Es könnte auch schlimmer sein
Die Graphic Novel „Van Gogh des 21. Jahrhunderts“ zieht jedes Tabu unserer Gesellschaft ins Extreme. Zwischen Absurditäten entdeckt man aber auch viele Wahrheiten. Hält uns das Buch einen tiefschwarzen Spiegel vors Gesicht oder ist es doch eher eine Bestätigung, dass unsere Welt gar nicht so schlecht ist?
„Die Menschen nehmen an, es gibt keine Hölle, doch es ist ihnen nicht mehr bewusst, wie schwer sie sich täuschen, sie existiert nämlich wirklich und wir sind mittendrin.“ Eine Welt, in der Obdachlose in Konzentrationslager gesteckt und dort wie im Zoo begafft werden, in der Neureiche einen Club gründen, um Künstler zu liquidieren und in der ein Achtjähriger sich selbst Lesen und Schreiben beibringen muss, um seiner Mutter ein Rezept zu kochen. So eine Welt klingt wirklich wie eine mögliche Hölle. In dieser Welt lebt Vincent, der „Van Gogh des 21. Jahrhunderts“.
Die gleichnamige Graphic Novel des tschechischen Autors Petr Měrka und des slowakischen Illustrators David Marcin erzählt, wie das Leben des selbsternannten Künstlers Vincent, seines Bruders Theo und dessen Sohnes Albert in dieser Welt aussieht. Kunstkennern werden jetzt schon die Anspielungen zum Leben des echten Vincent van Gogh auffallen. Und tatsächlich bietet die Graphic Novel weitere Parallelen zum heute – laut Wikipedia – bekanntesten und beliebtesten Maler überhaupt.
Vincent, der van Gogh des 21. Jahrhunderts, ist ebenfalls ein armer, erfolgloser Künstler, der sich von seinem jüngeren Bruder Theo aushalten lässt. Als Gegenleistung schickt er ihm regelmäßig abgeschnittene Menschenohren zu. Diese Leidenschaft hat in seiner Jugend ihren Anfang genommen. Einige Jahre später wurde ihm sein eigenes Ohr abgeschnitten, im Streit mit seinem Künstlerfreund Paul Gauguin. Auch der wahre van Gogh soll sich bekanntermaßen im Streit mit Gauguin das eigene Ohr abgeschnitten haben. Abseits des Van-Gogh-Mythos wird auch Gauguin selbst als Täter in Betracht gezogen. Der Mythos des zu Lebzeiten verkannten Genies wird an anderen Stellen auch in der Graphic Novel bedient. Die Rolle des unverstandenen Künstlers und die unverstandene Welt, die zu grausam für ihn ist, stehen im Mittelpunkt.
Eine Welt ohne Tabus
Sähe die Welt so aus, wenn die menschlichen Abgründe ohne Einschränkungen unser Handeln bestimmen würden? Habgier, Süchte, Machtdurst, Mordgelüste, Willkür, Sex und in einigen Fällen auch tückische Liebesgefühle, die zu dummen Ideen führen, sind hier an der Tagesordnung. Die Geschichten der drei Hauptfiguren werden nicht chronologisch erzählt, sind aber trotzdem der rote Faden, der durch jede noch so monströse Facette dieser abartigen Umgebung führt. Der van Gogh des 21. Jahrhunderts, sein Bruder und Neffe durchlaufen eine absurde Situation nach der anderen.
Und dabei bekommt alles und jeder in der Gesellschaft sein Fett weg: natürlich Tschechien als Heimatland des Autors, aber auch Amerika, Russland, China, die gesinnungslose Politik, Religionen, Armut und Reichtum, Drogen, Liebe und Beziehungen und natürlich auch die Kunst.
Geld und Kunst – was sie verbindet, was sie trennt – darum geht es in der Graphic Novel, darum, wie es sich als Künstler lebt. Unnötig und überbewertet sei Kunst in dieser Welt, es ginge einzig und allein darum, Geld zu machen. Vincent van Gogh erreicht erst nach seinem Tod den Ruhm, den er sich sein Leben lang ersehnt hat – sowohl in der Graphic Novel als auch im wahren Leben.
Ist das noch lustig oder schon böse?
So erschreckend diese Welt erscheinen mag, so belanglos und beiläufig werden die Verhältnisse geschildert. In eingeschobenen Nebensätzen wird nur mal eben bemerkt, dass Arbeitslosen der Zutritt zum Arbeitsamt verwehrt ist oder Chinesen, dem Adrenalintourismus verfallen, in Kriegsgebieten als Kanonenfutter herhalten.
Hochtrabende dramatische Ausführungen würden eher die Komik zerstören, die durch diese Unterschwelligkeit entsteht. Nur durch den tiefschwarzen Humor und den zynischen Unterton wirken die teilweise maßlos absurden Szenerien nicht abschreckend und die grausame Wahrheit dahinter kann erstmal weggelacht werden.
Auch die Zeichnungen des slowakischen Illustratoren David Marcin erinnern an einigen Stellen an den Stil des echten Van Gogh, besonders ein Portraitbild von der Figur Vincent erinnert an ein bekanntes Bildnis des echten Künstlers. Die grobe und dynamische Strichführung stellt in der Graphic Novel aber weniger schön anzusehende impressionistische Landschaften dar sondern eher eine abstoßende und brutale Welt. Als düster und monströs werden die schwarzweiß Zeichnungen vom herausgebenden Kid Verlag beschrieben. Den schwarzen Humor findet man in den schonungslosen Zeichnungen immer wieder. Überspitzungen und kleine unerwartete Details muten oft wie besonders fiese, durchaus aktuelle Karikaturen an.
Blick in einen tiefschwarzen Spiegel
Ist die gesamte Graphic Novel eine Karikatur unserer Welt und der Menschheit oder doch nur eine dystopische Zukunftsvision, vielleicht sogar eine Mahnung? Das 21. Jahrhundert ist unsere Gegenwart und Zukunft, nicht weniges ist aktuelle Gesellschaftskritik: korrupte Politiker, Menschenhändler und Geld als Maß aller Dinge.
Die Graphic Novel Van Gogh des 21. Jahrhunderts ist somit nicht nur etwas für Kunstkenner, auch wenn Anspielungen auf moderne Kunst die gesamte Story durchziehen. Er ist auch etwas für Freunde des schwarzen Humors und Fans verrückter Geschichten, die in ungewöhnlichen und ausdrucksstarken Zeichnungen erzählt werden. Und er ist etwas für alle Philosophen dieser Welt, die sich fragen: Ist der Mensch von Natur aus schlecht? Gibt es das Gute? Wird unsere Welt irgendwann den Bach runtergehen oder ist sie das schon längst?