Mareike Fallwickl
Die Wut, die bleibt
In den Hochzeiten von Corona, als Schulen und Kindergärten wochenlang geschlossen waren und Homeoffice mit Homeschooling kollidierte, waren es vor allem die Mütter, die darunter litten. Statistiken und Zeitungsberichte bestätigten, was man schon seit längerem vermutete: In der Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen sieht es nicht besser aus als in der Generation unserer Eltern und Großeltern.
Von Florina Evers
TW [Trigger Warnung]: Suizid, sexualisierte Gewalt, Essstörungen, Dick_Fettfeindlichkeit
Mareike Fallwickl nimmt genau diesen Missstand in ihrem neuen Roman als Ausgangspunkt. In Die Wut, die bleibt lässt sie Leser*innen Teil folgenden Gedankenspiels werden: Was wäre, wenn die überarbeitete Mutter tatsächlich einfach vom Balkon springt? Weil es nach drei Lockdowns, Homeschooling und dem nie enden wollenden Haushalt alles zu viel geworden ist? Ein aufrüttelndes und teilweise atemraubend brutales Leseerlebnis, das auch noch weit über die letzte Seite hinaus zum Nachdenken anregt.
Da kann Lola, Helenes 15-jährige Tochter, nur den Kopf schütteln. Sie beobachtet genau, was da bei sich zuhause geschieht: Sarahs Hilfe wird von Johannes als selbstverständlich angesehen – ein klassischer Fall von „Care“-Arbeit, die nicht als solche gewertet wird. Ist Lola die Einzige, die hinterfragt, dass die beste Freundin ihrer toten Mutter nun den Haushalt schmeißt und nicht ihr eigener Vater?
Ihr denkt, ihr habt die große Freiheit, dabei seid ihr umgeben von den Gitterstäben der Gesellschaft und checkt nicht mal, dass ihr im Käfig hockt.
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt, 2022.
Ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt, warum der Roman so radikal mit einem Suizid beginnen muss. Hätte es nicht gereicht, wenn Helene einfach für ein paar Monate Abstand sucht? Eine von der Krankenkasse bezahlte Kur auf Sylt oder in Süddeutschland macht? Auch das Verhalten von Lola und ihrer Clique hat mich oft Schlucken lassen, denn sie agieren mit einer solchen Brutalität, dass das Lesen dieser Szenen wirklich kein Zuckerschlecken ist. Dazu kommt, dass die männlichen Charaktere, im Gegensatz zu den weiblichen, keinerlei Tiefgang haben, was ein wenig unfair wirkt. Man kann gar nicht anders, als auf Johannes und Sarahs Freund Leon herabzusehen. Doch mit ein bisschen Abstand zur Lektüre, verstehe ich besser, warum der Roman diese Radikalität braucht und den Fokus bewusst auf die weiblichen Charaktere lenkt. Der Autorin ging es nicht darum, eine Anleitung für den Umgang mit Erschöpfung und Wut zu schreiben, sondern deutlich zu machen, wie erschöpft und wie wütend Mütter und Frauen im Jahr 2022 sind, und was der Ursprung dieses Zustands ist. Das drastische Handeln der Protagonistinnen passiert im Roman stellvertretend für all das Nichtgesagte und Nichtgetane in unserer Gesellschaft, wie ein Paukenschlag, der nicht dafür gedacht ist, schön zu klingen, sondern Aufbruch zu signalisieren. Und wohin soll der Weg führen? Zu einer neuen Familienpolitik, zu einer neuen Sichtbarkeit für Mütter und ihrer Arbeit und zu einer gerechteren Rollenverteilung innerhalb der Familie.
Gerade mir als kinderloser Leserin hat der Roman wichtige Denkanstöße gegeben und führte sogar zu einem Gespräch mit meiner eigenen Mutter über die Themen des Romans. Genau darin besteht die Magie unbequemer Literatur: Sie kitzelt in uns das Bedürfnis nach Austausch über Themen hervor, denen wir uns sonst womöglich nicht mit der gleichen Intensität gewidmet hätten. Es ist also vielleicht ein Buch besonders für diejenigen, die sich von der Thematik – wie ich zu Beginn – nicht sofort angesprochen fühlen. Vielleicht weil sie keine Kinder haben oder wollen. Vielleicht weil sie keine Care-Arbeit leisten. Doch wir alle haben eine Mutter, kennen Mütter – und eine bessere Welt für Mütter ist eine bessere Welt für alle.
Mareike Fallwickl ist eine österreichische Autorin, die mit ihrer Familie im Salzburger Land wohnt. 2018 erschien ihr Debütroman Dunkelgrün fast schwarz in der Frankfurter Verlagsanstalt, das für den Österreichischen Buchpreis sowie für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert wurde. 2019 folgte der Roman Das Licht ist hier viel heller. Bekannt ist Mareike Fallwickl auch für ihren Instagram Kanal @the_zuckergoscherl auf dem sie Leseempfehlungen mit einem Fokus auf feministischer und weiblicher Literatur gibt.
Die Wut, die bleibt
Rowohlt, 2022.384 Seiten
ISBN: 978-3-498-00296-1