Vielfältig und abwechslungsreich – Ulrich Scheel

Er zeichnet Comics und illustriert Magazine, entwickelt Verpackungen und arbeitet als Live-Zeichner: Das Werk von Ulrich Scheel ist vielfältig und abwechslungsreich. Berühmtheit als Comicautor erlangte er mit seiner preisgekrönten ersten Graphic Novel Die sechs Schüsse von Philadelphia.

Diashow Ulrich Scheel
Diashow

Comics von Ulrich Scheel

Ulrich Scheel krümmt sich auf einer geblümten Liege. Er geht ihm nicht gut. Das ist normal, wenn man im grau-kalten November ahnungslos in eine Wolke tollwütiger Grippeviren hineingerät. Der Berliner Comic-Zeichner verschmilzt mit dem Blumenmuster seiner Bettstatt. Ein viertägiger psychedelischer Fiebertraum beginnt. Influenza ist die zeichnerische Übersetzung eines an sich banalen Ereignisses: Halskratzen, Schnupfen, heiße Stirn. Scheel macht daraus ein surreales Spektakel, das ironisch das bis ins Absurde verdrehte Selbstmitleid des Kranken auf die Schippe nimmt: Das Ich im Kampf mit seiner Kreatürlichkeit – in einem ganz normalen November, in einer ganz normalen Stadt.

Dass Influenza 2004 vom französischen Comicverlag Les Éditions FLBLB veröffentlicht wurde, bedeutete für Scheel den Einstieg ins Comicgeschäft. Von allein wäre der Zeichner, der von sich behauptet, dass er sich eigentlich für Comics nicht interessiere, nicht auf die Idee gekommen, diesen Kontakt herzustellen. Sein Schulfreund und Kommilitone Markus Witzel alias Mawil (wie Scheel selbst auch Jahrgang 1976 und Absolvent des Studiengangs Kommunikationsdesign an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee) nahm die Geschichte, die bis auf einen Einleitungssatz ohne Worte auskommt, mit zum internationalen Comicfestival nach Angoulême. Dort fiel sie den Editoren von Les Éditions FLBLB in die Hände.

Verspäteter Erfolg in Deutschland

Illustration von Ulrich Scheel für das Goethe-Institut RomZwei weitere Veröffentlichungen im gleichen Verlag folgten, bis auch die deutsche Szene Scheel mit etwas Verspätung entdeckte: 2008 erschien seine Graphic Novel Die sechs Schüsse von Philadelphia auf Deutsch im Berliner Avant-Verlag. Dieser Comicroman versetzt seine Leser in die endlose Weite und grenzenlose Öde der brandenburgischen Provinz im Sommer 1980. In einem „Kuhkaff“ nahe bei Berlin verdösen die vier pubertierenden Protagonisten ihre Sommerferien, ohne zu ahnen, dass es sich um die letzten unschuldigen Tage ihrer Kindheit handelt – einer Kindheit, die das Abenteuer noch kennt, weil ihr die Langeweile nicht unbekannt ist. Zu Sabine, Uwe, Alex und Grolf kommt das Abenteuer in Form einer Schusswaffe aus dem Zweiten Weltkrieg.

Scheel beweist in Die sechs Schüsse von Philadelphia die bestechende Beobachtungsgabe eines Karikaturisten. Mimik und Gestik sitzen, die Dialoge sind waschecht. Die Naivität, die seine Darsteller Schuss für Schuss ins unabwendbare Desaster führt, ist greifbar – das erzeugt Spannung. „In gewisser Weise bin ich eine Art Schauspieler“, so der Zeichner. „Ich spiele die Dialoge durch, ertappe mich immer wieder beim Selbstgespräch. Wie in der Fotografie gibt es nur sehr wenige Gesten und Gesichtsausdrücke, die ein Gefühl genau beschreiben. Man muss gut trainiert sein, um sie einfangen zu können. Man muss beobachten, auch sich selbst, und die Technik beherrschen, seine Beobachtungen auf dem Papier umzusetzen.“

