Wir bleiben in Bewegung
Für mehr Demokratie: Der Gezi-Park in Istanbul ist der Geburtsort einer gesamttürkischen Protestbewegung
Als ich im windigen Februar 2011 für ein Erasmus-Semester nach Istanbul kam, hatte ich noch nie vom Gezi-Park gehört. 24 Monate später war ich immerhin schon einmal alleine durch den etwas zerrupften Park gelaufen. So wie mir ging es den meisten Istanbulern, die ich kenne. Unsere freundlich-ignorante Haltung änderte sich Ende Mai 2013 schlagartig. Plötzlich saßen wir alle abends im Park und hofften, dass aus den vielen kleinen Funken des Widerstands etwas wird, das den vom Abriss bedrohten Gezi-Park noch retten kann.
Die Bagger waren schon in Aktion gewesen: Sie hatten aus dem Park mehrere Bäume und hunderte Kubikmeter Boden einfach herausgebissen, bevor mehrere Mitglieder der Taksim Support Gruppe sich ihnen in den Weg stellten und von der Polizei unter großzügigem Einsatz von Tränengas vertrieben werden sollten.
Allein, man hatte die Sturheit der Leute, ihren Willen und ihren Mut maßlos unterschätzt. Binnen eines Tages schossen Zelte wie Pilze aus der vertrockneten Wiese. Transparente schmückten den Park. Man musizierte gemeinsam, informierte neugierige Passanten, leitete zum Selberbasteln von Gasmasken an.
Eine erneute, ungleich brutalere Räumung des besetzten Parks im Morgengrauen des 30. Mai goss nur Öl ins Feuer der Demonstranten. Die schockierenden Bilder gingen längst um die ganze Welt und verschafften der noch relativ kleinen Gruppe schnell Zulauf. Irgendwo mittendrin saß ich nun also im Abendlicht und schaute mich staunend um. Die Menschenmenge vom Vorabend hatte sich mindestens verdoppelt und es kamen immer mehr Leute mit Zelten dazu. Auf meinem Heimweg beschäftigte mich vor allem eine Frage: Würde wieder geräumt werden? Es wurde! Als mich am nächsten Morgen der Anruf eines Freundes weckte, wusste ich, dass die Situation im Park und rund um den Platz eskaliert sein musste.
Was danach passierte, ging weltweit durch die Medien – nur durch die türkischen nicht. Bis auf einige lokale TV-Sender unterbrach niemand das laufende Programm, um über die eskalierte Polizeigewalt und die immer größer werdende Schar an Demonstranten zu berichten. Sogar CNN Türk schämte sich nicht, eine Pinguin-Doku über den Äther zu schicken, während zeitgleich in Istanbul buchstäblich die Barrikaden brannten.
Gemeinsam gegen ErdoğanSeit diesem bewegten Freitag sind nun viele Wochen vergangen. Wochen, in denen im zwischenzeitlich besetzten Gezi-Park eine kunterbunte selbstverwaltete Kommune entstand, die nach nur zwei Wochen unangemessen brutal geräumt wurde. Wochen, in denen die Proteste gegen Erdoğans Regierung sich wie ein Lauffeuer über die ganze Türkei ausbreiteten und bis heute immer wieder aufflammen. Wochen, in denen zahlreiche Verletzte in Krankenhäusern im Koma lagen – einige von ihnen sind nie wieder aufgewacht. Ich habe aufgehört, an den unregelmäßig stattfindenden Demonstrationen und Sit-Ins teilzunehmen. Die Polizei ist dazu übergegangen, jede Form des sichtbaren Protests sofort mit Wasserwerfern, Knüppeln und Tränengas vom Taksim-Platz zu vertreiben und die Situation in den Seitenstraßen rund um den Platz kann bei einer solchen Intervention innerhalb von Sekunden von friedlichem Getümmel zu Massenpanik umschlagen.
Die erfreulich heterogene Gezi-Park-Bewegung, die vor zwei Monaten noch zu Zehntausenden auf die Straßen ging, hat sich wieder in ihre Einzelteile und -Gruppierungen aufgelöst. Die Studenten, Schüler, Mütter, Anwälte, Arbeiter, Fußballfans, Linksradikalen, Muslime, Aleviten, Kurden, Homosexuellen, Parlamentsabgeordneten, Schauspieler, Unternehmer und Rentner haben ihre Bauhelme und Gasmasken nicht mehr ständig griffbereit, aber sie sind nach wie vor auf den Beinen. Wer nicht vorher schon einer Partei, Gewerkschaft oder anderen politisch aktiven Gruppen angehörte, kann in einem der zahlreichen Nachbarschafts-Foren aktiv werden, die sich in den Istanbuler Parks gebildet haben. Es finden Tauschmärkte, Konzerte und Workshops statt. Man bleibt in Kontakt, trifft sich auch mal zu kleineren dezentralen Demonstrationen.
