Sich stets weiterentwickeln
„Mein Leben ist voller Überraschungen“, behauptet die 24-jährige Gulara Ismayil. Die freundliche junge Frau ist in Aserbaidschan geboren und vertrat ihr Land bei den Weltmeisterschaften in der Kampfsportart Shotokan. Vor drei Jahren entschied sie sich, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und im Westen zu studieren. Sie lernte mehrere Länder kennen und spricht fließend vier Sprachen einschließlich Tschechisch. Dennoch stößt sie trotz ihrer Erfahrungen und Kenntnisse auf gewisse Grenzen und Hindernisse.
Gulara Ismayil stammt aus Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Dort besuchte sie die Schule und danach auch die Universität. „Die Tradition sieht vor, dass eine aserbaidschanische Frau die Schule und Universität absolviert, und wenn sie sich verliebt, dann muss sie heiraten.“ Eine Tatsache, die bei Gularas europäischen Freundinnen auf Unverständnis stößt.
Bei Gulara lief es jedoch anders, das hat sie ihrem Vater zu verdanken. Man hört die Bewunderung in ihrer Stimme, wenn sie sagt: „Mein Vater hat mich während meiner Kindheit sehr beeinflusst. Er ist zwar ein gläubiger Muslim, aber er wollte, dass mir viele Möglichkeiten offenstehen und dass ich mir gute und schöne Dinge der europäischen Kultur aneigne.“ Und so ermöglichten ihr die Eltern im Alter von neun Jahren Einzelunterricht in Englisch, mit elf lernte sie Französisch und mit zwölf führte sie ihr Vater an den Sport heran. Sie begann mit Shotokan, einer Karate-Art, und mit 16 Jahren kam noch Taekwondo hinzu. Ihr Vater hat sie stets darin unterstützt weiterzumachen. Deshalb hatte sie immer den nötigen Willen und die Energie für die Fortsetzung ihres Studiums und die Überwindung von Hindernissen.
Vom Sport zur Sprache
Es war ihre Lieblingssportart, die sie dazu motivierte, Sprachen zu lernen. Mit Shotokan begann sie als Amateur; sie kämpfte sich aber schnell auf Profiniveau voran. Ihr Geburtsland repräsentierte sie bei Weltmeisterschaften und anderen Wettbewerben – so erreichte sie beispielsweise den 1. Platz bei einem internationalen Turnier in Georgien, und das Gleiche gelang ihr beim World Cup Championship in Schweden und in Aserbaidschan. „Immer wieder begegnete ich Sportlerinnen und Sportlern aus anderen Ländern, und es war sehr interessant, sich mit ihnen in einer Fremdsprache zu unterhalten“, erklärt Gulara.
Mit Tschechisch kam sie über ihren Onkel in Berührung, der ihr von der Tschechoslowakei erzählte, wo er zu Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fünf Jahre Bauingenieurwesen studierte. Mit der tschechischen Sprache begann sie sich aktiv während ihres Bachelor-Studiums an der Slawischen Universität in Baku auseinanderzusetzen, wo sie das Fach Bohemistik – Tschechische Studien belegte. „Fast alle Tschechen, denen ich bei Wettkämpfen beispielsweise in Aserbaidschan, Ungarn und auch in Tschechien begegnete, waren überrascht, dass ich Tschechisch kann. Und sie stehen fassungslos da, wenn ich anfange, tschechische Zungenbrecher aufzusagen“, lacht sie.
In den Westen
Nach dem Bachelor-Studium in ihrer Heimatstadt musste Gulara nicht lange darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Viele ihrer aserbaidschanischen Freunde erzählten ihr von Studienerfahrungen in Europa. Dennoch hatte sie Bedenken. „Ich bewunderte meine Freunde, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, in einer Fremdsprache zu studieren und getrennt von meinen Eltern zu wohnen. Gleichzeitig spürte ich, dass ich meine Kraft und meinen Willen herausfordern musste. Diese Eigenschaft habe ich dem Sport zu verdanken.“
Viele junge Aserbaidschaner möchten ihr Studium in Europa fortsetzen. Sie müssen jedoch nachweisen, dass sie für ihren Lebensunterhalt aufkommen können oder dass sie über andere regelmäßige Bezüge verfügen. Eine der Möglichkeiten, die in Frage kommen, ist die Bewilligung eines Stipendiums. Dafür muss der Student eine Englisch-Prüfung ablegen, deren Anforderung sehr hoch sind, da aus insgesamt 600 Bewerbern ausgewählt werden muss. Gulara hat sogar das Shotokan-Training aufgegeben, um sich voll und ganz auf diese Prüfung zu konzentrieren. Ihre Mühen haben sich ausgezahlt, ihr Traum ist in Erfüllung gegangen – sie bekam ein Stipendium und studierte Politologie an der Mitteleuropäischen Universität in Ungarn.
Probleme bei der Arbeitssuche
Nach dem Studium wurde Budapest ihre neue Heimat; dort war sie eine Zeit lang Praktikantin in einem britischen Unternehmen. Obwohl Gulara fließend englisch, tschechisch, aserbaidschanisch und russisch spricht, türkisch und ein bisschen französisch und ungarisch versteht, ist ihre Chance, in der EU eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, verschwindend gering. Der Grund ist einfach: Sie selbst stammt nicht aus einem Land der Europäischen Union. Deshalb darf sie nur mit einer gültigen Arbeitserlaubnis arbeiten, die das jeweilige Unternehmen bei der zuständigen Arbeits- und Sozialbehörde beantragen muss. Wie die gängige Reaktion der Unternehmen aussieht, die sie unter anderen Umständen beschäftigen würden, hat sie mehrfach am eigenen Leib gespürt: „Obwohl ich das Bewerbungsgespräch erfolgreich absolviert hatte, alle Anforderungen erfüllte und der Arbeitgeber wollte, dass ich sofort beginne, ist es mir passiert, dass ich zunächst meine Arbeitserlaubnis regeln musste. Bis ich sie bekomme, dauert es allerdings einen Monat. Da entscheidet sich das Unternehmen lieber für einen anderen Bewerber.“
Solche Erlebnisse schlagen sich natürlich auf die seelische Verfassung nieder. „Ich fühle mich deshalb manchmal richtig schlecht. Ich sehe, dass es große Möglichkeiten gibt, aber ich darf sie nicht im gleichen Maße wie die EU-Bürger nutzen. Es ist mir zwar schließlich gelungen, doch eine Arbeit in Ungarn zu finden, aber auch in dem Fall hatte ich große bürokratische Probleme zu überwinden“, beklagt sich Gulara. Gerne würde sie auch in Tschechien arbeiten. Leider ist das aus den erwähnten Gründen nicht möglich. So arbeitet sie wenigstens von Ungarn aus als Finanzanalystin für Vodafone Tschechien und kann somit ihre Tschechischkenntnisse anwenden.
Nach Aserbaidschan fährt sie einmal im Jahr, um die Familie und die Freunde wiederzusehen, die sie vermisst. „In Zukunft möchte ich beruflich weiter vorankommen und einerseits Managerin sein, andererseits zum Profi-Sport zurückkehren und mein Land in Europa repräsentieren. Mein Ziel ist es, sich immer weiterzuentwickeln“, sagt sie mit Entschlossenheit in der Stimme.