Jochen Schmidt ist im August/ September für zwei Wochen als Stadtschreiber zu Gast und wird im Goethe-Buchclub aus seinem neuesten Roman „Zuckersand“ lesen und darüber diskutieren.
Während des Aufenthalts in Finnland recherchiert Schmidt u.a. zum Thema Laufen, weshalb er dem Paavo Nurmi-Museum einen Besuch abstatten wird, sowie zu finnischer Architektur.
Jochen Schmidt hat knapp 20 Werke veröffentlicht und ist in vielen Genres zuhause, er hat alles von Reiseführern über journalistische Texte bis hin zu Romanen verfasst.
Seit dem Open-Mike-Preis der Literaturwerkstatt Pankow 1999 hat er zudem zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, wie z.B. 2017 das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung oder 2018 das Arbeitsstipendium für Berliner Autorinnen und Autoren.
Jochen Schmidt war im August/ September 2018 für zwei Wochen als Stadtschreiber zu Gast und hat im Goethe-Buchclub aus seinem neuesten Roman Zuckersand gelesen und darüber diskutiert.
Finnland-Tagebuch
Beim Spazieren in Berlin hatte ich aus einer Bücherkiste, hauptsächlich wegen der sehr guten Fotos, "Nebenan zu Gast" gezogen, einen in der DDR erschienenen Bericht über eine Reise, die im Sommer 1960 stattgefunden und die Autoren mit einem Trabant von Helsinki über das Nordkap, nach Oslo, von dort wieder in den Norden Schwedens und dann über Trelleborg nach Saßnitz geführt hat. Reiseberichte werden, je älter sie sind, für mich immer interessanter, weil das Beschriebene nicht mehr existiert, oder weil es einen amüsiert, was man damals berichtenswert fand. Nicht das Beobachtete ist interessant, sondern daß es beobachtet wurde. Die Autoren werden z.B. im Bericht nicht müde, Härten des Kapitalismus aufzuspüren, man sieht Teppichwäscherinnen am Strand, was als Beispiel für die mangelnde Emanzipation der Frau interpretiert wird.
Sehr mitfühlend wird die Schuhputzerszene am Hauptbahnhof von Helsinki beschrieben, die vorwiegend aus minderjährigen Jungen besteht (heute findet man keine Spur mehr davon).
Im Linnanmäki, einem Hügel und Freizeitpark im Zentrum Helsinkis sehen sie "ein paar Texasboys mit engbehosten Mädchen am Arm" (gemeint sind wohl Jungen, die Jeanshosen tragen, noch bis Anfang der 70er in der DDR ein Politikum.)
Es gibt dort auch eine Tanzdiele, für die man ein Billett kaufen muß, was einen zu einem Tanz berechtigt, zu dem man eines der wartenden Mädchen auffordern kann. Ein Höhepunkt des Freizeitparks ist "eine Schaubude mit den zwölf neuesten Pariser Aktbildern".
Beim Besuch eines modernen Wohnblocks am Stadtrand staunen die Autoren über "die bei uns so vielbegehrten und so seltenen skandinavischen Möbel", die hier in jedem Geschäft zu haben seien. Besonders viel Beifall bekommt die Küche "wo alles, vom Schrank bis zum kleinsten Ablegefach, eingebaut ist. Dabei hat man noch an mehrere Erleichterungen für die Hausfrau gedacht. Das nasse Geschirr kann dort auf Halter gelegt werden und abtropfen." Genau so ein Abtropffach (wie es Margarete Schütte-Lihotzky für die Frankfurter Küche, allerdings aus Italien, übernommen hat), gibt es in der Küche meiner Unterkunft in Helsinki.
Mein erster Einkauf im Supermarkt hat zwei Stunden gedauert, weil ich solche Freude an den vielen, schönen Verpackungen hatte. Ich habe eine Mitarbeiterin gefragt, wo die Butter steht, und sie hat mir in einem Englisch geantwortet, das besser als meines war, nach meinem Eindruck sind die meisten Finnen schon als Jugendliche praktisch zweisprachig. Aus Petersburg, von der Firma "Prisma", stammte dieses Gerät zum Sammeln von Beeren, das ich in Berlin leider nicht brauche.