Repressionen und Diffamierungen„Taksim Dayanışması“ (Taksim Support), die Gruppe, die als Dachverband von mehr als 120 Vereinen und Organisationen so etwas wie den überparteilichen Kern der Gezi-Park-Bewegung darstellte und seit 2012 mit Petitionen und Gerichtsverfahren gegen die Umgestaltung von Taksim-Platz und Gezi-Park kämpft, schwieg allerdings vorübergehend. Ihre Sprecher und Vorsitzenden sind massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt, wurden tagelang inhaftiert, als Anführer terroristischer Organisationen vor Gericht gebracht und schlussendlich wieder freigelassen. Erst Mitte August ließ Taksim Dayanışması über soziale Netzwerke wieder von sich hören.
Der Zusammenschluss aus Zahnarzt-Kammern, sozialistischen Feministinnen, Greenpeace, Architekten-Verbänden und Dutzenden anderer Interessengruppen war von Anfang an wichtiger Impulsgeber für die Proteste in Istanbul. Dem Kampf gegen Polizeigewalt, Politikerwillkür und Turbokapitalismus haben sich auch deshalb so viele Bürger der Stadt spontan angeschlossen, weil Gruppen wie Taksim Support deutlich machten, dass es nicht um die Meinung radikaler Splittergruppen oder frustrierter Oppositionsparteien geht, sondern dass hier für zivile Rechte wie Meinungsfreiheit und Demokratie demonstriert wird.
Währenddessen polemisieren Politiker und Anhänger der Regierungspartei weiterhin gegen die Bewegung, diffamieren deren Anhänger als islamfeindliche und fortschritthemmende Terroristen, die vom Ausland gesteuert das Land destabilisieren wollen. Auch der generell eher friedliche Fastenmonat Ramadan hat an diesem gespaltenen Klima wenig geändert. Die Fronten bleiben klar: „Wir gegen die”, wenn es sein muss mit Macheten und Knüppeln, wie einige wütende Ladenbetreiber in der Istanbuler Innenstadt Ende Juli eindrucksvoll zur Schau stellten, als sie plötzlich auf Demonstranten losgingen, die in den Gassen am Taksim-Platz Schutz suchten vor Tränengas und Gummigeschossen.
Alles schon vorbei?Wie es denn jetzt nun weiterginge, werde ich immer wieder von Freunden und Familie gefragt. Ist jetzt, wenige Monate nach der Besetzung des Gezi-Parks schon wieder alles vorbei? Ist uns im heißen Großstadtsommer die Luft ausgegangen? Wie lauten die politischen Prognosen? Ich kann nur das wiederholen, was ich seit Ende Mai immer wieder gesagt habe: Ich weiß es nicht.
Als Nicht-Türkin habe ich nach wie vor nur bedingt Einblick in die komplexen politischen Dynamiken, die dieses große Land umtreiben. Ich werde mit meinen Freunden weiterhin für ihre Bürgerrechte auf die Straße gehen, denn als Einwohnerin von Istanbul bin ich von allen Einschränkungen und der Polizeigewalt gleichermaßen betroffen.
Fakt ist: Im September geht die „Saison“ wieder los. Ramadan, Schul- und Semesterferien sind vorbei, die Leute strömen von den Stränden wieder zurück in die Städte. Fakt ist auch: Die türkischen Polizeibehörden haben Mitte August für 12 Millionen türkische Lira (rund 4,5 Millionen Euro) neue Wasserwerfer, Tränengas und andere Ausrüstung einkaufen dürfen. Der Gezi-Park, der nach der Räumung Mitte Juni mithilfe von Rollrasen, Delfin-Springbrunnen und Blumenbeeten von der Bezirksregierung hastig umgestaltet wurde und nun eher an eine schlechte Landesgartenschau als an den Geburtsort einer nationalen Protestbewegung erinnert, bleibt vorerst intakt. Und wir? Wir bleiben in Bewegung.
, Jahrgang 1983 aus Hamburg, hat in Köln und Istanbul Medienwissenschaften studiert. Im Mai 2013 zog sie dauerhaft in die Stadt am Bosporus.