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Der Widerstand der Lyrik gegen die künstliche Intelligenz
Die Maschine steht still

Cartoon of Robot and painting by Philippos Vassiliades
© Philippos Vassiliades | CC-BY-SA

Von Will Stone

Der bahnbrechende Gedichtband Poems of Paul Celan (Anvil Press, 1988) des Lyrikers und Übersetzers Michael Hamburger enthält mit dem Text On Translating Celan einen wertvollen Einblick in seine Arbeitsweise. Er beginnt mit der folgenden Feststellung: „die Übersetzung von Gedichten beinhaltet zwei unterschiedliche Funktionen und Prozesse, die ich der Einfachheit halber Lesen und Schreiben nenne. Mit Lesen meine ich alles, was mit der Aufnahme des Originaltextes zu tun hat, vom rein intuitiven Erfassen seines strukturellen Wesens bis zu einer bewussteren Auseinandersetzung mit möglichen Problemen in der Semantik oder Bezugnahme. Mit Schreiben meine ich die Fähigkeit, den Text in einer anderen Sprache wiederzugeben.“ (Zitat übersetzt von Susanne Mattern) Weiterhin erklärt er, dass es in den ständigen Debatten um die literarische Übersetzung fast jedesmal um diese „Gratwanderung“ zwischen zwei Disziplinen geht und wie diese vom Individualismus der Autor*innen und Übersetzer*innen sowie von den Wellen und Strömungen der Geschichte geprägt wurden. Die Übersetzung von Lyrik bedeutet also viel mehr als lediglich die Suche nach dem richtigen Wortsinn. Die Maschine steht vor einem Berg, und die Hänge bestehen aus instabilem Geröll.
 
Das Lesen und Schreiben als kreative Tätigkeiten sind somit die Hauptschlagadern für die Übersetzung von Lyrik, durch die das künstlerische Potenzial des Originals erweitert wird. Im Gewebe menschlicher Errungenschaften in der Geschichte, Literatur und Kunst sind sie im Lauf der Jahrtausende als stärkste Fäden zu erkennen. Selbst wenn eine Maschine diese menschliche Geistesleistung irgendwie als „Information“ aufnehmen und auswerten könnte, kann sie dies niemals auf authentische oder überzeugende Weise tun. Dies liegt an den endlosen Launen, Drehungen und Wendungen, Umwegen und Sackgassen der ganz und gar menschlichen Bahnen, die im individuellen Gehirn der menschlichen Übersetzer*innen zusammenlaufen, wenn sie, in welcher Epoche auch immer, über ihren Schreibtisch gebeugt sitzen. Diese Bahnen enthalten unweigerlich auch Querschüsse namens Zufall, Absurdität und das noch wichtigere heldenhafte Versagen, eine wertvolle Eigenschaft des Menschen in der Kulturentwicklung, die aber von der Technologie nur binär behandelt wird als eine Sache, die überwunden und nicht zelebriert werden soll.
 
Untersucht man die Möglichkeit, dass die Neural Machine Translation (NMT) die Kunst der Lyrikübersetzung meistern könnte, stellt sich in jedem Fall sicherlich die Grundsatzfrage, ob sie wie heute lediglich als Werkzeug für die menschliche Literaturübersetzung dienen oder ob sie sie ersetzen soll, ein Schreckensszenario für die Zukunft. Wohlmeinende und fähige Akademiker*innen und Wissenschaftler*innen im Bereich Translationswissenschaft drücken sich meist elegant vor diesem apokalyptischen Thema und verlieren sich entweder in der technologischen Raffinesse der NMT oder konzentrieren sich auf das Positive im Sinne der möglichen Unterstützung, die die NMT leisten kann, wie ein Cyborg-Lehrling mit geheimen Ambitionen, der noch den Meister für die Korrektur seiner Rohfassungen braucht. Bisher fehlen ihm die Feinheiten des meisterlichen Pinselstrichs, aber er lernt dazu…
 
