Annika Tudeer
Die Idee vom Geld verkörpern und ein Teil der Welt werden
Habt ihr Spaß daran, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten? Aus dieser recht unschuldigen Frage, die mir Anna Teuwen, Dramaturgin auf Kampnagel in Hamburg, im Herbst 2016 in Helsinki stellte, entstand das Projekt Children and Other Radicals, als ein Teil des Festivals Dangerous Minds in Hamburg im Frühjahr 2018.
Natürlich ist man erst einmal positiv eingestellt, wenn man gebeten wird, ein Projekt zu starten. Natürlich fängt man an zu überlegen, was es bedeutet, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Natürlich ist man verblüfft, wie viele Türen sich öffnen, wenn Kinder beteiligt sind.
Anfangs schien es absurd, dass die Performancegruppe Oblivia, Avantgarde des Minimalismus und der Abstraktionen, mit Kindern und Jugendlichen arbeiten sollte. Nicht weil die Avantgarde das nicht kann, oder weil es unter ihrer Würde wäre, aber weil es eine ganz neue Denkweise verlangt. Eine Herausforderung, milde ausgedrückt. Wie können wir das, was wir tun, für Kinder und Jugendliche öffnen und übersetzen? Das ist doch so speziell, so merkwürdig, so abstrakt, so – hm – erwachsen. Das, was wir machen. Aber – alle anderen machen das doch auch. Es ist ein Trend. Können die es, dann können wir es.
Wir entschieden sofort, dass wir zusammen mit den Jugendlichen arbeiten würden, so dass Erwachsene und Kinder gemeinsam auf der Bühne stehen. Denn Zusammenarbeit und Gemeinschaft ist unser Ding! Das führte dazu, dass wir in der finnischen Version zu zehnt auf der Bühne waren. In der deutschen Version, die wir im Dezember 2018 im PACT (Performing Arts Choreographisches Zentrum NRW Tanzlandschaft Ruhr) Zollverein in Essen mit Kindern und Jugendlichen aus der Umgebung aufführen, sind wir sogar 15-16 Personen.
Wirtschaft und Demokratie
Ich diskutierte lange mit Anna Teuwen über das Thema: Ja, es sollte definitiv um Demokratie gehen, definitiv um Strukturen, definitiv um Macht. Und doch dauerte es eine Weile, bis wir das Thema Geld und finanzielle Strukturen mit einbezogen hatten. Wir fragten uns, wo die Macht sitzt, und in welchen Welten sowohl Erwachsene als auch Kinder außen vor sind. In der Welt des Geldes und der finanziellen Strukturen. Kinder sind in jedem Fall ausgeschlossen von der öffentlichen Sphäre der Staatsbürgerschaft und damit auch von der Welt der Finanzen und der Volkswirtschaft. Aber Erwachsene brauchen nicht außerhalb dieser Welt zu stehen. Oft schließen wir uns selbst aus, weil das eine Welt ist, mit der wir uns nicht befassen wollen, weil sie merkwürdig, uninteressant, schwer verständlich ist, und Geld ist, nun ja, schmutzig.So entsteht ein Demokratiedefizit zwischen denen, die etwas über Wirtschaft wissen und denen, die nichts darüber wissen. Zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Kenntnisse und Interesse für Wirtschaft sind oft damit gekoppelt, ob man Geld hat oder nicht. In Kultur- und Kunstkreisen herrscht manchmal eine regelrechte Aversion gegen die Wirtschaft: Sie wird nicht nur als langweilig, sondern als moralisch suspekt betrachtet. Aktienkurse beobachten, sich über Volkswirtschaft informieren und die Fluktuationen des Finanzmarktes verfolgen - das sind Dinge, die man nicht tut. Und doch ist es wichtiger als je zuvor, Kenntnis der Finanzmärkte und der wirtschaftlichen Strukturen zu haben, um ein vollwertiger Bürger der heutigen Welt zu sein.
Niemand von uns kannte sich mit den Geheimnissen der Finanzwelt besonders aus. Übrigens habe ich den Verdacht, dass die Finanzmärkte sich mit Absicht mysteriös und unverständlich darstellen, so dass einen schon der Klang von Vokabeln wie Derivat, Option, shortening und so weiter abschreckt. Umso mehr Anlass haben wir, sie auf unsere eigene Weise in Angriff zu nehmen.
