Die Grenzen der tschechischen Seelenruhe
Ende April erlebte Tschechien eine der größten Demonstrationen seit 1989. Rücktritt der Regierung, Stopp der Reformpolitik und Neuwahlen waren das Ziel von knapp 100.000. Was bringt die seelenruhigen Tschechen derart auf die Palme?
Tschechien ist kein Frankreich. Nimmt man Stichworte wie Bürgerbeteiligung, Streikbereitschaft oder politische Partizipation als Maßstab, dann ist Tschechien auch kein Deutschland. Klar, es ist ein Klischee – aber in der Heimat des braven Soldaten Švejk neigt man tatsächlich dazu, hitzige Diskussion über Politik und Gesellschaft mit einem Glas Bier herunterzukühlen. Ironie und eine Prise Resignation sind die Zutaten, die den seit mehr als 20 Jahren angerührten Eintopf aus Korruptionsaffären, politischen Schleichwegen und Abhörskandalen für die meisten erträglich machen.
Was also ist am 21. April geschehen? Was hat rund 100.000 Menschen dazu gebracht, unter dem Slogan „Stopp der Regierung“ gegen die Politik der Regierung und für Neuwahlen auf die Straße zu gehen?
Vor rund zwei Jahren haben die Tschechen eine Mitte-Rechts-Koalition an die Macht gewählt, die sich den Kampf gegen Staatsverschuldung und Korruption auf die Fahnen geschrieben hatte. 2012 ist die Enttäuschung groß. Laut Umfragen vertrauen der Regierung nur noch 20 Prozent. Die konnte sich zwar nach einer Endlosschleife von Regierungskrisen neu formieren. Doch die Koalition ist nun abhängig von Abtrünnigen des populistischen Politunternehmens VV (Věci veřejné, „Öffentliche Angelegenheiten“). dem nach zahlreichen Korruptionsaffären der Koalitionsvertrag gekündigt wurde. Zurück bleibt das Gefühl, dass es den „einfachen Leuten“ an die Geldbörse geht, während weiter Milliarden in dubiosen Klüngeln von Politik und Privat-Wirtschaft versickern.
Am 21. April sind es vor allem Gewerkschaftler, die den Prager Wenzelsplatz füllen. Aber – und das passiert in Tschechien nun wirklich nicht alle Tage – auf das gemeinsame Ziel Regierungssturz einigten sich über 20 weitere Bürgerinitiativen: von Rentner- und Kranken-Vertretern, über Lokführer, die Schauspieler-Assoziation, die Sänger-Union, Umweltschützer bis hin zu Professoren und Studenten.
Das Rasseln der Schlüssel
„Die Leute haben die Nase voll“, sagt Pavla, die sich ihren Weg hinter die Presseabsperrung und auf den Sockel der Statue des Heiligen Wenzel erkämpfen konnte. Was sich zu Füßen des Staatspatronen abspielt, macht Eindruck. An den Ort, an dem sich im Herbst 1989 die Schlüsselmomente der Samtenen Revolution zugetragen haben, strömen mehr und mehr Demonstranten. Im oberen Teil wird der Platz zu eng zum Atmen. Immer wieder prallen die Rufe „Demission! Demission!“ an die Häuserfassaden. Ein Feuerwehrmann treibt die Menschen in seiner Nähe mit einer ohrenbetäubenden Hupe zur Verzweiflung.
Die Protest-Mischung ist bunt, an manchen Ecken etwas zu bunt: Kurz unterhalb der Kreuzung am Nationalmuseum ragen Flaggen der rechtsextremen Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit (DSSS) in den Wind, durch die Massen drängt ein junges Mädchen mit einem rosa Kirsch-Eis vom Stand der Kommunistischen Partei.
Zum Schluss zücken alle die Schlüssel. Schon 1989 hatte dieser Gänsehaut-Moment das Ende des kommunistischen Regimes eingeläutet. Nun soll das Rasseln der Schlüsselbunde das demokratisch gewählte Kabinett Nečas wach rütteln. „Es wird Zeit, dass sie in Ehre, oder dem was ihnen noch davon bleibt, abdanken“, bestellt Familienvater Petr aus dem ostböhmischen Chrudim den Ministern. In einer Hand hält er seinen Jüngsten, in der anderen ein Schild. Es kündet vom Ende eines Ortes, das den Familiennamen des Premiers trägt (der übersetzt übrigens so viel bedeutet wie „Hundewetter“). Petr sorgt sich um seine Rente und darum, ob er seinen Kindern eine gute Ausbildung wird finanzieren können.
Worüber sich Demonstrant Petr konkret beklagt, bringt der bärtige Soziologe Ondřej Lánský auf eine allgemeine Ebene: „In Tschechien entsteht ein breites Prekariat. Immer mehr Leute sind, obwohl sie einer regelmäßigen Arbeit nachgehen, nicht in der Lage, sich ein würdiges Leben zu finanzieren“, behauptet der Sprecher der Initiative ProAlt, eine der Vereinigungen hinter den Protesten. „Und in dieser Situation kommt die Regierung mit Einschreibungsgebühren an Unis, mit höheren Selbstbeteiligungen für Krankenversicherungen und immer neuen Steuererhöhungen“, so Lánský weiter.
In einem Café in der Prager Neustadt redet sich Makroökonom Jiří Šteg in Rage. „Von der Regierung wird eine Rhetorik der Angst eingesetzt. Die Schuldenfalle wird instrumentalisiert, um immer weitere Kürzungen und Steuererhöhungen durchzusetzen, die immer nur die sozial Schwachen treffen.“ Šteg, ein weiterer Kopf hinter ProAlt, packt ein beiges Regal zu seiner Linken, und rüttelt es so lange aus dem Gleichgewicht, bis es umzustürzen droht: „Genau das macht die neoliberale Regierung mit der Gesellschaft!“
Optimismus der Jugend
Entsprechend aufgekratzt ist auch die Stimmung auf der großen Demonstration. Immer wieder fliegen persönliche Beleidigungen der Regierungsmitglieder über die Köpfe hinweg. Eine Rentnerin schwingt zu den teils populistischen Argumenten der Redner drohend einen Holzstock über ihrem Kopf. Als Gewerkschaftsführer Jaroslav Zavadil wild gestikulierend das Tschechische Fernsehen der Lüge bezichtigt, muss ein signal-gelber Security-Angestellter den Kameramann des öffentlich-rechtlichen Senders vor einer Meute erzürnter Demonstranten bewahren.
Fragt man die Jüngeren unter den Demonstranten, dann fühlen sie sich vor allem von der korrupten Politik hintergangen. Bei ihnen schimmert aber auch Optimismus durch. Der unermüdliche Glaube an aufrichtige Politiker, die ihre Verantwortung für die Bevölkerung ernst nehmen, ist auch für Ondřej Lánský der Motor für sein Engagement. Und die Psychologie-Studentin Cecilie erklärt kurz nach der Demo, wofür sie der Mitte-Rechts-Koalition dankt: „Die Regierung Nečas hat uns vereint. Das ist eine großartige Sache und die sollten wir uns bewahren.“ Tschechien drohen nun weitere Proteste, Generalstreiks und der Beweis, dass auch in Tschechien die Seelenruhe der Bürgergesellschaft Grenzen kennt.