Geschlechterbilder in der Literatur
Von Engeln und Monstern und von Frauen, die fortgehen
Westliche Literatur ist seit Urzeiten von stereotypen Geschlechtervorstellungen geprägt. Mythen und Märchen, klassische und moderne Literatur sind voll von mutigen männlichen Helden und geduldig leidenden Frauenfiguren. Worum geht es da und was wird eigentlich verhandelt?
Von Nicole Seifert
In einer Zeit, in der wir binäre Geschlechtervorstellungen überwinden wollen, wirken alte Rollenklischees nach, nicht zuletzt in Form der kanonisierten Literatur. Umso wichtiger ist es, zu reflektieren, was für Geschichten diese Literatur uns eigentlich über die Geschlechter erzählt.
Schon Simone de Beauvoir machte den Unterschied zwischen Mann und Frau in Das andere Geschlecht kulturell daran fest, dass Männer erobern und Frauen zu ihren Gefangenen werden. Männer ziehen in die Welt, erforschen, erfinden und erschaffen, während Frauen zu Hause bleiben und sich um den Nachwuchs kümmern. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Maria Tatar hat diese gegenderten Erzählmuster in Mythen, Sagen und Märchen nachgewiesen. Schneewittchen, Aschenputtel, Dornröschen und ihre Schwestern sind im Schloss, im Garten, im Turm gefangen, warten und erdulden, während sich ein Mann aufmacht, sie zu suchen, Widersacher bekämpft und besiegt, schließlich zum Befreier wird und die Frau zum Dank sein Eigen nennen darf.
Auch in den Mythen der alten Griechen sind die Frauen nicht zum Handeln bestimmt, sondern dazu, auf die Männer zu warten und ihre Kinder auszutragen. Da sind Danaë, Europa und Leda, die von Zeus – in Gestalt eines Goldregens, eines weißen Stiers und eines Schwans – geschwängert werden und mächtige, abenteuerlustige Söhne zur Welt bringen. Da ist Andromeda, die bestraft wird, weil ihre Mutter mit ihrer Schönheit geprahlt hat, woraufhin sie gezwungen ist, an einen Felsen gekettet zu schmachten, bis der heldenhafte Perseus sie findet und befreit. Diese leidgeprüften, geschundenen Frauen übertreffen bei Weitem die Zahl der vollwertigen Göttinnen wie die weise Athene, die wilde Artemis und die schöne Aphrodite, allesamt Gottheiten, die abstrakte, über jeden Vorwurf erhabene Konzepte verkörpern und – zu ihrem Glück – meist unnahbar sind.
Monster oder Engel?
Der autonome, Abenteuer bestehende, sieghafte männliche Held und die gesellschaftlich gebundene, geduldig leidende, bescheidene Heldin – diese stereotypen Geschlechtervorstellungen prägen westliche Geschichten seit Urzeiten. Maria Tatar nennt sie ihre „Standard-Erzähloption“. In Romanen des neunzehnten Jahrhunderts wurden Frauenfiguren gern entweder als Monster oder als Engel charakterisiert. Entweder sie sind unterwürfig und haben einen reinen, tadellosen Charakter, oder sie sind sinnlich, rebellisch und unkontrollierbar – bei einer viktorianischen Tochter oder Ehefrau höchst unerwünschte Eigenschaften.
Auch noch die Heldinnen (von Männern geschriebener) moderner Klassiker wie Anna Karenina, Effi Briest, Emma Bovary oder Hester Prynne aus Der scharlachrote Buchstabe fügen sich ins Muster dieser Standard-Erzähloption. Interessant ist dabei auch, wem traditionell die Schuld am Geschehen zugeschrieben wird, nämlich den Frauen und ihren als vermessen dargestellten Vorstellungen und Wünschen. Dies ist besonders deutlich bei Effi Briest, die vor ihrem frühen Tod, krank und von ihrer Familie verstoßen, in den Augen der Gesellschaft die Ehebrecherin ist und somit die Schuld an allen Folgen trägt – ungeachtet der Frage, wie sie in diese Situation geraten ist und wie gesellschaftlich bei Frau und Mann mit zweierlei Maß gemessen wird und eben das zu ihrem Unglück beiträgt. Es ist ein gegendertes Narrativ, das die Vorrechte und die Vorrangigkeit des einen Geschlechts immer wieder reproduziert, genau wie die vermeintliche Vermessenheit des anderen.
Geht es auch anders?
Ab und zu gibt es andere Erzählmuster und Frauenfiguren, auch in von Männern verfassten Klassikern, doch sie bilden die Ausnahme. So verlässt Henrik Ibsens Protagonistin Nora am Ende von Nora oder ein Puppenheim Mann und Kinder, nachdem sie erkannt hat, dass sie ihr Leben lang nicht viel mehr als ein Spielzeug der Männer in ihrem Leben war – was sie um 1900 zum Inbegriff weiblicher Emanzipation machte.