Sich die Welt zu eigen machen
Oblivia arbeitet immer mit großen Themen. Wir umfassen unser Thema, indem wir es drehen und wenden, indem wir das verborgene Wissen, das wir alle darüber haben, nutzen und hervorlocken, und indem wir es verkörperlichen. Als Extrabonus erlebten wir diesmal ein euphorisches Gefühl des „Empowerment“, weil wir, die ganze Arbeitsgruppe aus Teens und Erwachsenen, uns durch das Spielen mit den Finanzbegriffen immer mehr auf Du und Du mit ihnen fühlten. Wir erzeugten ”the sound of finance”, wir bewegten uns wie Algorithmen, wir improvisierten verschiedene Wirtschaftsbegriffe im Verhältnis zueinander. Wir entdeckten, dass alle Dokumentarfilme über die Finanzwelt von minimalistischer Musik untermalt sind, wir betrachteten Finanz-Homepages und ließen uns von den Diagrammen zu wilden Improvisationen inspirieren. Wir dachten über Geld in unserer Welt nach, und wie es uns und unsere Familien beeinflusst. Wir lernten viel darüber, wie die Welt des Geldes und die Gesellschaft funktionieren, und dass wir ein Teil davon sein können, ganz einfach indem wir sie verkörpern, körperlich darstellen.Die größte Herausforderung lag jedoch anderswo. Wir hatten ja noch nie mit Jugendlichen gearbeitet und wollten so gerne ein Gemeinschaftsgefühl schaffen, Kinder und Erwachsene sollten in der Performance gleichberechtigt sein. Deshalb dauerte es eine Weile, bis uns klar wurde, dass es nicht richtig war, alles zusammen zu machen. Wir mussten weniger daran arbeiten, was wir zeigen wollten, sondern vielmehr wie.
Wie konnten wir all unsere Kenntnisse vermitteln und mitteilen? Bei der Zusammenarbeit mit anderen Profis geht man davon aus, dass die oder der andere annäherungsweise versteht, was erwartet wird, oder zumindest bereit ist, die Situation zu meistern. Aber mit Kindern ist das anders. Wir verwandten viel Zeit darauf, herauszufinden, wie wir Dinge vermitteln konnten, die für uns OblivianerInnen selbstverständlich waren.
Infolgedessen ist diese Performance auch ein epistemologisches Projekt. Das heißt, sie handelt von Wissen und Wissensvermittlung. Wie vermittelt man Kenntnisse, die für einen selbst ganz selbstverständlich sind – Arbeitsmethoden, szenische Gestaltung - , wie verschafft man sich Wissen über ein abstraktes Thema wie „Wirtschaft und Geld“, und wie gibt man die gewonnenen Einsichten an das Publikum weiter?
Der teure Siegeszug des Kapitalismus
Eigentlich müsste das Thema Wirtschaft alle und jeden berühren und beschäftigen – in einer Zeit, da die Einkommensklüfte zunehmen und das reichste Prozent im Jahr 2030 zwei Drittel aller Ressourcen auf dem Planeten besitzen wird. Während die Armen ärmer werden, das Leben teurer wird und die Mittelschicht verarmt. Je ungleichberechtigter die Gesellschaft wird, desto komplizierter, gefährlicher und bürokratischer wird der Alltag. Das Vertrauen und die Gesundheit der BürgerInnen werden ausgehöhlt. Die schädlichen Auswirkungen des Kapitalismus sind enorm, und dennoch darf er weitermachen: Die Umwelt wird zerstört, die Korruption floriert, um nur wenige Punkte zu nennen. Als wir 2000 mit Oblivia anfingen, war Anna Krzystek[1], die jedes Jahr aus Großbritannien kam, um mit uns zu arbeiten, erstaunt darüber, wie reibungslos und gut der finnische Staat funktionierte, und wie alle einander zu vertrauen schienen. Sie dagegen lebte in einer Atmosphäre, die von Thatchers aggressiver neoliberaler Politik geprägt war.In den achtzehn Jahren, die seither vergangen sind, ist die finnische Gesellschaft leider viel komplizierter geworden. All das gibt einem das Gefühl, dass der Kapitalismus eine Naturgewalt ist. Aber Kapitalismus ist ein Resultat politischer Entscheidungen, und politische Entscheidungen lassen sich beeinflussen. Der Zufall, der eher eine Naturgewalt ist, lässt sich eventuell nicht so sehr beeinflussen.
Trotz aller negativen Auswirkungen von Geld und Kapital in der Welt, und egal wie resigniert man ist, fühlt es sich besser an, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt und es sich aneignet. Auf die eigene Weise mit Wirtschaft und Finanzmärkten umzugehen, wird ein demokratisches Projekt. Improvisieren, singen, Klänge erzeugen, wandern, Atmosphären schaffen. Mit Children and Other Radicals übernehmen wir die symbolische Macht über einen Bereich, aus dem wir sonst ausgeschlossen sind. Wissen, Verkörperung und Gemeinschaft wurden zum Gegengift gegen das Erlebnis der Entfremdung und des Ausgeschlossenseins, besonders weil wir mit den jungen Menschen zusammenarbeiteten, die bald die Welt übernehmen werden.
