Andrey Makarychev
Estlands zwei Populismen
Andrey Makarychev | Foto: Sander Ilvest
In Estland stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament im Zeichen der durch die nationalen Parlamentswahlen im März und ihr Nachspiel ausgelösten Kontroversen.
Von März bis April: Die Parlamentswahlen und ihre Folgen
Infolge der estnischen Parlamentswahlen vom März 2019 wird die rechtsgerichtete Partei EKRE (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond) zum ersten Mal Teil der Regierung. Dies geschieht, obwohl EKRE mit 17,8 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft wurde, weil zwei der etablierten Parteien – Isamaa (11,4%) und die Zentrumspartei (23,1%) – bereit waren, mit EKRE zu koalieren. Statt EKRE zu isolieren und in der Minderheit zu belassen, bilden Isamaa und die Zentrumspartei nun zusammen mit EKRE eine Regierung. Besonders die Bereitschaft der Zentrumspartei zu dem Schritt, die sich über Jahre den Ruf erarbeitet hat, die Interessen der russischsprachigen Community zu repräsentieren, hat für Kontroversen gesorgt. Angesichts der systematischen anti-russischen Äußerungen von EKRE ist diese Bereitschaft bemerkenswert. Eine Reihe von Stimmen innerhalb der Partei kritisierten die Koalitionsverhandlungen mit EKRE, was zu einer Spaltung innerhalb der Partei führte.Letztendlich fand sich die Reformpartei (eigentlicher Wahlsieger mit 28,9% der Stimmen) in der Opposition wieder, während EKRE mit nur 17,8% ein Drittel der Ministerposten erhielt. Nachdem Estland seit einem Jahr mit einem Geldwäscheskandal zu kämpfen hat, erhält der Ruf des Landes in der EU nun mit der Machtbeteiligung von EKRE einen weiteren Rückschlag.
Estnische Bürger reagieren auf die politische Situation mit einem Konzert für ein inklusives Estland | © Kõigi Eesti
Ein technischer Umgang mit einer politischen Herausforderung
Die komplizierte Lage legt drei bedeutende Trends offen. Erstens, der wachsende estnische Rechtspopulismus vermischte sich mit seinem scheinbaren Gegenteil – technokratischer Regierungsführung. Tatsächlich reagiert ein Großteil der estnischen politischen Klasse, einschließlich der Präsidentin Kersti Kaljulaid, auf die politische Herausforderung der estnischen (und europäischen) Demokratie durch EKRE vorwiegend mit legalistischen und entpolitisierten Positionen:„Die Wahlen haben stattgefunden, die Gewinner stehen fest, den politischen Parteien steht es frei, mögliche Kooperationen zur Regierungsbildung zu diskutieren … Alle sind hier als Resultat eines demokratischen Prozesses … Die Wahlen und die darauffolgenden Entwicklungen stehen verfahrenstechnisch im Einklang mit der Verfassung und demokratischen Werten.“
Diese Äußerung kann man so verstehen, dass EKRE als inhärenter Teil des estnischen demokratischen Prozesses akzeptiert wird. Gleichzeitig sprach Präsidentin Kaljulaid über eine Krise der Werte: die Mitglieder der Regierungskoalition kümmerten sich in erster Linie um Wahltaktik (wie man die Mehrheit im Parlament erreichen könne) oder politische Pädagogik (wie man EKRE dazu kriegen könnte, ihre radikale Rhetorik zu dämpfen). Die pragmatische Zusammenarbeit mit EKRE ist ein weiteres Beispiel für einen trans-ideologischen Politikstil, den man bereits in anderen europäischen Ländern beobachten konnte.