Autorinnen haben sowieso immer dagegengehalten und ihre Seite der Geschichte erzählt. Warum sollten sie, in den Worten von Rebecca Solnit, auch „mit einem einzigen Handlungsstrang auskommen, der zu einem guten Leben führt, obwohl gar nicht wenige von denen, die ebendiesem Handlungsstrang folgen, trotzdem ein schlechtes Leben haben“? Schon Jane Austen und die Brontë-Schwestern zeichneten in ihren Romanen differenzierte Bilder weiblichen Aufbegehrens, in denen es immer vor allem um die Grenzen dessen ging, was Frauen möglich war. Und auch die Engel-oder-Monster-Opposition in der Literatur ihrer männlichen Kollegen bürsteten Autorinnen gegen den Strich. Zum Beispiel spiegeln sie die Wut auf die misogyne Welt, in der die Autorinnen und ihre Frauenfiguren leben mussten, in der immer wieder auftauchenden Figur der „madwoman in the attic“, der Verrückten auf dem Dachboden – eine Anspielung auf Bertha Mason, die erste Frau Rochesters in Charlotte Brontës Jane Eyre. So wird Literatur auch zum Kommentar auf vorangegangene Literatur, weist und wies immer schon auf vernachlässigte Perspektiven hin und versucht diese zu ergänzen. Auch, wenn beispielsweise Jean Rhys in Die weite Sargassosee wiederum die Figur der Bertha Mason in Jane Eyre aufgreift und das Leben der „Verrückten auf dem Dachboden“ aus ihrer eigenen Perspektive erzählt.
Wie Frauen unsichtbar gemacht werden
Immer wieder schrieben Autorinnen in der westlichen Literatur darüber, auf die ein oder andere Art nicht an der Welt teilzuhaben. Ein- und Ausgeschlossensein, Flucht und Gefangenschaft sind traditionelle Topoi weiblichen Schreibens. Von Charlotte Perkins Gilman bis Marlen Haushofer, von Sylvia Plath bis Ingeborg Bachmann beschrieben Schriftstellerinnen Frauen, die zum Verstummen gebracht werden, sich im eigenen Leben fremd fühlen oder sie erzählen von ihrem gänzlichen Verschwinden. Das Motiv wird bis heute variiert, ist längst noch nicht Geschichte. Autorinnen haben auch dafür gesorgt, dass die Heldinnen der Mythen eine eigene Stimme und Perspektive bekommen. Christa Wolfs Kassandra ist die Ich-Erzählung der Titelfigur am Tag ihres Todes. Pat Barkers Die Stille der Frauen lässt uns die Stimme von Briseis hören, der Gefangenen, die als Trophäe an Achilles übergeben werden soll. Und in Margaret Atwoods Penelopiade erzählen Penelope und die zwölf „Mägde“, versklavte Frauen, von der brutalen patriarchalen Gesellschaft auf Ithaka.
Autonome Frauenfiguren in der Literatur hatten und haben es jedoch schwer, reizen immer wieder zu Abwehr und Kritik. Zu ungewöhnlich sind sie in einer Kultur, in der Frauen entweder passiv und altruistisch als Vorbild oder egoistisch und verrückt als abschreckendes Beispiel erzählt wurden. Als sich die für die deutsche Erstaufführung von Ibsens Nora 1880 eingeplante Hauptdarstellerin weigerte, eine Frau zu spielen, die Mann und Kinder verlässt, erklärte sich Ibsen, der die Aufführung nicht gefährden wollte, bereit, den Schluss es Stückes umzuschreiben. In dem neuen Schluss wirft Nora am Ende noch einen kurzen Blick auf ihre schlafenden Kinder – und ist daraufhin nicht mehr in der Lage fortzugehen. Damit ist sie wieder die Frau, wie sie die dem patriarchalen Wunsch und Stereotyp entspricht. Für die autonome, erkennende Figur, die Ibsen eigentlich geschrieben hatte, war Deutschland, anders als manche Nachbarländer, damals noch nicht bereit. Noch war kein Spielraum zwischen Engel und Monster, kein Raum für die Perspektive der Frau. Dass eine Frau ihre Kinder nicht verlassen darf, ist vielmehr eine strukturelle Gegebenheit und weniger eine individuelle Entscheidung.
Bis heute werden Werke von Autorinnen, in denen es um autonome Frauenfiguren geht, die ohne Rücksicht ihren eigenen Weg gehen, insbesondere von der männlichen Kritik auf eine Weise verrissen, die klar macht, dass es bei Weitem nicht nur um ästhetische Kriterien geht. Denn in der Literatur wie in der Kritik wird noch etwas anderes verhandelt: die Fragen, wer was darf und wer nicht und welche Strafe angemessen ist. Die Fragen, welche Freiheiten eine Frau haben sollte. Und welche nicht.
Quellen
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Reinbek: Rowohlt 2018 (1949)
Sandra M. Gilbert und Susan Gubar, The Madwoman in the Attic, The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New Haven und London: Yale University Press 1984, Seite 89–92
Nicole Seifert, Frauen Literatur. Abgewertet, Vergessen, Wiederentdeckt, Köln: Kiepenheuer und Witsch
Rebecca Solnit, Die Mutter aller Fragen, München: btb 2019
Maria Tatar, The Heroine with 1.001 Faces, London: W. W. Norton & Company 2021
Jia Tolentino, Trick Mirror, Über das inszenierte Ich, Frankfurt am Main: S. Fischer 2019
Deutsche Literaturgeschichte, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, herausgegeben von W. Beutin, M. Beilein, K. Ehlert, W. Emmerich und anderen, Stuttgart: Metzler 2019, Seite 352 und folgende