Fluss im Bauch

Fluss im Bauch © Goethe-Institut Kinshasa

Wie geht der kongolesische Blick auf den Fluss? „Le fleuve dans le ventre“ (Fiston Mwanza Mujila) steht im Zentrum einer Kooperation mit Uraufführungen in Graz, Kinshasa, Mannheim und Wien.
Der Kongo-Fluss dient in der europäischen Literatur von Joseph Conrad bis Tim Butchers „Blood River“ als koloniale Metapher: Der Fluss wird zur „Schlange“, die bezwungen werden muss (Conrad), oder zur Kulisse für den „weißen Abenteurer“ in der „schwarzen Wildnis“ (Butcher).

Nicht nur die „Entdecker“ Livingston und Stanley orientierten sich am Lauf des Kongo und benutzten ihn als Transportweg, sondern das gesamte System der kolonialen Ausbeutung des Landes wurde entlang des Flusses, mit und durch den Fluss organisiert. Der Fluss, seine Umgebung und die Menschen, die an ihm wohnen, werden mit denselben rassistischen Stereotypen belegt, die auf den gesamten afrikanischen Kontinent angewendet werden: Er ist das Andere der Vernunft – die Finsternis, das Schwarze, das Dunkel, das Wilde, Ungezähmte, das Unbekannte, Bedrohliche, Nicht-Zu-Durchdringende. Ein Ort, an dem die Natur Jahrtausende alt ist, der Mensch jedoch ohne Geschichte usw.

Aber wie geht der kongolesische Blick auf den Fluss? Das Projekt „Fluss im Bauch“ schaut mit kongolesischen Augen auf den Kongo, indem es das gleichnamige Langgedicht von Fiston Mwanza Mujila, „Le Fleuve dans le ventre“ (zweispr. Ausgabe, April 2013, Edition Thanhäuser, Ottensheim/AT) ins Zentrum rückt. Es nimmt den Text zum Ausgangspunkt einer künstlerischen Recherchereise an, über und auf dem Fluss – im Bauch, im Kopf und in der Landschaft. „Fluss im Bauch“ ist der Versuch, die europäische Konstruktion zu unterlaufen, die Perspektive radikal zu wechseln und zu dekonstruieren, um andere Assoziationsräume zu ermöglichen.

In „Le Fleuve dans le ventre“ erzählt Fiston Mwanza Mujila – „aus der Sicht einer (zwischen den Geschlechtern changierenden) Ich-Figur – von Krieg und Exil, von Hunger und Heimweh, von Trance und Einsamkeit, von Kindheit und Versehrung, von ausbeuterischer kolonialistischer Vergangenheit und apokalyptischen Visionen, von Kindersoldaten und christlichen Erweckungskirchen, von Schauplätzen zwischen Kinshasa und Minsk und immer wieder vom Fluss Kongo, der für Leben und Identität in ihrer Bedrohtheit steht. Das Ich trägt diesen Fluss ‚im Bauch‘, um ihn von Zeit zu Zeit auszuspeien, so wie es den Schmutz der Geschichte und ein verdorbenes Essen ausspeit.“ (Neue Zürcher Zeitung, 21.11.2013)

„Le fleuve dans le ventre“ soll Ausgangspunkt, roter Faden, Reibungsfläche, Material für eine deutsch-österreichisch-kongolesische Kooperation interdisziplinär arbeitender Künstler*innen werden. Ein Team aus Regie (Österreich), Choreographie (Kongo), Schauspiel (Deutschland, Österreich, Kongo), Tanz (Kongo), Musik (Kongo), Dramaturgie (Deutschland) und Ausstattung (Österreich) erarbeitet mit Fiston Mwanza Mujila ein auf dem Langgedicht basierendes Stück, das in Kinshasa zur Uraufführung kommt und in Deutschland und Österreich gezeigt wird.