Zwischen Liberalismus und Nationalismus
Zweitens, EKREs Akzeptanz durch einen bedeutenden Teil des politischen Establishments zeugt von einer Lücke zwischen Liberalismus und Nationalismus. Wie der politische Analyst Ivan Krastev vor kurzem überzeugend darlegte, wurde der Aufstieg rechter Parteien in Ländern wie Polen und Ungarn ermöglicht durch „die Trennung von Liberalismus und Nationalismus in den späten 1990ern“. Die zwei politischen Kräfte bekämpften den Kommunismus gemeinsam, gingen dann aber separater Wege. Es scheint als stünden Estland nach den Parlamentswahlen vom März 2019 ähnliche Probleme bevor. Tatsächlich kann man heute in Estland nationalistisch sein, ohne sich mit liberalen Werten zu indentifizieren (EKRE), und liberal jenseits sichtbarer nationalistischer Einstellungen (Reformpartei).Mehr als ein Populismus
Drittens und damit verbunden führte die Trennung zwischen Liberalen und Nationalisten nicht zu einem, sondern zu zwei Typen des Populismus. Neben dem von EKRE offenbarte die Zentrumspartei ihren eigenen Populismus, indem sie deutlich machte, dass sie die russischsprachigen Stimmen vor allem als Ressource sieht, statt dass es um Prinzipien geht. Nachdem Yana Toom, eine der am stärksten pro-russischen Politikerinnen Estlands, angekündigt hatte, aus der Zentrumspartei auszutreten, falls diese einer Koalition mit EKRE zustimmen würde, änderte sie ihre Meinung und blieb. Vor diesem Hintergrund sehen einige Mitglieder vom Zentrum die Koalition mit EKRE als einen Schlag gegen ihr öffentliches Ansehen, von dem sie sich so bald nicht erholen werden. Die russischsprachigen Wähler der Zentrumspartei fühlen sich wohl betrogen von dieser toxischen Mischung aus Populismus und Pragmatismus in der Parteiführung.Estnisch- und russischsprachige Musiker setzen gemeinsam ein Zeichen für ein inklusives Estland | © Kõigi Eesti
Die Perspektive der Russischsprachigen
Unter Druck von zwei ideologisch verschiedenen, politisch jedoch kompatiblen Formen von Populismus, steht das estnische politische System vor Veränderungen. In jedem der erwähnten Punkte geht es um die Überbrückung der Spaltung zwischen der estnischen nationalen Mehrheit und der russischen ethnischen Minderheit sowie die Integration Russischsprachiger in die Gesellschaft. Das macht die Zukunft der Zentrumspartei, deren Einheit auf dem Spiel steht, tatsächlich im Wortsinne zentral. Eine neue „russische Partei“ scheint unwahrscheinlich, denn ihre Wählerbasis würde sich auf die Gegend Ida-Virumaa sowie den Bezirk Lasnamäe in Tallinn beschränken. „Estland 200“, eine neue Partei, die erst wenige Monate vor den Wahlen in Erscheinung trat und an der 5%-Hürde scheiterte, könnte sich weiterhin als eine neue Stimme für die für russische Wähler so wichtige Integrationsagenda positionieren.In jedem Fall zeugt der EKRE-Zentrums-Nexus von einer Krise des „alten“ Integrationsmodells für Russischsprachige. Das führt zwingend zu neuen Debatten über die russischsprachige Minderheit und ihre zu erwartende weiteren Entfremdung vom estnischen politischen System.
Nach der gleichen Logik scheint Russland als Beschützer seiner „Landsleute“ in den baltischen Staaten praktisch nichts aus den aktuellen politischen Unwägbarkeiten zu gewinnen. EKREs Aufstieg in die Regierung verkleinert die politische Basis Moskaus in Estland weiter. Während die Zentrumspartei ihre Kontrolle über die russischsprachigen Wähler verliert, wird Moskau einen neuen Vermittler und „Versteher“ finden müssen. Wie der jüngste Besuch von Kersti Kaljulaid in Moskau suggeriert, wird Moskau seine Kommunikation mit Tallinn wahrscheinlich eher mit Hilfe dem technokratisch-pragmatischen Teil der Elite aufrecht erhalten können als von der populistischen Welle zu profitieren.
Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Thimm