Und an meine Kindheit haben mich diese "kumikorkki" erinnert, mit denen auf dem Dorf, wo wir immer unsere Ferien verbrachten, die Mostflaschen verschlossen wurden. (Mit dem Chemiebaukasten meiner Cousinen konnte man ein Experiment durchführen, bei dem man eine Flüssigkeit mischte, die so einen "Kumikorkki" zum Knallen brachte.)
Die Firma Fazer (was sich wie Brechts "Fatzer" spricht), wurde 1891 vom Sohn eines Schweizers gegründet, der nach Finnland ausgewandert war. Diese Fazer-Kekse mußte ich schon wegen der schönen Verpackung kaufen.
Nach dem Einkauf stellt man sich mit seinem Kassenbon, auf dem irgendeine glückbringende Zahlenkombination steht, an einen Spielautomaten hinter den Kassen und hofft auf einen Gewinn, aber ich habe das noch nicht gemacht und den Zettel immer gleich weggeworfen, ich will ja nicht spielsüchtig werden.
Besonders hatte ich mich darauf gefreut, in Helsinki laufen zu gehen, da man sehr schnell am Meer ist und es viele Halbinseln gibt, um die Rundwege führen, es gibt sogar einen richtigen Wald in der Stadt, und überall im Stadtbild sieht man Felsen, auf die man natürlich sofort hochklettern will. Ich jogge gerne durch Städte, man kommt weiter als beim Spazierengehen, man trägt praktische Kleidung und Regen macht einem weniger aus. Ich suche mir ein ungefähres Ziel heraus, ändere die Route aber ganz spontan, wenn mich etwas interessiert oder wenn sich ein überraschender Weg anbietet, über eine schmale Treppe, eine Fußgängerbrücke oder durch einen Park. In Helsinki bin ich so vielen anderen Läufern begegnet wie bisher vielleicht nur im New Yorker Central Park, und die andere Hälfte der Bevölkerung scheint gleichzeitig mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. An Kreuzungen zeigt man mit der Hand die Richtung an, um nicht zu kollidieren. (Die Reifen meines Fahrrads, das mir das Goethe-Institut geborgt hatte, machten ein interessantes Geräusch, als würden sie am Asphalt kleben, in ihre Oberfläche waren Metallstifte eingelassen, wahrscheinlich waren sie für den Winter gedacht.) Viel mehr als von auffälligen Gebäuden oder berühmten Straßen wird das Stadtbild für mich immer von Details geprägt, in Helsinki waren es die in den Asphalt gekerbten Rinnen, durch die das Wasser aus den Regenrinnen bis zur Straße fließen soll. Sie sind lang. Und manchmal auch sehr lang.
Außerdem sind vor vielen Hauseingängen Bürsten angebracht, an denen man im Winter seine Schuhe reinigen kann. (Vielleicht, weil es keine Schuhputzerjungen mehr gibt.)
Bei einem Lauf bin ich einer Gruppe Jugendlicher begegnet, die Hüte aus Alufolie trugen, manche von ihnen steckten in grünen Maureroveralls voller Aufnäher. Sie haben mir erklärt, daß sie gestern ihren ersten Tag als Studenten hatten und jetzt verschiedene Dinge tun mußten (z.B. "Alkohol trinken"), um sich weitere "badges" für ihre Hosen zu verdienen. Jede Uni hat Hosen in anderer Farbe. Ich hatte schon gedacht, daß es eine neue Mode sei, man bekommt so etwas ja in meinem Alter nur noch verspätet oder über seine Kinder mit.
Auf einem der Läufe fand ich einen besonders schönen Betonpilz für meine Sammlung. So ein Pilz steht auch vor dem Dessauer Kornhaus, das von einem Bauhaus-Architekten stammt.
Freunde von mir haben die Theorie aufgestellt, daß diese Pilze früher als Schallschutz bei NATO-Flugmanövern gedient haben.
