„Geschichten sind überall“
„Ich will beweisen, dass man auch in Tschechien kreatives Schreiben auf entsprechendem Niveau lehren kann“, sagt der 27-jährige René Nekuda mit Nachdruck. Er ist Absolvent der Josef-Škvorecký-Literaturakademie, Mitglied der EACWP (European Association of Creative Writing Programmes) und unterrichtet seit drei Jahren kreatives Schreiben. „Geschichten sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Alltags“, behauptet René im Interview.
René, ist Schreiben auch für diejenigen von Bedeutung, die nicht Schriftsteller werden wollen?
Danke für diese Frage! Ich kann an dieser Stelle gleich gestehen, dass mich dieser Bereich am meisten fasziniert – kreatives Schreiben kann in vielen Sphären des Alltags hilfreich sein. Wir müssen uns klar werden, dass wir überall von Geschichten umgeben sind. Man schaut sich ein Urlaubsfoto an, und sofort läuft im Kopf eine Mini-Geschichte zu dem Bild ab. Vielleicht riecht man den Duft des Meeres, erinnert sich an alle Freunde, die dabei waren. Auch an die, die gerade nicht auf dem Foto zu sehen sind. Die Nachrichten in den Medien arbeiten mit Geschichten, die Werbung vergöttert Geschichten geradezu, und auch Firmenpräsentation werden als höherwertig angesehen, wenn dabei eine Geschichte erzählt wird. Und dann gibt es noch die Alltagsrealität: man liest im Internet eine Anzeige, und sofort entsteht – ausgehend von fünf Sätzen Text – im Kopf ein Bild des Inserenten (und es muss noch nicht einmal ein Foto von ihm dabei sein). Wenn man eine literarische Figur entwickelt, kommt ein sehr ähnliches Prinzip zur Geltung. Alle großen Religionen beruhen auf einer Geschichte. Wir als Menschen sind nicht in der Lage, ohne Geschichten zu existieren, und für mich und meine Studenten ist es absolut faszinierend, sich damit zu beschäftigen und zu untersuchen, wie Geschichten funktionieren. Beim kreativen Schreiben geht es auch darum. Ich bin mehrfach Zeuge geworden, wie sich jemand in meinem Kurs öffnete oder sich etwas Wichtiges aus seiner Vergangenheit bewusst machte. Also ja – kreatives Schreiben ist meiner Ansicht nach für nahezu jeden von Bedeutung.
Und kreatives Schreiben als Fach ist…
Kreatives Schreiben zu definieren ist sehr schwierig. Ganz allgemein gesagt handelt es sich um eine Disziplin, die sich damit beschäftigt, was vor der Entstehung eines künstlerischen Textes passiert. Es geht nicht darum, hochwertige Texte zu produzieren, sondern die Fähigkeiten des Autors zu trainieren, die Funktionsweisen und Regeln des schriftlichen Ausdrucks zu erkennen, gleichzeitig beschäftigt man sich auch mit der Wirkung des Textes auf den Leser. Deshalb kann sich das kreative Schreiben auch elegant gegenüber der Literaturwissenschaft abgrenzen, das ist ein ganz anderes Fach. In Tschechien wird das aber oft verwechselt. Leider.
Welchen Status hat kreatives Schreiben in Tschechien?
Wir haben hier diesbezüglich keine lange Lehrtradition. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als sich von etablierten Systemen abzuwenden und diese langsam nach unseren Vorstellungen umzugestalten. Einer Weiterentwicklung stehen auch Scheuklappen und Vorurteile entgegen, die viele Menschen gegenüber dem kreativen Schreiben haben. Bisher wird bei uns alles intuitiv gemacht – man setzt darauf, dass der Mensch, der ein paar Bücher veröffentlicht hat, auch etwas beibringen kann. In Tschechien machen kreatives Schreiben nach ursprünglichem, anglo-amerikanischem Verständnis vielleicht fünf Leute. Theoretisches Interesse an kreativem Schreiben hat beispielsweise Markéta Doležalová – aber ich bin mir nicht sicher, ob die anderen das als Bestrebung begreifen, ein gewisses Niveau bei der Vermittlung kreativen Schreibens zu erreichen – oder auch Zbyněk Fišer an der Masaryk-Universität in Brno (Brünn).
Was für Vorurteile gibt es?
Beispielsweise werde ich nicht gefragt, ob man kreatives Schreiben lernen kann, es wird sofort konstatiert, dass das einfach nicht geht. Das betrifft natürlich nicht alle, sondern eher gewisse Nörgler. Niemand ist darüber verwundert, dass man bei uns Schauspiel, ein Musikinstrument oder Filmemachen lernen kann. Ich verstehe nicht, warum man ausgerechnet gegenüber der natürlichsten Eigenschaft des Menschen am skeptischsten ist – dem Geschichtenerzählen.