DDR-Kindheit als Hintergrundslandschaft

Scheels Graphic Novel ist nicht autobiografisch gefärbt, auch wenn der zugrunde liegende Aufhänger der Geschichte seinem – wie der Zeichner betont – „technischen Waffeninteresse“ geschuldet ist und er die ersten dreizehn Lebensjahre bis zum Zusammenbruch des Ostblocks in der DDR lebte. Zeitpunkt und Schauplatz seiner Geschichte sind eher Metaphern. Das kleine Dorf Philadelphia war schon zu Zeiten des Sozialismus „real existierend“. Die Legende besagt, dass Auswanderer auf ihrem Weg nach Amerika im 19. Jahrhundert an dieser Stelle hängenblieben und das Dorf, das sie gründeten, nach ihrem eigentlichen Ziel benannten. Scheel erklärt, dass die Geschichte eigentlich wenig mit der DDR zu tun hat. „Aber mir gefiel der Aspekt des Hängenbleibens, des Zurückbleibens. Die Geschichte spielt in der Abgeschiedenheit. Ich wollte ein Umfeld, in dem sich die Figuren um sich selbst drehen. Daher die Einöde, daher auch die DDR.“

Einige Zeichner aus Scheels Generation haben sich mit ihrer Ost-West-Erfahrung auseinandergesetzt. Nach Die Sechs Schüsse von Philadelphia hofften die Kritiker und das Lesepublikum auf eine derartige Geschichte aus seiner Hand. „Ein Thema, das mich grundsätzlich etwas angeht. Aber ich fürchte, diese DDR-Thematik ist mir zu komplex, um sie auf die Schnelle zu knacken“.

Schöne Aussichten

Illustration von Ulrich Scheel aus Das MagazinDas Zeichnen ist für Scheel ein Werkzeug. Anwendungsbezogene Auftragsarbeiten wie das Marken- und Verpackungsdesign eines Kuchenherstellers und natürlich auch Buchillustrationen wie für Fön mich nicht zu, den bei Rowohlt erschienenen und durch den Referendar Stephan Serin aufgezeichneten Innenansichten des Berliner Schulalltags, stehen gleichberechtigt neben den Comicprojekten.

Wenn er seine Beobachtungen aus Berlin-Prenzlauer Berg zu bissig-ironischen Strips verdichtet, dann ist das eine Möglichkeit, sich den Frust von der Seele zu zeichnen. Ein Stadtreporter werde er, auch wenn er mittlerweile in Warschau und damit in einer weiteren europäischen Metropole lebe, deswegen aber nicht. „Das Leben in den westeuropäischen Städten – und Warschau ist mittlerweile auch nur eine Miniatur von Berlin – ist zu ähnlich. Das zeichne ich zwei, drei Mal und dann habe ich genug.“ Für seine Zukunft als Comicautor hat er dennoch Aussichten: Die Science-Fiction-Romane der zwei sowjetischen Schriftstellerbrüder Arkadi und Boris Strugazki haben es ihm angetan. „Die Welt der Strugazki-Brüder ist beeindruckend surreal. Dabei erzählen sie ihre Geschichten mit einem Realismus, als sei das Unmögliche selbstverständlich geschehen. In diese Richtung sollen auch meine weiteren Arbeiten gehen.“

Nullmensch: (Zwei) Illustrationenen aus der Berliner Opernkompanie Novoflot, Kafka: Das SchlossSeit jüngstem arbeitet Scheel auch als Live-Zeichner: Für eine Produktion der Berliner Opernkompanie Novoflot kommentierte er mit schnellen Strichen, die über Wacom-Tablet und Beamer auf eine Leinwand projiziert werden, das Geschehen auf der Bühne. Bei der Kammeroper Keyner nit des Schweizer Komponisten Mathias Steinauer verknüpfte Scheel mit seinen Zeichnungen die Handlung, die in der Gegenwart spielt, mit der mittelalterlichen Geschichte, die dem Stück zu Grunde lag. Diese Verknüpfung von Theater und Zeichnung, Oper und Illustration zählt zu den spannenden Entwicklungen des Genres Comic, zumal hier der Zeichner nicht nur im Hintergrund agiert, sondern live bei der Arbeit beobachtet werden kann.

Pauline Klünder
studierte Design und lebt und arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Online-Redaktion März 2013

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