Islamische Jugendkultur in Deutschland – was ist, und wohin entwickelt sich der „Pop-Islam“?
Herr Dr. Nordbruch, was ist der Pop-Islam?
Mit Pop-Islam wird eine Jugendkultur bezeichnet, die in den letzten acht bis zehn Jahren aufgekommen ist. Bei diesen Jugendlichen handelt es sich um konservativ-religiöse Muslime. Gleichzeitig sehen sie sich als Teil der Gesellschaft und definieren sich als deutsch. Pop-Islam ist allerdings ein Begriff, der von Muslimen kaum benutzt wird, weil er aus ihrer Sicht nach Islam-light klingt.
Wie stark prägt denn die Religion diese Jugendlichen?
Wenn man sich Initiativen ansieht wie die „Muslimische Jugend in Deutschland“ oder „Muslim – The Next Generation“, merkt man welch enorm hohen Stellenwert Religion bei den Jugendlichen hat. Sie organisieren ihren Alltag so, dass er den islamischen Regeln entspricht. Das fängt mit dem Gebet an, kann aber auch in Vorbehalten gegenüber gemischtgeschlechtlichen Aktivitäten zum Ausdruck kommen. Das ist ein Lebensstil, der den Tagesablauf beeinflusst, aber auch den Umgang mit anderen. Der Islam ist ein Gemeinschaftsangebot, aber auch eine Orientierung in einer Lebensphase, die von Umbrüchen geprägt ist. Aber es geht natürlich auch um Spiritualität – das geht in der Diskussion um den Islam leider oft unter.
Viele junge Muslime suchen das Gespräch mit Christen
Diese Jugendlichen schotten sich also gegenüber anderen ab ...?
Sie machen viele Sachen unter sich, gehen gemeinsam in die Moschee und erledigen ihre Hausaufgaben im islamischen Zentrum. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie sich von der Gesellschaft abschotten: Viele muslimische Jugendorganisationen suchen zum Beispiel gezielt das Gespräch und die Auseinandersetzung mit christlichen Jugendorganisationen. Und viele der muslimischen Organisationen sind bemüht, ehrenamtliche Arbeit anzubieten, die sich nicht ausschließlich an Muslime richtet. Wie zum Bespiel der muslimische Verein Lifemakers, der sich um Obdachlose kümmert.
Die Londoner U-Bahn-Attentäter schienen in die Gesellschaft integriert und zeigten sich auch engagiert. Wie stehen die jungen Muslime zu solchen Taten?
Die Jugendszenen, die dem Pop-Islam zuzuordnen sind, lehnen Terroranschläge ab. Das war von Anfang so und ist absolut glaubwürdig. In der salafitischen Szene, die nichts mit dem Pop-Islam zu tun hat, ist das allerdings anders. Prominente Prediger, wie Pierre Vogel aus Köln oder Abdul Adhim aus Berlin, vertreten eine rigide islamische Lehre. Auch sie lehnen in ihren Reden Gewalt ab, predigen aber einen Islam, der Anknüpfungspunkte zum gewaltbereiten Islamismus bietet. Sie leben den Islam so wie er im 7. Jahrhundert von den ersten Muslimen vorgelebt wurde. Diese Prediger haben Einfluss auf junge Muslime, weil sie oft charismatisch sind und eine sehr strenge Orientierung vorgeben.
Den anderen ernst nehmen
Wie soll man reagieren, wenn sich ein 14-Jähriger in der Schule für den Dschihad ausspricht oder ein Mädchen plötzlich Kopftuch trägt?
Als Lehrer oder Sozialarbeiter sollte man auf Jugendliche, die das Kopftuch tragen, ähnlich reagieren, wie auf jemanden, der sich als Punk kleidet. Das Tragen des Kopftuchs kann eine Provokation sein. Wichtig ist, diese individuelle Entscheidung zu respektieren. Alles andere wäre eine Anmaßung. Für viele Jugendliche ist die Erfahrung, ernst genommen zu werden, die Grundlage dafür, um überhaupt in ein Gespräch miteinander zu kommen. Etwas anderes ist es aber natürlich, wenn jemand die Religion benutzt, um andere zu diffamieren, unter Druck zu setzen oder gar um zu Gewalt aufzurufen. Da ist entschiedener Widerspruch wichtig.
Was halten die Jugendlichen von der Diskussion, ob der Islam zu Deutschland gehört?
Für muslimische Jugendliche geht diese Diskussion an der Realität vorbei. Sie sind hier geboren, zum Teil schon in der zweiten oder dritten Generation hier, und sie haben ihre Sozialisation in Deutschland erfahren. Sie fühlen sich nicht mehr als Migranten, sondern als Teil der Gesellschaft, und fordern eine Stimme für sich ein. Man muss sich aber auch vor Augen halten, dass viele Jugendliche mit türkischem oder arabischem Hintergrund gar nicht religiös sind. Für diese Jugendlichen ist das Kopftuch eigentlich kein Thema. Dennoch fühlen sie sich durch die aktuelle Diskussion in die islamische Ecke gedrängt. Sie werden plötzlich mit Fragen zum Islam konfrontiert: Wie hältst du es mit dem Kopftuch? Was denkst Du über Ehrenmorde? Darum ist es kaum überraschend, dass sich viele Jugendliche als Muslime bezeichnen. Viele Jugendliche fangen dann erst an, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen.
Wohin entwickelt sich der Pop-Islam?
Vor fünf, sechs Jahren konnte man noch sagen: Pop-Islam, das sind junge konservative Muslime, die sich als deutsche Muslime identifizieren und T-Shirts tragen, auf denen „Muhammad ist mein Prophet“ steht. Heute lässt sich der Pop-Islam nicht mehr so eindeutig abgrenzen. Die Grenzen des Spektrums lösen sich auf – in beide Richtungen.
Radikale islamistische Gruppierungen wie zum Beispiel die Hizb ut-Tahrir, die in Deutschland verboten ist, weil sie antisemitische Propaganda verbreitet hat und zu Gewalt aufgerufen haben soll, haben die popkulturellen Elemente ebenfalls aufgegriffen: Diese Muslime tragen ähnliche T-Shirts und hören ähnliche Musik. Das ist die Aufweichung der Grenze in die radikale Richtung. Gleichzeitig löst sie sich in Richtung der weniger religiösen Jugendlichen auf, die sich nicht so leicht einordnen lassen. Letztlich ist das Ausdruck einer Pluralisierung der Jugendszenen, in denen sich muslimische Jugendliche verorten, und – das mag ein bisschen pathetisch klingen – einer Einbürgerung des Islam in Deutschland.
stellte die Fragen. Sie ist Historikerin und Pädagogin und arbeitet als freie Redakteurin in München.
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Dezember 2010
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