Briefblog
Schmutziger Strom
Sag mal, Jaan Tamm, seid ihr wirklich Schmutzfinken?
Eigentlich ist ein »Schmutzfink« ja schlicht ein Fachbegriff für Finken, die sich im Sand wälzen, um sich lästiger Parasiten zu entledigen, wenn gerade kein Wasser zur Verfügung ist. Das ist ein naheliegender Vorgang, denn ein bisschen Dreck finden die Finken überall. Vor allem aber ist es eine Handlung, die ich persönlich weder in Estland noch anderswo jemals bei Menschen beobachtet habe. Dennoch wurde Estland von der deutschen Tageszeitung taz vor einigen Monaten als "der Schmutzfink Europas" betitelt . Wie der Autor darauf kam? Er hat sich schlicht angeschaut, wie hier in Estland Energie erzeugt wird und, nun ja, lieber Jaan, das ist tatsächlich eine ziemlich dreckige Angelegenheit, denn ein Großteil der estnischen Elektrizität wird weiterhin aus Ölschiefer gewonnen. Der Anteil halbwegs ökologischer, erneuerbarer Energie an der insgesamt erzeugten Menge geht sogar zurück: »Als einziges EU-Mitglied hat Estland es geschafft, den Anteil erneuerbarer Energiequellen an der Primärstromversorgung zwischen 2009 und 2014 zu senken«, heißt es in dem Artikel. Im Klimaschutz-Index von 2017 landete Estland gar hinter Algerien, China und Weißrussland und nur ganz knapp vor Russland.
Das hat mich wirklich schwer überrascht, denn eigentlich sind du und deine estnischen Mitbürger doch wahrlich Naturliebhaber. Wenn das Wetter es zulässt, wird jede freie Minute draußen in der Natur verbracht, der Glaube an heilige Steine, Quellen und so weiter ist recht verbreitet und sogar das liebevolle Umarmen von Bäumen ist nicht eben unüblich. Aber ausgerechnet bei der Energiegewinnung wird massenhaft auf die umweltschädlichste aller vorstellbaren Arten zurückgegriffen: die Verstromung von Ölschiefer. Da werden also Unmengen an Gestein aus der Erde gebuddelt, das wenige darin enthaltene Kerogen aufwendig extrahiert, um es gleich im Anschluss einfach zu verbrennen. Zurück bleiben tote Mondlandschaften in den Abbaugebieten, ein riesiger Haufen giftiger Gesteinsmüll und jede Menge Kohlendioxid. Letzteres lasst ihr euch dann von der frischen Brise um die Nase wehen, die hier in Estland fast ununterbrochen übers Land pfeift – und die sich doch eigentlich bestens selbst zur Stromgewinnung nutzen ließe, oder?
Klar, große Windparks sind nicht gerade schön anzusehen, in Deutschland redet man in dem Zusammenhang auch gern von der Verspargelung der Landschaft. Bei einer Bevölkerungsdichte, die in Estland mit 29 Einwohnern pro Quadratkilometern nur knapp über der des Mondes liegt, finden sich aber eventuell doch noch ein, zwei Standorte, an denen sich nicht allzu viele Menschen gestört fühlen. Und so richtig schön sind die riesigen Tagebaue zur Förderung des Ölschiefers im estnischen Osten irgendwie auch nicht.
Es gibt also doch einen Unterschied zwischen den echten Schmutz-Finken und euch Estinnen und Esten: Erstere ziehen die saubere Methode des Wasserbades dem Bad im Dreck jederzeit vor, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Und ihr, lieber Jaan, hättet durchaus die Wahl, saubereren Strom zu produzieren, habt euch aber – vorerst zumindest – freiwillig für die schmutzige Variante entschieden.
Es grüßt herzlich,
Martinus Mancha