Beim Laufen kam ich auch an einer "Poliklinikka" vorbei, ein Wort, das mir aus meiner Kindheit in der DDR vertraut ist, das aber bei uns nicht mehr benutzt wird, man sagt jetzt "Ärztehaus". Es gab auf dem Gelände auch ein Kinderkrankenhaus, man erkannte es schon an den schönen Eingangstoren aus Metall, die serielle Kindersilhouetten als Ornamente hatten. Auch die Balkonbrüstungen zierten menschlichen Konturen.
Auf dem Dach wurden Gymnastikübungen gemacht.
Rätsel gab mir dieser Gebäudeteil auf, vielleicht ein Bettenhaus? Aber für welchen Ehrengast war wohl der einzelne Balkon ganz oben gedacht?
Beim Laufen in Helsinki fing ich irgendwann an, die vielen Hundeauslaufplätze zu fotografieren, es schien davon mehr zu geben als Spielplätze, manchmal waren sie auch stimmungsvoller angelegt als diese. Da ich über selbstreferentielles Design forsche, also Gegenstände, die sich selbst enthalten, hat mir eine Hundeauslaufplatzbank besonders gefallen, die mit ihrer Form auf ihren Zweck hinwies. Alvar Aalto würde sich sicher im Grab umdrehen, aber solange ich mir seine wundervollen Artek-Möbel nicht leisten kann, muß ich lernen, meinen Frieden mit volkstümlicherem Design zu machen.
Auch im Keskuspuisto-Park, den ich eigentlich als Wald bezeichnen würde, lief ich an Hundeauslaufplätzen vorbei, und wenig später auf einer Lichtung an einer idyllischen Schrebergartenkolonie. In Deutschland scheint mir das zentrale Element des Schrebergartens die Baracke zu sein, die mit den Jahren zu einem Häuschen ausgebaut wird, in dieser Gartenanlage in Helsinki gab es keine Gebäude und schon gar keine Gartenzwerge oder ausrangierte, mit Blumentöpfen dekorierte Fahrräder, wie bei uns, man vertraute der Schönheit der Natur.
Ein Stück weiter entpuppte sich das, was ich von weitem für besonders kleine Beete unter Bäumen gehalten hatte als Waldfriedhof. Es berührte mich, hier so viele Gräber von im Kindesalter Verstorbenen zu finden, manchen Toten hatte man ihr Lieblingsspielzeug aufs Grab gelegt. Oft hatten die Familien, erst nachdem ein Kind verstorben war, wieder ein Kind bekommen, einige Familien waren fünfmal vom Schicksal getroffen worden und hatten es doch immer wieder versucht.
Erst nach einer Weile machte ich mir mit Erleichterung bewußt, daß es sich in Wirklichkeit um einen Tierfriedhof handelte.
Tiere wurden zu einem Leitmotiv meines Helsinki-Aufenthalts, ob es ein glückbringender Elefant über einer Eingangstür war, oder ein wunderschöner, aus Bewehrungsstahl geschweißter Elefant am äußersten Ende der Sompasaari-Insel, wo es zur Zeit noch ein herrliches Brachgelände gibt, das wie eine weit in die Bucht ragt.
Bei der nächtlichen Überfahrt zum Zoo auf dem Korkeasaarenluoto-Inselchen hatte ich auf der Sompasaari-Insel vom Schiff aus in großen Schalen Feuer brennen sehen und vermutet, es handle sich um eine Art Lagerstätte von Obdachlosen oder von Bauarbeitern die aus der Insel ja zur Zeit ein Wohnviertel machen. In Wirklichkeit befand sich neben dem Elefanten eine Selbstbedienungs-Sauna, man konnte hier sogar schwimmen gehen, das Feuer machte dieses unglaubliche Arrangement nur noch stimmungsvoller.
Bis auf ein paar bulgarische Angler genoß bei meinem Besuch am folgenden Tag aber niemand den wundervollen Blick auf Merihaka und den Kohleberg des Hanasaari-Kraftwerks, den man vielleicht irgendwann als Zeugnis des Industriezeitalters unter Denkmalschutz stellen wird. Am äußersten Ende der Sompasaari-Insel ging es sogar noch ein kleines Stück weiter, denn ein Steg führte auf eine vorgelagerte Betoninsel, für die jemand aus einem Skateboard eine Bank gebastelt hatte, ein würdiges Objekt für mein Sammelgebiet "Basteln aus Abfall".
