Ein Lied muss auf Papier Bestand haben
Mit dem singenden Dichter Petr Čichoň über seinen neuen Roman
Sie werden tschechisch geschrieben, ins Deutsche übersetzt, mit allen komplizierten Reimen und Rhythmen vertont und im Rahmen von literarischen Lesungen mit der Laute oder Lyra musikalisch begleitet. Die Gedichte des singenden Poeten Petr Čichoň sind mehr als nur Worte auf Papier.
Herr Čichoň, ihr Schlesischer Roman (Slezský román) war ihre erste Prosa-Arbeit. Der Roman ist im November 2011 erschienen. Wie lange haben Sie daran gearbeitet und warum haben Sie sich für ein solches Thema und diese Form der Verarbeitung entschieden?
Da habe ich ziemlich lange daran gesessen. Das hängt mit meiner epischen Sammlung Preußische Balladen (Pruské balady) zusammen, wo das lyrische Subjekt nicht mehr ich, der Autor, bin, sondern Figuren aus dem Schlesischen Roman, an dem ich nahezu fünf Jahre schrieb. In dieser Prosa wollte ich die Problematik meiner ursprünglichen Heimat, des Hultschiner Ländchen, verarbeiten und seine bewegte deutsch-tschechische Geschichte reflektieren.
Wie sind Sie an das Thema herangegangen?
Im Roman gibt es drei Ebenen. Auf der ersten geht es um einfache Menschen – Maurer, die sich in der entstandenen Situation nicht zurechtfinden und das Leben so nehmen, wie es kommt. Die zweite Ebene erzählt die Geschichte des Kunsthistorikers Martin Klučka, der seine Dissertation über Hans Kammler schreibt, dem Architekten Heinrich Himmlers. Die dritte Ebene bildet ein Monolog Kammlers, in dem er über Arbeit, Gewalt und Tod reflektiert und dadurch sein Leben Revue passieren lässt. Ich werde oft gefragt, ob Martin Klučka ich selbst bin. Darauf antworte ich, dass die betreffende Figur nicht erlebt, sondern durchlebt ist. Es handelt sich also um eine innere Erfahrung.
Das Buch gilt in den Augen der Kritik als kontrovers. Warum?
Der Roman hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Ein Teil der Kritik wirft mir vor, dass ich mich nicht ausreichend von den nationalsozialistischen Gedanken Hans Kammlers distanziert habe, in bestimmter Hinsicht gelte dies auch für einige Figuren. Die Kritiker irritiert es offenbar, dass die Figuren einen bestimmten Kontakt zum Nationalsozialismus haben und dafür nicht ausreichend bestraft werden. Aber meine Figuren werden bereits alleine durch diesen Kontakt mit dem Nationalsozialismus bestraft. Hans Kammler begeht keinen rituellen Selbstmord, wie ein Kritiker schrieb, sein Selbstmord ist vielmehr impulsiv – obwohl ihm die Flucht vor der Verantwortung gelungen ist, stirbt er. Ich wollte mit dieser Figur darauf hinweisen, dass die einfachen Soldaten längst tot sind, während die militärische Führung überlebt hat. Hans Kammler selbst wird klar, dass er nur in einem verbrecherischen Milieu leben kann.
Ihr Gedichtband Preußischen Balladen ist tschechisch-deutsch geschrieben. Wie ist es, Gedichte von einer Sprache in die andere zu übersetzen?
Ich habe dabei mit der Übersetzerin Iris Kneisel zusammengearbeitet, die meine Balladen so ins Deutsche umgedichtet hat, dass man sie einschließlich metrischem Schema und Reimen singen kann. Das war eine unglaubliche Arbeit. Ich quälte Iris solange, bis es irgendwie gelang. Einige Gedichte konnten überhaupt nicht vertont werden, und andererseits gibt es dort ein Gedicht, das nur auf Deutsch gesungen werden kann. Dadurch entsteht also ein neues Gedicht oder Lied. Manche sagen sogar, dass einige deutsche Versionen besser als die tschechischen sind.
Haben Sie mit diesem Buch bereits Lesungen absolviert? Sind welche in Deutschland geplant?
