25.10.2017
PISA liegt in Finnland
Finnland sieht gut aus. Im Herbst und in PISA zum Beispiel, während derselbe Herbst in Deutschland mal wieder ans Licht bringt, dass Viertklässler alt aussehen. Sie können schlecht schreiben, schlecht lesen, schlecht rechnen. Nun ja, im Durchschnitt, aber PISA spricht ja auch statistisch. Grund genug, der Legende nachzugehen, das finnische Schulsystem sei dem der DDR abgekupfert worden, dachte ich mir, und verbrachte einen Tag mit einer 8. Klasse der Tampereen yliopiston normaalikoulu, der University of Tampere Teacher Training School. Die englische Website sagt, dass dort angehende Lehrer in bestens strukturierter Art und Weise ihre Ausbildung vervollkommnen können, die Schule aber ansonsten den Status der Unabhängigkeit innehabe.
Ich treffe mich vor der Aula mit Kirsi, einer Deutschlehrerin, die mich über die grundlegende Ausrichtung des finnischen Schulsystems aufklärt. In dem Jahr, in dem Kinder sechs Jahre alt werden, besuchen sie die Vorschule, um ein Jahr später ihre neunjährige Gesamtschulausbildung zu beginnen. Keine frühzeitige Selektion also. Das klingt schon ein bisschen nach DDR, in der die große Mehrzahl der Kinder zehn Jahre lang gemeinsam zur Schule ging. Und in der es neben der Polytechnischen Oberschule bis zum Beginn der neunten Klasse keine andere Schulform gab, wenn man von einigen Sport-, Chemie- oder Musik-Spezialschulen absieht, die sich, mit exklusivem Zugang, der Hochbegabtenförderung verschrieben hatten. In Finnland gibt es aber doch auch Waldorfschulen? Ja, sagt Kirsi, das sind die einzigen nichtstaatlichen, stiftungsgetragenen Schulen, die jedoch ebenso schulgeldfrei sind, denn in Finnland dürfe Schulbildung nichts kosten. Wie auch das Schulessen nichts kostet, das die Kinder in jeder Schule bekommen.
Kirsi erzählt, dass in Finnland sehr viele junge Leute bis zum Abitur die Schule besuchen, das sie mit 19 Jahren ablegen. Wer will, kann es wiederholen, wenn er sich bessere Ergebnisse verspricht. In der DDR wäre beides undenkbar gewesen.
Ich werde abgegeben zum Mathematikunterricht. Vor der Tür kurzer, schmerzloser Handschlag mit der Lehrerin, die namenlos bleibt. Vor der Klasse dann kein Wort (über mich). Ich setze mich nach hinten in eine einzeln stehende Schülerbank und bemerke keine Begrüßung, die Schüler lümmeln herum. Es geht einfach los.
Uns begrüßten die Lehrer damals in den ersten sieben Schuljahren mit „Seid bereit!“, dem sogenannten Pioniergruß, worauf wir die Hand senkrecht über den Kopf zu stellen und „Immer bereit!“ zurückzubrüllen hatten. Allerdings gab es auch Lehrer, die darauf verzichteten und „Guten Tag!“ sagten, was wir dann chorisch beantworteten. Ab dem achten Schuljahr wurde der Pioniergruß durch den der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, ersetzt, und der lautete einfach: „Freundschaft!“
Unter den 20 anwesenden Köpfen mache ich nur drei männliche aus. Mehr als ein Drittel trägt Kopfhörer, In-Ohr- wie Über-Ohr-Geräte, die Smartphones dazu liegen auf den Tischen. Stark und kollegial zugleich, beginnt die Lehrerin sofort, die Tafel vorzubereiten für das Vortragen der Hausaufgaben. Zwei Mädchen melden sich dafür. Jupp, es geht um Bi- und Polynome in Addition und Multiplikation! Das sitzt bei mir noch so fest, dass ein Blick auf die Aufgabe genügt, um die Lösung zu haben. Wie viele Jahre habe ich das nicht mehr gemacht?
Nach kurzer Erklärung werden Aufgaben aus dem Lehrbuch gestellt, die Schüler beginnen zu arbeiten. Mich hat man noch immer nicht registriert. Ich staune. Worüber?
- Es gibt ein deutliches Grundgrummeln in der Klasse, ist keinesfalls ruhig. Wer will steht auf und geht zum Spiegel, um sich einen Pickel auszudrücken. Die Lehrerin registriert das nicht, sondern bleibt beim Stoff, wie es auch die Schüler tun. Wer sich einen Pickel ausgedrückt hat, setzt sich nämlich wieder hin und rechnet weiter. Unterdessen geht Frau Namenlos von Bank zu Bank, lässt sich mal nieder, bleibt mal stehen und spricht und erklärt. Alles mit großer Zugewandtheit und haltbarer Distanz zugleich, was mich beeindruckt.
- Ein Mädchen legt sich zum Rechnen auf den Boden an die hintere Wand. Dort bleibt sie auch liegen, als sie fertig ist. Die Lehrerin geht in die Knie und erläutert, man hat nicht den Eindruck, dass das Mädchen sich absondern oder verweigern will. Man ist offenbar zufrieden mit ihr. Sie meldet sich regelmäßig aus ihrer für mich doch besonderen Lage…
- Ein merkwürdig distanziertes Interesse liegt in der Luft. Bei zwei, drei Schülern habe ich das Gefühl, dass sie gut und besser sein wollen, sie reden weniger, melden sich etwas häufiger, kommen aber nicht öfter dran. Bei den anderen scheint es, als wüssten sie schon, dass Mathematik nicht ganz oben auf der Skala ihrer Wunschfähigkeiten liegt, aber stoisch arbeiten sie ab, was sie nicht ändern können. Vor allem nicht ändern wollen, denn dass sie das absolvieren müssen, scheint ihnen vollkommen klar zu sein. Mit vierzehn Jahren? Ich sagte ja schon: Ich staune.