Schon in Verkkosaari war ich auf eine Materialsammlung gestoßen, die sich ein anderer anonymer Bastler für eine größere Bastelarbeit bereitgelegt hatte, was wohl daraus entstehen würde?
Der Fahrradständerkunst, die ich bisher noch nicht gesammelt hatte (was ich aber ab jetzt tun werde) war diese Ameise zuzuschlagen.
Und auch eine seltene Riesenspinne konnte ich fotografieren.
Direkt an einer Schnellstraße befand sich ein Glaskasten mit einer interessanten Fledermausskulptur.
À propos Sammelgebiete. Ich hatte im ersten Beitrag dieses Tagebuchs über die Signatur der Stadt gesprochen, Details, die für mich das Stadtbild prägen, in Helsinki z.B. Regenrinnenkerben im Asphalt und Bürsten für die Schuhe vor Hauseingängen. Hierher gehörten auch die zahlreichen Periskoprohre, die man überall in Helsinki aus dem Boden ragen sieht. Waren es Mülleimer für Zigarettenkippen? Ein vergessenes Rohrpostsystem? Lüftungsschächte? Deren Formen sind oft viel eindrucksvoller als die der offiziellen Kunstwerke im Straßenbild. Aber, wenn es Lüftungsrohre waren, was befand sich dann unter dem Asphalt? Oder hatte es mit dem Winter zu tun, wenn in Helsinki sicher eine zwei Meter hohe Schneedecke lag? Vielleicht konnte man sich dann an diesen Öffnungen seine Schuhe trockenföhnen?
Auch zu den Regenrinnenkerben gab es noch rätselhaftes Material, denn bei einem Ausflug nach Tapiola fand ich Exemplare, die mit kleinen Steinhäufchen versehen waren.
Vielleicht sollten so Gebirgsbäche nachgebildet werden...
Wie erwähnt, bin ich nachts zur Zooinsel gefahren, eigentlich weil mich die Sonderfahrt mit der Fähre reizte, von der ich beim Vorbeilaufen an einem Kiosk erfahren hatte. Heute würde im Zoo die "Night of the cats" stattfinden. Was denn dabei geboten würde? Die Kartenverkäuferin überlegte einen Moment und antwortete schließlich: "Na, Fütterungen und so." Tatsächlich waren an diesem Abend auf der Insel wesentlich mehr Menschen als Tiere anzutreffen, die Tiere zeigten sich an den neugierigen Besuchern allerdings eher uninteressiert, die meisten zogen es vor, in ihren verschiedenen Verstecken zu schlafen. Ich ging über einen Steg auf die Nachbarinsel, ein Schild warnte auf Russisch, daß man hier das Gebiet der Zooinsel verlasse. Plötzlich befand ich mich alleine auf einer Insel, ein alter Kindheitstraum, der Wind strich durch die Baumwipfel, die Wellen schlugen leise ans Ufer, der Mond beschien den Weg, auf dem es mich immer weiter zog, bis ich auf ein großes Haus stieß, dessen Fenster nicht beleuchtet waren. Wer mochte hier wohnen, fragte ich mich, nicht ahnend, daß es sich um das ehemalige Meeresmuseum handelte, im Moment sah dieses Haus eher aus, als sei es aufgegeben worden, weil es darin spukte.
Zurück auf der Zooinsel hatte ich doch noch Glück mit einem Tier, eine 40jährige Faultierfrau mit wunderschönem Haar (wer es ihr wohl bürstet?) saß in ihrem Baum und ließ sich von den Betrachtern nicht stören. Faultiere sind die neuen Einhörner, habe ich anlässlich einer Kinderbuchrezension gelernt.
Eines der größten Rätsel, die diese Tiere der Wissenschaft stellen, ist, warum sie, obwohl sie ihr ganzes Leben im selben Baum verbringen und sogar ihre Kinder dort oben bekommen, ein bis zweimal in der Woche vom Baum steigen, um ihren Darm zu entleeren, wobei sie sich in akute Lebensgefahr bringen.