Die literarische Übersetzung ist ein Schöpfungsakt, Übersetzer*innen sind tatsächlich Schriftsteller*innen und keine beladenen Lastesel, die Wörter zwischen den Sprachen hin- und hertragen. Da die Übersetzung jedoch auch ein Akt des „Umschreibens“ und der Kunstfertigkeit im Nachgang ist und da sie einen realen Sprachaustausch erfordert, ist sie der Maschine gegenüber sehr viel wehrloser. Sie besitzt nicht dieses Gefühl der Unantastbarkeit, diese königliche Aura, die das Originalwerk umgibt. Zudem ist die literarische Übersetzung zwar ein vielbegangener Knotenpunkt, aber doch eine temporäre Konstruktion, die neu gestaltet werden kann. Sie ist auf eine Art verletzlich, wie es das Original nicht ist. Eine literarische Übersetzung lässt das Original leben und gedeihen, sie zeigt den Weg, doch müssen die Führer*innen mit dem Gebiet zwischen den Sprachen vertraut sein. Sie müssen den Weg schon einmal gegangen sein, und die Geführten müssen Vertrauen in die Führenden haben. Die Maschine mag in der Lage sein, die Landschaft abzusuchen und die Topografie zu bewerten, aber sie ist den Weg nicht selbst gegangen, sie hat die Landschaft nicht mit all ihren Sinnen erspürt, hat den Klang des Wortes nicht erfasst, nicht darüber nachgedacht, sie kann den Klang nicht mit einem realen  Ohr beurteilen und auch die Resonanz der menschlichen Stimmbänder bei einer Lesung nicht rekonstruieren. Manche Stimmen mögen behaupten, dass das keine Rolle spielt, aber die Lyrik steht und fällt mit ihrer Musik auf eine Weise, wie es die meiste moderne Prosa nicht tut.
 
Vielleicht kann nur die Lyrik mit ihrem Schattenspiel zwischen den Sprachen die NMT an einen toten Punkt bringen, die Prosa ist bereits erobertes Gebiet. Wie Zugvögel, die sich an ihre Flugstrecken erinnern, erkennt die NMT Wort- und Satzmuster und speichert sie. Aber die Lyrik ist leichtfüßig, scheu, ungeregelt, es wird mehr in weniger Raum gepresst, die machtvolle Bildvision erhebt sich aus einer verhaltenen, doch präzise gestalteten Sprache. In der Lyrik muss die Sprache auf wenig Raum sehr viel mehr leisten. Die Risiken sind größer. Ich habe Erfahrung mit der Übersetzung von Prosa wie auch Lyrik. Die Prosa ist normalerweise eine Abfolge von Sätzen unterschiedlicher Länge mit einheitlicher Interpunktion, die außer bei Thomas Bernhard in passenden Pausenabständen zu Absätzen und dann Kapiteln werden. Ein Satz Prosa hat einen Anfang und ein Ende, und zwischen diesen beiden Klammern finden Beschreibung, Inszenierung und Handlung statt. Die Maschine lernt. Aber bei der Lyrik gibt es keine richtigen Sätze, die Absicht ist unklar, der Inhalt zweideutig und Einordnungen sind eigentümlich. Gedichte sind wie Pflanzen, die den ihnen zugedachten Raum nicht ausfüllen, sondern lieber für sich bleiben, sie sind Einsiedler, fernab von den weiten Prärien der Prosatexte, über die Tausende von Hufen donnern. Gedichte bringen Entschleunigung, die Reflexion steht an erster Stelle, der Geist muss sich nach innen richten, gewissermaßen weg von der Sprache und hin zum Bild, zum Bildhaften. Die Lyrik mit ihren kürzeren Zeilen, die unregelmäßig abbrechen können, dem ihrer Form eigenen exzentrischen Aufbau und Mangel an Konformität, dem Übergewicht an Bildern, Visionen, ungezügelten Metaphern, dem Wechsel zwischen Symbolismus und Realität innerhalb eines Gedichts, ja sogar innerhalb einer Gedichtzeile muss der Technologie doch sicherlich ein Bein stellen. Die Fähigkeit, das Ganze und nicht nur wie durch eine schmale Blende einzelne Zeilen zu sehen, beeinflusst die Textentscheidung menschlicher Übersetzer*innen. Die Maschine mag fleißig das Feld Gedichtübersetzung abernten und ihre Berechnungen in einer Nanosekunde anstellen, kann aber die Ernte niemals ganz einfahren. Selbst Dichter*innen und spätere Leser*innen ihrer Arbeiten haben manchmal Schwierigkeiten, in die erste Wahrheitsebene einzusteigen, da sich das Gedicht in verschiedenen Kulturen ständig neu gestaltet und Interpretationen höchst willkommen sind.
 