Eine postkoloniale Lesart des Flusses fragt nach der Möglichkeit von Begegnung, der Fluss ist nicht mehr Kulisse oder das konstruierte „Andere“, sondern ermöglicht fluidere Formen des Aufeinandertreffens, ein Ineinanderfließen, das Entsorgen oder zumindest Verflüssigen des Diktums des „Anderen“.
 

Mitwirkende:

Fiston Mwanza Mujila
Fiston Mwanza Mujila, geboren 1981 in Lubumbashi, DR Kongo, studierte Literatur und Humanwissenschaften. Dort gründete er zusammen mit Jean-André Constant das Autoren-Kollektiv „Libre-écrire“, aus dem einige bekannte Künstler und Autoren hervorgegangen sind, darunter Thonton Kabeya, Patrick Mudekereza und Sinzo Aanza. Im Jahr 2007 verließ er den Kongo und lebte anschließend in Belgien, Deutschland und Frankreich, bis er schließlich nach Graz zog, wo er von 2009 bis 2010 als Stadtschreiber arbeitete. Er unterrichtet afrikanische Literatur an der Karl-Franzens Universität und schreibt Gedichte, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Zwischen 2008 und 2011 veröffentlichte er unter anderem die Gedichtbänder „Poèmes et rêvasseries“ (Lingua Editiones, 2008) und „Craquelures“ (L’Arbre à paroles, 2011). Im Jahr 2013 erschien das Langgedicht „Le Fleuve dans le Ventre / Der Fluß im Bauch“ (Édition Thanhäuser, 2013). Seinen ersten Roman „Tram 83“ (Métailié, 2014), der 2016 bei Hanser auf Deutsch erschienen ist, erhielt mehrere Auszeichnungen. Mujilas Arbeiten sind poetische Reaktionen auf die politischen Verwerfungen in seiner Heimat, auf Hunger und Gewalt und die Verheerungen im Leben der Menschen. Der Sound seiner Sprache speist sich aus den traditionellen Klängen und Melodien des Kongo ebenso wie aus modernen literarischen Strömungen oder Strukturen des Rap.

Carina Riedl
Geboren 1983 in Oberösterreich. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Kunstgeschichte an der Universität Wien. Zwischen 2007 und 2010 Regieassistentin am Burgtheater Wien. Jurorin beim Autorenprojekt „stück/für/stück“ am Schauspielhaus Wien. Seit 2004 eigene Inszenierungen u.a. am Burgtheater Wien, Volkstheater Wien, Schauspielhaus Wien, Schauspielhaus Graz, bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, am Badischen Staatstheater Karlsruhe, am Theater Lübeck, am Landestheater Tübingen und an den Vereinigten Bühnen Bozen. Einladungen zum Heidelberger Stückemarkt und zu den Mülheimer Theatertagen. Zuletzt u.a. „dosenfleisch“ von Ferdinand Schmalz als Kooperation des Burgtheaters mit den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin und „Die Ereignisse“ von David Greig mit einem Chor aus Lübeckern mit zwölf unterschiedlichen Muttersprachen am Theater Lübeck. In der Spielzeit 2016/17 inszeniert sie „Herz der Finsternis“ nach der Erzählung von Joseph Conrad am LTT Tübingen.