Neben der Faultierfrau hing eine Schale mit Salat und Gemüse, das appetitlicher aussah als das meiste, was ich mir in Berlin zum Mittagessen leiste.
Allerdings schien es ihr im Moment trotzdem zu anstrengend, etwas davon zu sich zu nehmen.
Zwar gab es im Zoo Hinweise auf die Fütterungszeiten verschiedener Tiere, aber nicht auf die Stuhlgangzeiten der Faultierfrau. Eine Weile wartete ich, ob ich vielleicht Glück hätte, aber da sie währenddessen nur einmal blinzelte, fuhr ich wieder zurück ans Festland, wobei ich die falsche Fähre nahm und statt am Hakaniementori am Kauppatori und damit am anderen Ende der Stadt landete. Es war nicht das erste Mal im Leben, daß ich "auf dem falschen Dampfer" gewesen war.
Da ich zur Zeit ein Buch über das Laufen vorbereite, bin ich mit dem Zug von Helsinki nach Turku gefahren, um mir die Wohnung anzusehen, in der Paavo Nurmi mit seiner Mutter und seinen vielen Geschwistern gelebt hat. Nurmi war vielleicht der erste "totale Athlet" in der Geschichte der Leichtathletik, vor ihm war es noch nicht üblich gewesen, täglich zu trainieren, überhaupt basierte die Trainingslehre eher auf Gerüchten, viele Ärzte waren der Meinung, daß Ausdauersport ungesund sei. Nurmi trainierte systematisch und benutzte beim Laufen eine Stoppuhr, um seine Zwischenzeiten zu kontrollieren und sich auf das Tempo seiner Gegner vorzubereiten. Er hat zudem jedes Mittel genutzt, seinen Körper zu pflegen und zu optimieren. Im Museum lag ein Buch von 1925 aus (Kaila/Toivo: "Paavo Nurmi - Elämä, tulokset ja harjoitusmenetelmät"), in dem Nurmis Trainingsmethoden beschrieben wurden, leider gibt es dieses Buch nur auf Finnisch, so daß mir seine Geheimnisse verschlossen bleiben werden, ich konnte immerhin die Fotos bewundern, auf denen Nurmi bei seinen clownesken Gymnastikübungen zu sehen war.
Vom Mobiliar gefiel mir besonders das Pukkisänky, auf dem Nurmi Dank seiner Dehnübungen schlafen konnte, die Nagelmatte eines Fakirs könnte nicht unbequemer wirken.
Beim Stöbern in einem Antik-Shop im Zentrum Turkus fand ich ein Objekt, nach dem ich schon seit vielen Jahren suche, einen Zuckerstückchengreifer mit Druckmechanismus!
Ich habe so ein Gerät in meinem letzten Roman "Zuckersand" beschrieben, der Held erinnert sich dort daran, wie er sich als Kind mit so einem Greifer bei langweiligen Kaffeerunden die Zeit vertrieben hat. Ich trinke meinen Kaffee zwar ohne Zucker und ich habe noch nie Zuckerwürfel gekauft, aber ich kann den Zuckerwürfelgreifer in Zukunft ja mitnehmen, wenn ich irgendwo zu Kaffee und Kuchen eingeladen bin. Man muß ja nicht immer nur Rauchern Feuer geben, man kann auch Kaffeetrinkern Zuckerstückchen geben.
In einem anderen Antik-Shop hätte ich fast eine Schale mit Blumendekor gekauft, weil sie, wie ich, aus der DDR stammte. Genau genommen handelte es sich um Steingut aus Torgau. Ich nahm aber vom Kauf Abstand, weil ich es eigentlich viel schöner fand, wenn diese Schale in Turku noch eine Weile im Regal stehen würde.