Nach einer frühen Mittagspause dann Englisch. Die Lehrerin erzählte mir vor dem Unterricht, dass sie nicht jene Person sei, die regulär unterrichte, sondern sie bereite die Schüler auf ein morgiges Examen vor. Sie müssen aufstehen und sie im Chor begrüßen. Aha, also doch… Die Frau ist von anderem Schlag, jünger, unerfahrener, zurückhaltender, jedoch führt das zu keinerlei Aufmupf unter den Achtklässlern. Spiele für Vierergruppen hat sie sich ausgedacht. Auf fünf Inseln im Raum wird nun für jeweils fünfzehn Minuten geknobelt, dann gewechselt. Es ist laut, man springt auf, führt etwas vor, wofür die anderen den englischen Begriff zu finden haben, rennt mit großen Schritte durch den Raum, oder man würfelt und lacht überaus laut. Jeder macht mit. Wiederum nicht etwa in (schein)begeisterter Weise, sondern man nimmt sich einfach, was an Spaß zu haben ist. An Bewegungsmangel ist nicht zu denken. Mein Co-Hospitant wird ebenso wenig wahrgenommen wie ich: ein junger Mann, ein Student?, mit merkwürdig steifem Dauergrinsen und linkischen Bewegungen, der von Tisch zu Tisch geht, zuschaut, notiert, aber kein Wort mit den Schülern wechselt.
Nach dem Unterricht verschwindet er ebenso lautlos wie ich, die ich nun zum Zirkus unterwegs bin. „Meine“ Klasse ist nämlich eine Zirkusklasse, der Unterricht dort gehört zum regulären Programm. Einen halben Kilometer entfernt, im Sorin Sirkus, findet er statt, und er begeistert mich in seiner so unaufgeregten und selbstverständlichen Art. Zu Beginn führen zwei wohl professionelle Damen eine Artistiknummer mit großem Holzkasten vor, der zwischen ihnen herumwirbelt und den sie in verschiedenen Schlangenmenschpositionen besetzen. Beide Frauen entsprechen nicht der gängigen Vorstellung kleiner, zerbrechlicher, biegsamer Artistinnen, eine von ihnen ist nicht einmal als schlank zu bezeichnen.
Ich erinnere mich plötzlich eines erstaunten Ausrufes meiner Sportlehrerin nach einer sogenannten Bodenkür im Turnunterricht: „Schmidt, Schmidt“, sprach sie anerkennend, „fett, aber gelenkig!“, als ich sowohl Hand- als auch Kopfstand und Rad anstandslos gemeistert und mit einem perfekten Spagat geendet hatte…
Dieses Duo ist ungleich stärker, gelenkiger und geschmeidiger, als ich es je hätte sein können, und es bekommt Applaus. Ein gemeinsamer Tanz der Schüler zu lauter Musik folgt, der sie wohl aufwärmen soll, denn danach zerlegt sich die Gruppe in völlig freiwillig zusammengesetzt wirkende Untergruppen. Einzelne fahren auch Einrad oder jonglieren mit mehreren Bällen, klettern an Seilen empor, die sie gekonnt und die Füße wickeln und so immer höher hinauf gelangen, wo sie kunstvolle Gebilde aus ihren Armen und Beinen formen.
Zwei sitzen die ganze Zeit über relativ untätig an einem CD-Player, spotify ist das einzige Wort, das ich verstehe. Eine Gruppe hat sich dem Salto auf dem Boden verschrieben. Alle können ihn aus dem Effeff, nur eines der Mädchen hinkt nach, schafft ihn aber nach vielen erfolglosen Anläufen schließlich, was die ganze Truppe mit lautstarkem Beifall quittiert. Völlig im Hintergrund: die beiden Lehrer, ein Mann und eine Frau, die nur etwas sagen, wenn sie angesprochen werden.
Nach erstaunlicherweise wohl für niemanden anstrengenden sechs Schulstunden, in der nicht eine Ermahnung ausgesprochen wurde, bleibt mein Fazit: Die Struktur des finnischen Bildungswesens mag dem der DDR tatsächlich ähnlich sein. Was fehlt, ist ideologische Zurichtung, Strenge und soldatisch zu nennende Disziplin, die wir allerdings durch sehr heftige Streiche und Ausfälligkeiten, die heute zu Schulverweisen in deutschen Schulen führten, zu durchbrechen wussten. In unserer erweiterten Oberschule, dem DDR-Gymnasium, war es zum Beispiel Tradition, dass die jeweils 11. Klassen am jeweils 11.11. um 11:11 Uhr einen Appell auszurichten hatten, bei dem er hoch herging. Jungen wurden aus den Internatsfenstern der Mädchen befördert, deren BHs an langen Leinen quer über den Schulhof aufgehängt wurden. Büttenreden. Faschingstanz. In jenem Jahr, als ich die 11. Klasse besuchte, wurde damit zu brechen versucht, der Appell abgesagt. Was taten wir? Kamen verkleidet und geschminkt zum Unterricht, erwiderten das „Freundschaft!“ des Lehrers zu Unterrichtsbeginn geschlossen und lautstark mit „Feindschaft!“, setzten uns verkehrt herum auf unsere Stühle und waren fortan immun gegen Unterrichtsversuche. Unsere Immunität musste so stark gewesen sein, dass der Appell im kommenden Schuljahr wieder stattfand…
Ystävyys!