Bei uns in Tschechien und auch in Polen hatte ich schon Lesungen. Mit den Preußischen Balladen bin ich ungefähr zwölf Mal in Deutschland und in Österreich aufgetreten. Beim Schlesischen Roman ist allerdings die Übersetzung des Hultschiner Dialektes ein großes Problem. Bis jetzt wurden nur Ausschnitte davon übersetzt, wobei ein volkstümliches Deutsch verwendet wurde. Das ist meiner Ansicht nach nicht ideal, denn dadurch geht eine gewisse Heiterkeit verloren.
Sie stammen aus dem Hultschiner Ländchen, wie ist ihre Beziehung zur deutschen Sprache?
Das Paradoxe ist, dass es in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bei uns verboten war, deutsch zu sprechen, weil dann auch die Kinder in der Schule deutsch gesprochen haben, und das gefiel dem damaligen Regime nicht. Meine Oma, die auch in meinem Roman vorkommt, sprach mit uns lieber tschechisch. Im Hultschiner Ländchen ist ein merkwürdiger Dialekt entstanden, in dem sich Tschechisch mit Deutsch und Polnisch – das einen Großteil des Dialektes ausmacht – mischt.
Wie ist die Identität der Bewohner des Hultschiner Ländchens?
Die Region ist eine ehemalige preußische Kolonie – die Frage ist natürlich, was Preußen eigentlich ist. Meine Großeltern, die ihr ganzes Leben dort verbrachten, glaubten, dass sie Preußen seien und sagten auch zu mir, dass ich ein Preuße sei. Preußen ist eine Art totes Land, in dem sich der nordslawische Geist mit dem deutschen verband. Im Roman betone ich vor allem eine Eigenschaft der Preußen – das Gefühl des Defätismus. Im Hultschiner Ländchen kamen inkompatible Dinge zusammen – die slawische und die germanische Mentalität. Die historische Hartnäckigkeit der preußischen Stämme, sich nicht der Mehrheit anzuschließen und auf ihrer sinnlosen Identität zu beharren, ist auch ein wesentliches Thema meines Buches. Deshalb stößt das heute – genauso wie damals – auf Unverständnis. Die dortigen Bewohner lebten mit ihren Traumata – eine ganze Reihe ihrer nahen Verwandten fiel auf Seiten der Wehrmacht. Und darüber wird in der zeitgenössischen Literatur sehr wenig gesprochen.
Wie war für Sie der Übergang von der Lyrik zur Prosa?
Als ich am Schlesischen Roman arbeitete entwarf ich gerade eine Villa in Opava, die ebenfalls über drei Ebenen verfügte. Wenn ein großes Haus beispielsweise 300 Räume hat, muss der Architekt sie alle kennen. In der Prosa ist das ähnlich, weil sie auch weitläufig und rational ist. Lyrik ist hingegen die Essenz, die plötzliche Inspiration.
Sie vertonen ihre Gedichte auch. Wie lassen sich Gedichte und Lieder zusammenbringen?
Ich bin der Meinung, dass ein vertontes Gedicht auch auf dem Papier Bestand haben muss. Und wenn das gelingt, ist das für mich ein großes Wunder.
Wie sind Sie zur Poesie und zu Liedern gekommen?
Ich habe ungefähr mit 16 angefangen, Lyrik zu lesen. Ich komme aus Mährisch-Schlesien; dort haben in den 80er Jahren, unter dem Einfluss von beispielsweise Jarek Nohavica oder Pavel Dobeš, sehr viele zur Gitarre gegriffen und Lieder geschrieben. Meine Gedichte standen von vornherein mit Musik in Verbindung.
Was reizt Sie an dieser Verbindung?
Das ist mein Gefühl, Musik und Lyrik gehören irgendwie zusammen. Im Übrigen hießen schon bei den alten Griechen Gedichte mélos, was wörtlich Lied heißt.
Wie beurteilen Sie die zeitgenössische Lyrik?
Man sagt ja, dass die Lyrik ein totes Genre sei, aber Gedichte existieren eher in ihrem oralen Zustand, und die Leute hören Gedichte gerne. Lyriklesungen werden wie Theatervorstellungen besucht; Gedichte werden heute mehr gehört als gelesen. Auf diese Weise kehrt die Lyrik zu ihren ursprünglichen Wurzeln zurück.
Was sind Ihre aktuellen Pläne?
Momentan habe ich ein großes Problem damit, an die Preußischen Balladen anzuknüpfen. Zur Zeit arbeite ich an einer Balladensammlung mit dem Arbeitstitel Oma.
Übersetzung: Ivan Dramlitsch
Copyright: Goethe-Institut Prag
Juni 2012