der Bauer, der sein Land nicht aufgibt
Ob sie den Ort werden retten können? Mit Baggerbesetzungen, Konzerten und Sitzblockaden allein wahrscheinlich nicht. Aber auch hier in Lützerath könnte eine Wendung wie 2018 im Hambacher Forst möglich sein, wo das Oberverwaltungsgericht Münster die Rodung direkt nach der Räumung des Waldes für unrechtmäßig erklärte. Im September 2021 stufte das Verwaltungsgericht Köln sogar die vorangegangene Räumungsaktion durch rund 4.000 Polizist*innen und Kosten von geschätzt 50 Millionen Euro nachträglich als illegal ein.
Die Braunkohle und die Windräder: Blick auf den Braunkohletagebau Garzweiler.
| Foto (Detail): © picture alliance/FotoMedienService/Ulrich Zillmann
In Lützerath hoffen alle auf eine Einstweilige Verfügung des Oberverwaltungsgerichts Münster gegen die Enteignung des Landwirts Eckardt Heukamp. Dessen 250 Jahre alter Bauernhof steht gleich an der Abbruchkante des Tagebaus. Enteignung ist juristisch in Deutschland nur möglich, wenn sie dem Gemeinwohl zuträglich ist. Für den Braunkohleabbau hat diese Begründung bisher gegolten, mehrere Dörfer wurden in den letzten Jahrzehnten für den Tagebau umgesiedelt. Doch fossile Energiegewinnung mag vielleicht nach dem Krieg dem Gemeinwohl gedient haben, argumentieren die Braunkohlegegner*innen, heute heiße Gemeinwohl hingegen: ein möglichst schneller Stopp.
Viele Menschen unterstützen Bauer Heukamp vor Ort. Einige, wie zum Beispiel die Seawatch-Kapitänen Carola Rackete, wohnen sogar auf seinem Gehöft oder den anliegenden Wiesen und Wäldern. Andere zeigen ihre Solidarität durch Spenden, damit Heukamp die bislang 90.000 Euro für Gutachten sowie Anwalts- und Gerichtskosten schultern kann. „Was hier passiert, ist ein Verbrechen den künftigen Generationen gegenüber“, sagt eine Frau, die zu den Protesten gekommen ist.
Der Widerstand gegen Braunkohle-Tagebau hat eine lange Geschichte: Menschenkette gegen die Kohleförderung am Tagebau Garzweiler im Jahr 2015.
| Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Henning Kaiser
Tag X
Was die Demonstrant*innen in Lützerath als „Verbrechen an den künftigen Generationen“ bezeichnen, findet nicht nur hier statt – und nicht nur hier regt sich Widerstand. Von Bangladesch bis England, von China bis zu den USA demonstrieren Bürger*innen gegen Smog, blockieren Aktivist*innen Kohletransporte und ziehen mit Klagen vor Gericht. In Südafrika beispielsweise halten sich heftige Proteste, nachdem dort im Herbst 2020 eine Anti-Kohle-Aktivistin in ihrem Haus erschossen wurde, in Indien begaben sich Indigene Völker im Oktober 2021 auf einen 300 Kilometer langen Protestmarsch und in Australien gewannen acht Teenager eine Klage gegen die Umweltministerin, die nun verpflichtet ist, bei potenziellen weiteren Kohleprojekten einzugreifen.
In Deutschland erscheint die politische Lage grundsätzlich besser: Die Bundesregierung hat der Kohle ein Ende gesetzt – jedoch erst für 2038. Doch bis dahin möchte der Energiekonzern RWE seinen Tagebau weiter betreiben und Milliardensubventionen in Anspruch nehmen. Im Laufe der Jahrzehnte hat die Kohle die Heimat tausender Menschen zerstört, Baudenkmäler und Kirchen sind ihr zum Opfer gefallen, ebenso wie Kulturlandschaften, gesunder Boden und intakte Natur. Von der Politik wurde unter anderem die Zukunft der Arbeitsplätze immer wieder als Grund genannt, weshalb der Kohleausstieg nicht schneller möglich sei. In den 1960er-Jahren waren es auch noch bis zu 100.000 Menschen, die in den rheinischen Revieren arbeiteten. Heute aber sind es nur noch etwa 9.000.
Auch für internationale Klima-Aktivist*innen ist Lützerath zum Symbolort für den Kampf für das 1,5-Grad-Ziel geworden: Nach Greta Thunberg unterstützte im Oktober 2021 auch die ugandische Klimaaktivistin Vanessa Nakate den Protest vor Ort in Lützerath.
| Foto (Detail): © picture alliance / Associated Press / Martin Meissner
Der Widerstand ist mühsam, Erfolge oft nur von kurzer Dauer: „Der Hambacher Forst wird nicht gerodet, das stimmt“, erklärt der Aachener Waldpädagoge Michael Zobel. Gerodet werde „aber drumherum, so dass eine Insellage entsteht. Dadurch vertrocknet der Wald.“
Die Braunkohlebagger, mit 240 Metern Länge und 100 Metern Höhe die weltweit größten Maschinen, graben derweil wie monströse Uhrwerke weiter in den bis zu 400 Meter tiefen Gruben. Ob es bis 2038 so weiter geht? Vorher kommt womöglich Tag X, von dem die Aktivist*innen oft reden – der Tag, an dem der Abriss der ersten leerstehenden Häuser in Lützerath beginnen soll. Und damit Ende Gelände: „Da werden wir alle vor Ort sein“, sagt Emilia Lange, in Kolonne, zu hunderten, „im Schutz der Anonymität, mit unseren Maler*innenkitteln“.
Wie kommen wir weg von fossiler Energie?
Ungefähr 90 Prozent aller Treibhausgasemissionen sind auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe zurückzuführen. Die Nutzung fossiler Energie ermöglichte seit der Industrialisierung das kontinuierliche Wirtschaftswachstum im sogenannten Globalen Norden – der damit den Klimawandel hauptsächlich verursacht hat. Von den Folgen sind aber vor allem Länder aus dem sogenannten Globalen Süden betroffen. Dabei sind Wind und Sonne mittlerweile in 85 Prozent der Ländermärkte die billigsten Formen der Stromerzeugung, wenn es um den Bau neuer Kraftwerke geht. Noch sieht die Energiewelt allerdings insgesamt nicht sehr erneuerbar aus, laut der Internationalen Energieagentur hatten fossile Energieträger 2019 noch immer einen Anteil von vier Fünfteln am Primärenergieverbrauch weltweit. Das muss sich ändern. In unseren drei Reportagen zum Thema “Fossile Energie” schauen sich die Autor*innen drei Lösungsansätze zur Energiewende an und fragen, wie wir unsere Wirtschaftsweise ändern können.