Dorine Mokha
Geboren 1989, ist Dorine Mokha Tänzer, Choreograf und Autor sowie assoziierter Künstler der Studios Kabako, gegründet von Faustin Linyekula in Kisangani. Zusammen mit dem Musiker Franck Moka ist außerdem künstlerischer Leiter des ART’gument Projects, in dessen Rahmen Workshops und kulturelle Austauschprojekte zwischen Kisangani und Lubumbashi organisiert werden. Seitdem er 2015 beim Festival „Danse l’Afrique danse!“ einen Preis gewann, zählt er zu den aufstrebenden Künstlern in der choreografischen Landschaft Afrikas. Nachdem er Literatur und Jura studiert hatte, widmete er sich autodidaktisch den darstellenden Künsten. Seit 2009 nahm er an verschiedenen Workshops und Meisterklassen teil, darunter mit Faustin Linyekula (DR Kongo), Boyzie Cekwana (Südafrika), The Slovaks Collective (Slowakei), Andreya Ouamba (Kongo/Senegal), Ula Sickle (Canada/Belgien), Sylvain Prunenec (Frankreich), Désire Davids (Südafrika) und Panaibra Canda (Mosambik). Seine Arbeit ist inspiriert von seiner gewaltvollen Kindheit und der instabilen politischen Situation seines Heimatlandes, der Demokratischen Republik Kongo. Zu seinen Kreationen gehören „Reclus“ (2011), „Entre deux... “ (2013) und „Entre deux II: Lettre à Guz“ (2015). Mit Faustin Linyekula hat er 2013 „Drums and digging“ realisiert, das beim Festival Theaterformen in Hannover Europapremiere feierte. 2014 wurde Dorine Mokha als Artist in Residence in das Schloss Solitude in Deutschland eingeladen. Dort entstanden die Stücke „No there yes maybe here“ mit Thami Manekehla sowie „TRIO sans titre“ mit Désire Davids und dem Pianisten Français Nicolas Mondon. Im Januar 2017 wurde sein Essay From the bend of the river in “[APPLIED] FOREIGN AFFAIRS”, herausgegeben von Baerbel Mueller (Birkhäuser 2017) veröffentlicht.

Huguette Tolinga Lola
Huguette Tolinga Lola ist Percussionistin. Geboren 1988 in der ehemaligen Provinz Équateur im Norden des Kongo, entdeckte sie bereits mit sieben Jahren die Trommeln für sich. Als musikalische Autodidaktin debütierte sie als Percussionistin in der Kompagnie für zeitgenössischen Tanz von Jacques Bana Yanga, Kinshasa. Nach kurzen Einsätzen in der Gruppe Quartier Latin (xx) und anderen Bands gründet sie 2010 ihre eigene Gruppe „Huguembo“. Huguettes kraftvoller Stil ist beeinflusst von verschiedenen lokalen Rhythmen aus den Provinzen des Kongo und aus aller Welt. Sie beherrscht zahlreiche lokale Instrumente wie Lokole (Schlitztrommel) und Kalebasse. 2015 nahm sie mit einem Stipendium des Goethe-Instituts am Nachwuchsprogramm des Festivals Pop Kultur in Berlin teil, wo sie in Workshops u.a. elektronische Musikproduktion lernte und seitdem bereits zusammen mit DJs Bühnenprogramme entwickelt hat.

Kerstin Grübmeyer
Kerstin Grübmeyer, geboren 1976 in Bonn, studierte Theaterwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und arbeitete als Schauspielerin, Regieassistentin und Regisseurin in der freien Theaterszene Berlins. Nach Regie- und Dramaturgiehospitanzen und einer Regieassistenz am Deutschen Theater Berlin war sie von 2005 bis 2007 als Regieassistentin und als Produktionsleiterin an den Münchner Kammerspielen engagiert. 2008 absolvierte sie die berufsbegleitende Weiterbildung Theater- und Musikmanagement der Ludwig-Maximilians-Universität München und Theaterakademie August Everding. 2009 bis 2012 arbeitete sie als Schauspieldramaturgin am Theater & Orchester Heidelberg, 2012 bis 2014 am Badischen Staatstheater Karlsruhe engagiert, dort war sie auch als Dozentin an Karlsruher Hochschulen tätig. Von 2012 bis 2015 gehörte sie dem Kuratorium des Fonds Darstellende Künste an. Seit der Spielzeit 14/15 war Kerstin Grübmeyer Dramaturgin am Landestheater Tübingen, seit der Spielzeit 2017/18 ist sie Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin Schauspiel am Nationaltheater Mannheim.
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