Sándor Tatár empfiehlt
Der letzte Satz
Der Ozean ist still und geheimnisvoll. Außer der Abfolge der Tageszeiten ist das gelegentliche Erscheinen eines großen weißen Vogels das einzige äußere Ereignis – aber auch hier ist nicht immer gewiss, ob er ein leibhaftiges Lebewesen oder eine Vision darstellt. Fieberwellen plagen den geschwächten Mahler, er spürt das nahende Ende; es ist nur natürlich, dass sich Szenen aus dem Film seines Lebens vor ihm abspielen. Etwa wie Tolstois sterbender Iwan Iljitsch mit seinem Diener, ist auch der Komponist allein mit seinen Schmerzen, mit seiner Hilflosigkeit, mit seinen Erinnerungen und mit dem auf stille Art einfühlsamen, ihn aufmerksam unterstützenden Schiffsjungen.
Das stark kammerstückartige, in schnörkelloser Sprache geschriebene Buch lässt sich gut lesen und wartet, was eine Handlung betrifft, nur mit den aus der Vergangenheit heraufbeschworenen Szenen auf. Die mehr oder minder chronologisch angeordneten, zugleich aber auch entsprechend den kapriziösen Launen der Erinnerung (und teilweise des Delirierens) wachgerufenen Ereignisse und Episoden aus Mahlers Leben wechseln sich mit Abschnitten ab, die zwar ebenfalls in der dritten Person Singular verfasst sind, ihrem Wesen und ihrer Funktion nach aber als innere Monologe verstanden werden können.
Wir kannten Gustav Mahler als einen der berühmtesten und anerkanntesten Musiker seiner Zeit – er war von kleiner Statur, jüdischer Herkunft, durfte eine der meistumworbenen und einnehmendsten Damen der damaligen Wiener Gesellschaft (die neunzehn Jahre jüngere Alma) seine Frau nennen, und er konnte die Aufführungskonventionen des Musiktheaters in gleich zwei weltberühmten Opernhäusern geradezu revolutionsartig reformieren: in der Wiener Hofoper und in der New Yorker Metropolitan Opera (man sollte aber natürlich auch das wesentlich kürzere „Intermezzo“ zwischen 1888 und 1891 nicht unerwähnt lassen, als Mahler in Budapest Operndirektor war). Dank Seethalers Roman haben wir nunmehr eine mögliche und als solche glaubhaft wirkende Version auch davon, wie Mahler selbst all das erlebt – beziehungsweise wachgerufen – haben könnte; als Mann, als Vater, als Musiker.
Hanser Literaturverlage
Robert Seethaler
Der letzte Satz
Hanser Literaturverlage, Berlin, 2020
ISBN 978-3-446-26788-6
128 Seiten
E-Book in der Onleihe des Goethe-Instituts ausleihen
Rezensionen in den deutschen Medien:
Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung auf Bücher.de
Die Zeit