Wenn ich lese, denkt eine andere an meiner statt.
Wenn ich schreibe, denkt die Hand an meiner statt.
Wenn ich schlafe, frage ich nicht: gibt es mich,
Es gibt mich, und ich weiß, dass ich nicht frei bin,
ich kann mich nicht selbst betrügen: ich träume
Eeva-Liisa Manner*
Deutsch ist uncool. Das erfuhr ich ausgerechnet in der Deutschen Schule in Helsinki. Selbst dort wollen die Schüler*innen lieber Englisch als Deutsch sprechen. Englisch ist cool. Deutsch spricht man, weil die Eltern es wollen. Wählen würde man es nie. So eine Auskunft sollte ich nicht verbreiten, schon gar nicht im Netz. Man kann die Dinge auch herbeireden. Aber der Lehrer schien leise verzweifelt. Mit dem deutschen Abitur könne man ebenfalls niemanden mehr locken. Zu schwerfällig, zu wenig digital, zu unflexibel im Vergleich zum finnischen, das man, wenn man es beim ersten Mal nicht schaffe, auch in einem zweiten oder dritten Anlauf ablegen könne, gern am Computer.
Zugegeben: seit ich Finnland besser kennen lerne, rückt Deutschland immer mehr ins Abseits. Ins Aus. In eine geradezu dinosaurische Ferne. Deutschland, dieser alte, manövrierunfähige Tanker. Das fiel mir schon beim Sommerfest der deutschen Botschaft auf, die malerisch am Wasser in Kuusisaari liegt. Vor dem Tor kündigten zwei Kleinbusse die Richtung des Abends an: auf dem einen waren Thüringer Bratwürste zu sehen, die, wie zu erfahren war, in einer soundso viele hundert Meter langen Kette soundso viele hundert Kilometer mit einem Dieselfahrzeug aus Jena herbeigekarrt worden waren. Drinnen die Bestätigung: Es gab Bratwurst, Currywurst und Leberkäse. Vegetarier? Die können die Bratkartoffeln essen!
Nun habe ich in jedem finnischen Supermarkt Bratwürste entdeckt, die nicht nur nach Bratwurst schmecken, sondern auch so heißen. Man muss des Finnischen also nicht mächtig sein, um klimaschonend deutsches Bratgut einzukaufen. Man ist im Jahre 2019 auch nicht mehr gezwungen, mangels Alternative Deutschland als Land der Fleischfresser zu präsentieren (auch wenn der Botschaft zufolge alles Deutsche sehr männlich sein muss). Die Supermärkte im die Botschaft umgebenden Land haben ein Angebot, wie man es in Deutschland nur bekäme, würde man Kaufland mit dem KaDeWe kreuzen. Selbst im hohen Norden gibt es Zucchini und Tomate.
Der zweite Kleinbus hatte die Combo des Stabsmusikcorps der Bundeswehr herbeigeschafft, die mit gut genährten Blechblasinstrumenten hübsche Weisen aufspielten, ohne vom Repertoire abzuweichen, auch nicht, als die Jungs vom Gardemusikkorps der finnischen Streitkräfte, die die edle Hütte rockten, gemeinsam rocken wollten. Am Ende spielte man zwar zusammen, aber das Liedgut der Deutschen hübsch vom Blatt, da hatte der finnische Sänger sich anzupassen. Warum etwas ändern, wenn sich das Repertoire seit Kohls Zeiten bewährt hat?! Nichts gegen Traditionen. Sie helfen, das Chaos des Lebens zu lichten. An diesem Abend wurde ich allerdings an die letzte große Jubiläumsfeier der SPD auf der Straße des 17. Juni erinnert. Dort gab es ausschließlich Bratwurst und Bier, es spielte eine Blasmusikcombo. Danach wählte diese Partei fast niemand mehr.
Ich bin Schriftstellerin. Ich möchte nicht, dass meine Sprache keiner mehr wählt. Ich wäre sehr dafür, dass man sich bei uns zu Hause eiligst auf die Socken macht. Finnland ist kein schlechter Anfang, um sich etwas abzugucken.
Einen Arzttermin, den ich mit drei Klicks im Internet innerhalb der nächsten Stunde buche für eine von mir gewählte Länge bei einer ausgewählten Ärztin, um dann nach kaum zehn Minuten Wartezeit aufgerufen zu werden?
Ein WLAN-Anschluss an meiner Joggingstrecke, der als Login-Punkt ausgeschrieben ist?
Eine Bibliothek, in der ich Kleider nähen, Kaffee trinken, am 3-D-Drucker selbst entworfene Geburtstagsgeschenke ausdrucken, Computerspiele spielen, Poster gestalten und drucken, auf einer Liegewiese herumlungern, Musik hören und ja, auch Bücher lesen kann und die, für alle frei zugänglich, Wohnzimmer, Arbeitsraum, Treffpunkt, Denkraum, Café, Veranstaltungssaal und Wartezimmer für den Kinderarzt zugleich ist?
Loan, not own lautet das Motto der Zukunft.
Ich glaube, ich träume!
In Deutschland halten Politiker Bibliotheken, solange sie nicht zu Unis gehören, nach wie vor für den Zeitvertreib von Arztgattinnen. Verstaubte, aussterbende Einrichtungen. (Wo doch das Prinzip Arztgattin das ist, was ausstirbt.) Wen wundert es da, dass wir sechs Millionen Leser*innen weniger haben als vor zehn Jahren? Wen wundert es, dass es immer mehr Köpfe mit nichts als braunen Spinnweben darin gibt?
Hier sind Bibliotheken cool. Ein öffentlicher Ort für alle.
Dass Deutsch uncool ist, liegt nicht an der Sprache.
Antje Rávik Strubel
* Übersetzg. Maria Tapaninnen & Nils-Aage Larsson / Antje Rávik Strubel