In Die Aufgabe des Übersetzers*, einem überaus wertvollen Text aus dem Jahr 1923, schreibt Walter Benjamin: „die Aufgabe des Übersetzers... besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird.“ Ein Echo, kein Spiegelbild. Danach spricht sich Benjamin dafür aus, dass nicht die literarischen Werke selbst, sondern ihre Übersetzungen letztendlich die Sprache der Wahrheit sind, er schlägt eine dritte Sprache vor, die über den beiden anderen schwebt, die Übersetzung besetzt das Original neu oder „belebt“ es, so dass die Sprachen „selbst miteinander, ergänzt und versöhnt in der Art ihres Meinens, übereinkommen.“ Für Benjamin ist die Übersetzung die große Vereinigung, Erweiterung, Harmonisierung, Verwahrstätte und Hüterin einzelner Sprachen. „Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.“ Aber die neuronale Maschine wandert ewig im Bergwald der Sprache, irrt im Labyrinth der Möglichkeiten umher, ohne das Ziel, den genauesten Sinn zu finden, aufgeben zu können, in Unkenntnis des erhabenen Wesens, das Benjamin versucht in Worte zu fassen.   
 
Für den Vergleich Mensch gegen Maschine ist das nachfolgende Gedicht ein vielleicht praxisnäheres, wenn auch unzulängliches Beispiel. Die Übersetzung stammt von mir und gehört zur Reihe Poems to Night von Rainer Maria Rilke (Pushkin Press, 2020). Darunter steht die verfügbare Version von Google Translate. Obwohl die Maschine den Sinn der Zeilen eindrucksvoll zu erfassen scheint, kann sie nicht die stylistischen Kompetenzen nutzen, die Übersetzer*innen von Lyrik üblicherweise anwenden, z.B. Alliteration, Assonanz, unreine Reime, Endreime usw. Mit diesen Mitteln können Übersetzer*innen die Verluste ausgleichen, die unweigerlich durch die Herausforderung entstehen, den Rhythmus, den Klang oder die Melodie des Originals, wie man es auch nennen will, zu übertragen. Definiert sind diese durch dessen semantische Struktur, dessen formales Reimschema, also der Originalsprache eigene Elemente innerhalb der Gedichtstruktur, beeinflusst durch die Stilentscheidungen von Autor*innen und durch die Epoche, in der sie lebten. Solche Methoden für die Umstrukturierung werden aber besser nicht als spezifische „Werkzeuge“ eingesetzt, sondern als unbewusste Elemente beim Verfassen des „neuen“ Gedichts, weshalb die eigene Arbeit als Dichter*in von großem Vorteil, aber keine Voraussetzung ist. Sie sollten sanft angestoßen, aber nicht erzwungen werden.
 
Gleich in der ersten Zeile ist das deutsche Wort „verschwendeter“ problematisch, denn dieses kann verschiedene verwandte Bedeutungen haben, unter anderem „wasted“ (vergeudet), die Wahl der Maschine, und „squandered“ (verspielt), die Wahl des Menschen. Obwohl „wasted stars“ auf den ersten Blick verlockend erscheint, entschied ich mich für „squandered“, denn nach meinem Empfinden wollte der Dichter andeuten, dass der menschliche Betrachter sie nicht gewürdigt hatte (dies erfahren wir im weiteren Verlauf des Gedichts). Damit hatte er sie tatsächlich „vergeudet“, aber „wasted“ hat natürlich noch eine andere Konnotation, nämlich dass sie sterben, ihrer Kraft beraubt, so dass wir fälschlicherweise in Richtung des fallenden, sterbenden Sterns  geraten, aber das sehe ich hier nicht. Ein weiteres Argument für „squandered“ ist die alliterative Verbindung mit „skies“, „stars“ und „splendour“ in der nächsten Zeile. Obwohl Rilkes Gedicht nicht übermäßig viele Binnenreime besitzt, ob End- oder andere Reime, haben wir „Kümmernis“ und „Antlitz“, „Weine“ und „weinenden“, „greifend“ und „hinreißend“. „Space“ und „face“ bieten gewisse Möglichkeiten, aber abgesehen davon waren Maschine wie Mensch in Verlegenheit, diese Klänge mit den im jeweiligen Bedeutungsbereich verfügbaren englischen Wörtern wiederzugeben. An welchem Punkt sollen Übersetzer*innen einen Bruch mit der Sinnkontur von Rilkes bildlichem Ausdruck riskieren, um ein klanglich „respektvolleres“ Echo zu schaffen?
 