Geld bringt Geld
Als wir mit dem Projekt anfingen und das Interesse für die Kombination Oblivia, Kinder und Geld wuchs, fanden wir es zunächst ironisch, dass ein Projekt zum Thema Geld recht viel Geld generierte, in Form von Fördergeldern und Koproduktionspartnern. Bald erkannten wir, welches Potential und welche Freude darin lag. Das Projekt füllte das gesamte Jahr aus, in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil entstand in Zusammenarbeit mit Kampnagel in Hamburg und hatte im Mai 2018 beim Festival Dangerous Minds Premiere. Wir reisten mit der gesamten Entourage an: Kinder, Auftretende, Designer, Produzent. Zu unserer Freude bekam das Projekt eine Fortsetzung, zusammen mit dem PACT Zollverein in Essen, wo wir eine neue Version der Vorstellung inszenieren werden, diesmal mit zehn, elf Kindern und Jugendlichen aus Essen, die einen ganz anderen Hintergrund haben als die Kinder in Finnland. Wir hatten gedacht, dass wir unser bestehendes Konzept weiter verfolgen konnten, aber nach dem ersten Workshop in Essen wurde uns klar, dass das Konzept den Rahmen sprengen würde, mit so vielen und vielfältigen Personen auf der Bühne.Mit und in den großen Häusern zu arbeiten - auf Kampnagel, im Almi-Saal bei den Helsinkier Festspielen, beim PACT Zollverein, beim FFT (Forum Freies Theater Düsseldorf) - war einfach großartig. Wenn das Projekt und das Thema Kinder und Geld so ausgezeichnete Arbeitsbedingungen mit sich führen, kann man das nur dankbar annehmen. Genießen. Und überlegen, wie man mit dem superinteressanten Thema weiterarbeiten kann. Wir hatten uns auch nicht vorstellen können, dass die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen uns so viel geben, solchen Spaß machen und uns so berühren würde.
Was uns in diese wunderbare Welt hineinführte, das ist eine lange Geschichte. Oblivia war in den letzten neun Jahren in der deutschen experimentellen Szene der Performing Arts stark präsent. Ich begegnete Anna Teuwen im August 2009 in Tampere und gab ihr eine DVD mit Entertainment Island 1, dem Werk, das uns eine Residenz beim PACT Zollverein beschert hatte, die wir einige Wochen später antraten. Zwischen Anna und unserem Team entwickelte sich eine Freundschaft, und wir arbeiteten mehrere Jahre bei PACT.
Unsere Konjunkturkurve in Deutschland stieg von Residenz und Gastspielen hin zu Gemeinschaftsproduktionen, Unterricht und Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern, und inzwischen gehören auch zwei deutsche Performer, Alice Ferl und Niels Bovri aus Düsseldorf, zu Oblivia. Ein großer Teil unserer ZuschauerInnen und FreundInnen befinden sich in Deutschland, und wir fühlen uns dort einfach wohl. Hier versteht man uns, und wir genießen es, dass wir Teil eines größeren Zusammenhangs und eines leidenschaftlichen Diskurses über Performing Art sind.
Die Autorin
Annika Tudeer ist die künstlerische Leiterin und Gründerin der Performance-Gruppe Oblivia (2000). Annika tritt in den gemeinschaftlich erarbeiteten Aufführungen in vielen Ländern auf. Zusammen mit anderen freien Gruppen gründete sie das Performance-Zentrum ESKUS in Södervik/Suvilahti in Helsinki 2008. Sie gehört zu den InitiatorInnen von Mad House, einem Produktionshaus für Performance und neue Bühnenkunst in Helsinki 2013. In den 1990er Jahren arbeitete Annika als Tänzerin und Choreographin, bis sie an der Universität Helsinki die Magisterprüfung mit dem Hauptfach Literatur ablegte. 2014 erhielt sie ein fünfjähriges Künstlerstipendium, und 2016 wurden ihr für ihre bahnbrechende Arbeit in der neuen Bühnenkunst Preise aus dem Stella-Parland-Fonds und aus Stina Krooks Stiftung verliehen. Oblivia
Oblivia wurde im Jahr 2000 gegründet und hat mehrere Phasen durchlaufen – von einer Arbeitsgruppe bis hin zu einer international anerkannten Gruppe mit kontinuierlicher Tätigkeit. Hohe künstlerische und neuschaffende Ambitionen, internationale Arbeit, Weitblick, ein engagiertes Team, ein umfassendes Netzwerk und eine ethische Grundlage sind die Stützpfeiler für Oblivias Kunst. Oblivia kooperiert mit in- und ausländischen Theatern, Gruppen und KünstlerInnen. Oblivia entwickelte eine eigene, minimalistische Ästhetik und die Methode “do what you saw”, eine gemeinschaftliche Devising-Methode, die angewendet wird, um Material für die Inszenierungen herauszufiltern.Oblivia ist keine Tanzgruppe, aber Choreographie ist ein Fundament in der Komposition. Oblivia ist keine Theatergruppe, aber arbeitet mit Text, inneren Bildern, Assoziationen und physischem Ausdruck. Oblivia macht keine Performancekunst, aber die Haltung und die physischen Herausforderungen kommen von dort.
Oblivia fordert die Black Box heraus und nutzt sie als wichtigstes Requisit. Oblivia untersucht mit den Mitteln der neuen Bühnenkunst unsere Gegenwart.
www.oblivia.fi
[1] Die Choreografin und Tänzerin Anna Krzystek (1968-2017) arbeitete mit und formte Oblivia bis 2013.