Während in Helsinki Hindernisse für den diesjährigen Tough-Viking-Contest aufgebaut wurden, traf ich mich mit dem Autor und Läufer Karo Hämäläinen, um mich mit ihm über seinen Paavo-Nurmi-Roman zu unterhalten, den es natürlich auch nur auf Finnisch gibt (offenbar möchte man die Geheimnisse der "Fliegenden Finnen" für sich behalten). Ich zeigte ihm das Foto von einer Skulptur, die die Berliner Bildhauerin Renée Sintenis 1926 geschaffen hatte, nachdem Nurmi in Berlin von Otto Peltzer in Weltrekordzeit besiegt worden war. Sofort befanden wir uns in einer Diskussion über Nurmis Laufstil, denn die bekannte Statue von Aaltonen und die Skulptur von Sintenis zeigen Nurmi einmal beim Vorderfuß- und einmal beim Fersenlauf. Wäre er so gelaufen wie bei Sintenis, hätte seine Karriere nicht lange gedauert, er wäre beim Orthopäden gelandet und auch nie so schnell gewesen.
Neben dem Laufen interessierte mich in Helsinki vor allem die Architektur, ich kam auf meinen Laufrunden fast täglich durch Merihaka, weil mich das Viertel faszinierte. Es war der Idealtyp einer Stadtutopie aus dem vorigen Jahrhundert, Autoverkehr im Souterrain, isolierte Wohnblöcke, die Luft, Licht und freie Sicht für alle garantierten, Flachdach und sachlicher Sichtbeton, Ladenzeilen unter Arkadengängen, kleine Piazzas (auf denen sich leider niemand aufhielt, denn daran, aus dem Nichts eine urbane Atmosphäre zu schaffen, sind die Planer der Stadtutopien immer gescheitert.)
Ich fühlte mich an meine Kindheit in der DDR und insbesondere an Halle-Neustadt erinnert, dessen zentrale Hochhäuser von schwedischen Bauarbeitern in der "Halleschen Monolithbauweise" errichtet worden sind (einer Lizenz der "schwedischen Allbetonbauweise") und praktisch baugleich im Zentrum von Stockholm stehen.
Foto: Jochen Schmidt
Merihaka1
Bild: Jochen Schmidt
Merihaka2
Foto: Jochen Schmidt
Merihaka3
Foto: Jochen Schmidt
Halle_Neustadt1
Foto: Jochen Schmidt
Halle_Neustadt2
Foto: Jochen Schmidt
Wer bei der Arbeit pfeift...
Eine andere Wohnutopie stellte für mich die Villa der Didrichsens dar, in der sich das Didrichsen-Museum befindet, wo ich eine Ausstellung zu Svenskt Tenn sah und gerne sofort eingezogen wäre. Bei strahlendem Sonnenschein stieg ich die Stufen im Garten zum Meer hinunter und betrat den Steg, von dem eine Leiter ins Wasser führte. Ich stellte mir vor, hier zu leben und jeden Morgen mit einer Runde Schwimmen zu beginnen, würde ich dann bessere Bücher schreiben? Als dröhnend ein Schnellboot vorbeifuhr, das einen Wasserski-Fahrer hinter sich her zog, war das für mich fast ein bißchen tröstlich, ich mußte nicht allzu neidisch sein, denn wie tragisch wäre es, sich so ein Paradies errichten zu lassen und dann wird vor dem Fenster ständig Wasserski gefahren.
Natürlich habe ich mir auch das Studio und das Wohnhaus von Alvar Aalto in Munkkiniemi angesehen, man spürt in solchen Räumen, wie sich die Nerven entspannen, weil Häßlichkeit keinen Einlaß findet. Das entscheidende Problem des Freiberuflers mit Home-Office, zuhause zu arbeiten, wenn die Familie nicht im Urlaub ist, hat Aalto mit einer beweglichen Stufe gelöst. Vom Wohnzimmer aus sieht das Arbeitszimmer, wenn man die Schiebetüren öffnet, aus wie eine Guckkastenbühne, die Inszenierung sollte Auftraggeber beeindrucken. Um in den Arbeitsbereich zu kommen, muß man die Stufe benutzen, die anschließend weggeräumt werden kann, wodurch für eine unauffällige, aber klare Trennung zwischen den Sphären gesorgt ist.
