Ein bisschen Havel sein
„Eine große Persönlichkeit unserer Geschichte ist von uns gegangen.“ „Er hat viel für unser Land getan.“ „Er hat uns eine Stimme in der Welt verschafft.“ „Er hat uns die Freiheit wiedergegeben.“
In Nachrufen, Blogs, Editorials und auf den Prager Straßen sind mir solche und ähnliche Sätze begegnet. Am vierten Advent 2011, dem Tag an dem Václav Havel starb. Die Sätze stammen aus den Mündern und Federn unzähliger Tschechinnen und Tschechen. Václav Havel war eine große – vielleicht die größte – Persönlichkeit ihrer Geschichte. Er hat viel für ihr Land getan. Er hat ihnen eine Stimme in der Welt verschafft. Er hat ihnen die Freiheit wiedergegeben. Er ist gestorben. Sie trauern.
Mir musste niemand die Freiheit wiedergeben. Ich bin kein Tscheche. Ich bin in West-Deutschland aufgewachsen. Und trotzdem bin ich traurig. Aber wieso eigentlich trotzdem? Hätte Václav Havel seinem Land nicht die Freiheit wiedergegeben, wer weiß ob ich jemals hätte nach Tschechien kommen und hier heimisch werden können? Vermutlich hätte ich meine Frau nicht kennengelernt und meine Tochter wäre nie geboren worden.
Klar, auch wenn Václav Havel einen großen Verdienst am Fall des Kommunismus (nicht nur in der Tschechoslowakei) hatte; er hat ihn natürlich nicht allein besiegt. Aber die Konsequenz, mit der er sich gegen das Regime gestellt und Repressionen ertragen hat, die Konsequenz, mit der er sich auch nach 1989 für die Schwachen in aller Welt engagiert hat, die Konsequenz, mit der er immer wieder auf Missstände und Unrecht aufmerksam gemacht hat und vor allem die Konsequenz, mit der er sich allen Umständen zum Trotz seinen scheinbar naiven Glauben an das Gute im Menschen bewahrt hat … diese Konsequenz und seine Bescheidenheit machen Havel zu einer moralischen Autorität, die seinesgleichen sucht, zu einem Vorbild nicht nur für Tschechen, sondern für alle Menschen.
Am vierten Advent 2011, dem Tag an dem Václav Havel starb, war ich deshalb mit Tausenden anderen auf dem Wenzelsplatz, in der Narodní třida auf der Kampa, wir haben Kerzen aufgestellt, gesungen und das ein oder andere Bier auf „Vašek“ getrunken und alle miteinander das Gefühl gehabt, dass ein guter Freund gestorben ist. Und war er das nicht auch? Ein Menschenfreund …
Aber so traurig sein Tod auch ist, so sehr tröstet das Vermächtnis, dass er hinterlassen hat. Am Tag, an dem er starb, waren wir irgendwie alle ein bisschen Havel, waren nett zueinander, rücksichtsvoll, großzügig, geduldig, bescheiden, hilfsbereit, dankbar. Daran hat uns Havels Tod erinnert: Wir müssten öfter ein bisschen Havel sein, vielleicht werden dann doch noch „Liebe und Wahrheit siegen über Lüge und Hass!“
Copyright: Goethe-Institut Prag
Dezember 2011