Wie funktioniert der Unterricht nach dem ursprünglichen anglo-amerikanischen Verständnis?
In Amerika und in Großbritannien ist es normal, dass kreatives Schreiben von Leuten gelehrt wird, die selbst keine aktiven Autoren sind. Das hat nämlich einen großen Vorteil – wenn der Lehrer selbst schreibt, entwickelt er ein eigenes Literaturverständnis, das nicht mehr allen Dingen zugänglich ist. Wenn sich beispielsweise ein bekannter Dichter mit sentimentalen Liebesgeschichten eines Studenten auseinandersetzen soll, wird es schwierig. Es kann sein, dass er ihn demotiviert oder ihn vollkommen nach seinem Literaturverständnis umpolt. Von einem Literaturwissenschaftler wird nicht erwartet, dass er preisgekrönte Bücher schreibt, warum sollte man das also von jemandem erwarten, der sich als Theoretiker des kreativen Schreibens begreift? In den USA unterstützen sich die Leute auch und können sich gegenseitig auf eine produktive Art und Weise motivieren, das hat mich sehr fasziniert.
Bei uns funktioniert das nicht?
In Tschechien gönnen sich die Leute gegenseitig nichts. Anstatt selbst etwas zu erreichen, denken sie darüber nach, wie man den anderen verunglimpfen, angreifen oder sogar vernichten könnte.
Was ist ihr Verständnis von der pädagogischen Vermittlung des kreativen Schreibens?
Mein Ausgangspunkt ist eben die anglo-amerikanische Perspektive, wobei ich das den hiesigen Bedingungen und auch mir anpasse. Mein großer Bonus besteht darin, dass ich an der Literaturakademie über den Lehrplan hinausgehend acht Jahreskurse besucht habe, wo ich nicht nur die Dozenten (bekannte Schriftsteller), sondern auch die Reaktionen der Studenten beobachtet habe. Daraus schöpfe ich viel, also weiß ich wohl oder ahne zumindest wie das funktioniert. Auf der Grundlage anonymer Evaluations-Fragebögen, die alle meine Absolventen beantworten, nehme ich an, dass mein großes Plus die individuelle Herangehensweise ist. In meinen Seminaren versuche ich eine Plattform zu schaffen, wo man sich selbst erkennen und sich mit den anderen vergleichen kann. Man hört zu, über alles wird diskutiert, und dann probieren wir es anhand praktischer Übungen aus. Da hat man dann Gelegenheit, unterschiedliche Situationen auszuprobieren, sich selbst zu befragen, festzustellen, was einem liegt und was weniger.
Und wie sieht es mit ihrem eigenen Schreiben aus?
Hier und da bringe ich auch mal etwas Kleineres zu Papier – jetzt beschäftigt sich gerade ein Prager Theater mit meinem Stück. Aber eigentlich wird meine Ambition, Schriftsteller zu werden, weniger. Je mehr ich unterrichte, desto weniger will ich schreiben. Es würde mich mehr freuen, wenn einer meiner Studenten einen Preis bekäme, nicht ich. Und gerade weil ich keine großen Schriftstellerambitionen habe, kann ich sowohl dem etwas anbieten, der sich an „hoher Literatur“ versucht, als auch demjenigen, der sich mit Fantasy oder Science Fiction beschäftigt.
Gibt es schon Erfolge zu vermelden?
Ich denke schon. Ich freue mich beispielsweise über die herausgegebenen Bücher meiner Studenten – neben eigenständigen Büchern sind dies Anthologien mit Erzählungen wie Ti, kteří kradou Mango (Die, die Mangos stehlen); im November erschien Instantní životy (Instant-Leben) – und die Projekte, die ich mir für sie überlege. Neben den beiden Online-Anwendungen Povídkář (Der Erzähler) und Jak napsat knihu (Wie man ein Buch schreibt), die auf meiner Webseite frei zugänglich sind, habe ich mir jetzt das Projekt Hakuna Matata ausgedacht: Leute aus meinen Kursen und Kursen im Ausland schreiben eine gemeinsamen Sammelband mit Erzählungen. Bei diesem Projekt geht es um Toleranz, Verständnis und gegenseitige Hilfe. Darüber hinaus erscheint das Buch praktisch in weltweiter Auflage in den jeweiligen vier Ländern, womit ein Traum der Autoren in Erfüllung geht. Hoffentlich klappt das! Toi, toi, toi… Ich freue mich darauf!