Der Höhepunkt meiner Architekturexkursionen war allerdings der Besuch in Tapiola mit dem eleganten Kulturzentrum, den Wohnblöcken mitten im Wald, der schmucklos-brutalistischen Kirche und den Wasserspielen am zentralen Platz. Die Moderne hatte hier eine seltene, heitere Eleganz. Spätestens jetzt war meine Finnland-Euphorie so groß, daß ich spontan eingewandert wäre (auch um Finnisch zu lernen, und die Bücher über Nurmis Trainingsmethoden zu lesen.) Im Brunnenbecken drehten sich große Schaum-Makronen und warteten auf einen Lyriker, der über das Bild ein Gedicht hätte schreiben können.
Ein anderes Gedicht hätte man über diese luftgefüllte Tüte schreiben können, die im Zentrum von Helsinki aus einem Kellerfenster ragte.
Ein kleiner Gruß an meinen Kollegen David Wagner, der einen Roman über das Einkaufen im Supermarkt geschrieben hat ("Vier Äpfel"), soll dieses Fotos von einer Obst- und Gemüsewaage aus dem S-Market im kreisrunden Ympyrätalo-Gebäude sein, welche Nummer steht hier wohl für Bananen?
Auch ohne im Regal nachzusehen, kann man sich denken, daß es die Nummer 121 ist, denn die ist am schmutzigsten, weil sie am häufigsten berührt wird. (Bei uns sind Bananen immer links oben bei der 1 zu finden, damit man nicht suchen muß.)
An einem Wochenende war ich im Kesselhaus zur Comic-Messe, schon vor dem Gebäude überraschte mich ein fahrtüchtiger Barkas, ein Minibus aus der DDR, der von Robur in Zittau hergestellt worden ist, er diente als Krankenwagen und als Polizeiwagen, er wurde aber auch privat genutzt. (Einem anderen Robur-Fahrzeug, dem LO, war ich bei einer Reise nach Bulgarien wiederbegegnet, in der seltenen Version mit Kranaufsatz)
Auf der Comic-Messe entdeckte ich Faltblätter, die 1970 von Gillette Italy herausgegeben und auch auf Finnisch vertrieben worden waren. Es handelte sich um Panoramen zu verschiedenen abenteuerlichen Themen, wie "Erforschung des Weltraums" ("Wir sind im Jahr 2078. Die Menschheit beherrscht den Weltraum und erweitert die Grenzen ihrer Macht" oder "Raumstation in Gefahr"). Der Clou ist, daß die Menschen, die die Panoramen bevölkern sollen, in Form von Rubbelbildern mitgeliefert worden sind, man konnte die Szenerie also selbst gestalten. In der Anleitung heißt es: "Kalkitos-Rubbelbilder sind ein neuartiges, aufregendes Spiel. Du kannst deine bevorzugten Abenteuer selber gestalten. Oder du kannst beim Gestalten lustiger Szenen deine Freunde zum Lachen bringen. Erzähle doch auch deinen Freunden von den Kalkitos-Rubbel-Bilder-Spielen".
Foto: Jochen Schmidt
Barkas
Bild: Jochen Schmidt
Raketen
Foto: Jochen Schmidt
Raumstation
Wenn ich hier jeden Tag so viele schöne Dinge entdeckte, lag der traurige Umkehrschluß nahe: wieviele schöne Dinge würde ich verpassen, wenn ich wieder nachhause fuhr? Mehr und mehr Gründe hatte ich, für immer in Helsinki zu bleiben, ich brauchte nur ein Haus mit Garten in Munkkiniemi, eine Villa am Meer, wie die der Didrichsens, eine Wohnung im zwanzigsten Stock in Merihaka mit Blick auf die Ostsee, ein Märchen-Holzhaus auf Seurasaari. Oder ich könnte mir diesen herrlichen Silo im Hafen von Hernesaari, der Le Corbusier zum Träumen gebracht hätte, zum Townhouse umbauen lassen.
Aber bei einem Besuch im Kiasma, wo ich in einer Grayson-Perry-Ausstellung zum Fan dieses Künstlers wurde, erinnerte mich eine Reihe zusammen geklappter Stühle höflich daran, daß zuhause meine Familie auf mich wartete.