Angst etwas zu verpassen
Immer mehr Jugendliche sind internetsüchtig
In der Schlange an der Supermarktkassen, in der Straßenbahn, beim Mittagessen... Ohne nachzudenken greift man die Tasche und holt das Smartphone raus. Schnell nachschauen, was es Neues gibt und E-Mails checken. Ist uns eigentlich noch bewusst, wie oft wir den Griff machen?
Vielen nicht mehr, sie sind internetsüchtig. „Wir beobachten seit Jahren eine Zunahme der Zahl der Betroffenen“, sagt Bert Theodor te Wildt, Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit.
Laut einer Studie der Universitäten Lübeck und Greifswald gibt es zurzeit 560.000 Internetsüchtige in Deutschland. Vor allem Jugendliche sind betroffen. Jungen stellen dabei den Großteil der Internetsüchtigen. Sie kommen meist von Online-Spielen nicht los. Eine überdurchschnittlich stark steigende Anzahl der Internetsüchtigen verzeichnet die Studie jedoch bei Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren. „Wir vermuten, dass Mädchen und junge Frauen besonders empfänglich sind für die Bestätigung, die man in sozialen Netzwerken findet“, sagt Hans Jürgen Rumpf, Psychologe an der Universität Lübeck.
Auch die 16-jährige Christina (Name geändert) aus Offenbach bekennt sich zur Internetsucht. Als sie vierzehn war, fing es langsam an. Christina verlor sich in sozialen Netzwerken. „Zu Hause sitze ich eigentlich nach der Schule den ganzen Tag am PC. Im Unterricht benutze ich immer, wenn mir langweilig ist, mein Smartphone“. Am meisten chattet oder skypt sie mit Freunden, ist in sozialen Netzwerken unterwegs und surft sinnlos durch das World Wide Web. Christinas Eltern sind selbständig und kommen erst abends spät nach Hause. Von der Sucht ihrer Tochter ahnen sie nichts und das soll auch in Zukunft so bleiben.
Entzugserscheinungen
Auf die Frage, ob die Schülerin schon einmal Entzugserscheinungen hatte, hält sie kurz inne. „Ja, ich hatte Entzugserscheinungen, als unser Internetanschluss kaputt war“, gibt sie dann zu. In dieser Zeit sei sie sehr schlecht drauf gewesen, total unzufrieden und so verzweifelt, dass sie ihre Nachbarin um deren WLAN-Zugangscode bat. „Ich habe einfach Angst, online etwas zu verpassen und in der virtuellen Welt nicht mehr mitreden zu können. Ich weiß, dass es nicht gut ist, den ganzen Tag vor dem PC zu sitzen, aber was soll ich sonst machen?“ erzählt Christina. Trotzdem glaubt sie nicht, dass Internetsucht eine Krankheit ist. Es sei doch viel schlimmer alkoholabhängig zu sein, behauptet sie.
Dabei ähnelt gerade diese falsche Einschätzung des Suchtverhaltens der von Alkoholkranken. Und genau wie Alkohol- oder Drogenabhängige vernachlässigt Christina ihr Umfeld. Und für die Schule tut sie auch immer weniger. „Menschen mit einer Internetsucht richten oftmals ihren gesamten Tagesablauf so ein, dass sie möglichst viel Zeit online verbringen können und werden unruhig, wenn sie davon abgehalten werden“, sagt Professor Karl F. Mann, Präsident der deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie.
Doch wie kann man der Sucht entgegensteuern, wie kommt man aus ihr wieder heraus? Da die Internetsucht ein relativ neues Phänomen ist, gibt es noch keine richtige Therapie. Wichtig sei erst einmal, eine Verhaltensänderung herbeizuführen, sagt Professor Karl F. Mann. Das sei die Voraussetzung um auch an den tieferen Ursachen für die Problematik, zum Beispiel mangelndes Selbstwertgefühl und Vernachlässigung, psychotherapeutisch arbeiten zu können. „Das Internet ist für viele Betroffene ein Weg, um vor Enttäuschungen und Problemen in eine Scheinwelt zu fliehen und sich von negativen Gefühlen abzulenken“, so Mann.
Christina hingegen möchte keine Hilfe suchen. Sie denkt, dass sie ihre Internetsucht alleine besiegen kann. Für die nahe Zukunft hat sie sich vorgenommen wieder mehr mit ihren Freunden in der wirklichen Welt zu unternehmen.