Überfließende Himmel verschwendeter Sterne
prachten über der Kümmernis. Statt in die Kissen, 
weine hinauf. Hier, an dem weinenden schon, 
an dem endenden Antlitz, 
um sich greifend, beginnt der hin-
reißende Weltraum. Wer unterbricht, 
wenn du dort hin drängst, 
die Strömung? Keiner. Es sei denn, 
daß du plötzlich ringst mit der gewaltigen Richtung 
jener Gestirne nach dir. Atme. 
Atme das Dunkel der Erde und wieder 
aufschau! Wieder. Leicht und gesichtlos, 
lehnt sich von oben Tiefe dir an. Das gelöste 
nachtenthaltne Gesicht gibt dem deinigen Raum.
 
Overflowing skies of squandered stars
Splendour over grievance. Rather than into pillows
Weep upwards. Here, at the weeping,
At the ending face,
Proliferating, begins
The enraptured world space. Who will interrupt,
If you thrust that way,
The flow? No-one. Unless
You suddenly wrestle with the epic course
Of those stars approaching you. Breathe.
Breathe the darkness of the earth, and again
look up! Again. Light and faceless,
the depth leans in on you from high. In contained night
the dispersed face grants you space.

(Version von Google Translate folgt:)
 
Overflowing skies of wasted stars
glorious over sorrow. Instead of the pillows
cry up. Here, on the one who is crying,
on the ending face,
reaching around, the
torrential space. Who interrupts
if you push there,
the current? None. Unless,
that you suddenly struggle with the mighty direction
those stars after you. Breathe.
Breathe the darkness of the earth and again
look up! Again. Light and faceless,
leans against you from above depth. The solved
Night-free face gives your space.

Ergriffen vom Werk, wollen die meisten menschlichen Lyrikübersetzer*innen durch ihre Übersetzung zu einer tieferen Deutung des Textes gelangen. Der Übersetzungsakt erscheint schicksalhaft, sogar essenziell. Damit die Maschine Lyrik übersetzen kann, die von einem Menschen geschaffen und dann von einem anderen Menschen gelesen wird, dessen Hirnsubstanz, Organe und sterbliche Vorfahren gleichwertig sind, müsste sie gewissermaßen uns alle gekannt und jede einzelne unserer möglichen Äußerungen in der gesamten Menschheitsgeschichte aufgezeichnet haben, bevor sie eine lexikalische Entscheidung trifft, denn erst dann kann sie wirklich alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben, erst dann kann sie für würdig erachtet werden, ein/e menschliche/r Übersetzer*in dieses Gedichts in Maschinengestalt zu sein. Ist sie dazu nicht in der Lage, dann muss die Maschine stillstehen, denn ein authentisches Gedicht eines großen Lyrikers ist die dichteste und kostbarste Kunstform, voller unsichtbarer Tiefen, ein aus der Zeit gegriffener Moment, ihres unaufhaltsamen Verlaufs enthoben, der nach ihrem Scheiden dann in den so entstandenen Raum ausstrahlen kann. Wissenschaft und Technologie bewegen sich immerfort in die gleiche Richtung. Das Gedicht unterwandert die Realität und entrückt uns wenigstens zeitweise ihrer betäubenden Wirkung. Die letzte Bastion der Lyrik kann durchaus der Traum sein. Und meines Wissens träumen Maschinen nicht, jedenfalls noch nicht.

 

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