Recalculating the Route
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Kaum ein anderes Thema spaltet die politischen Diskussionen in Europa derzeit so wie der Brexit. Während sein Ausgang immer noch unklar ist, betont das Goethe-Institut London mit der Veranstaltungsreihe „Europe Actually“ die Bedeutung des europäischen Gemeinschaftsgefühls. In der öffentlichen Debatte „Recalculating the Route“ wurde der Brexit aus neuen Perspektiven beleuchtet. Zentrale Ergebnisse der Diskussion werden vom 19. bis 21. Juni in Weimar auf dem internationalen Kultursymposium des Goethe-Instituts präsentiert.
Einen Schritt vom Brexit zurücktreten, seine Ursachen und Wirkungen in einen größeren Kontext setzen: Darum ging es in einer von Emma McFarland geleiteten Veranstaltung des Goethe-Instituts London. Dabei wurden überraschende Verbindungen hergestellt zu Psychologie, Wirtschaft, Ökologie und den sozialen Kräften, die unsere Gesellschaft formen. Internationale Expertinnen und Experten gaben Impulsvorträge, die in kleinen Teilnehmergruppen informell diskutiert wurden.
Die Psychologie eines Ausstiegs
Wie sehr der Brexit die Psyche der Nation jetzt schon beeinflusst, zeigte die Psychotherapeutin Susie Orbach, die mit sozialkritischen Schriften wie „Fat is a Feminist Issue“ (1978) und „Bodies“ (2009) weltberühmt wurde. Sie verglich die Zumutungen des Brexit mit einer Scheidung. Dabei lernen wir – und die Briten –Dinge, die wir über das Land nicht wussten, müssen dessen Spaltung zur Kenntnis nehmen und die Zunahme eines an die Oberfläche gespülten Rassismus. Es geht auch darum, Verzweiflung, Aggressionen und Verrat zu ertragen und Politiker und Politikerinnen, die den Wählerinnen und Wählern das Recht vorenthalten, ihre Meinung zu ändern, es aber selbst dauernd tun. „Die Politik ist demaskiert wie nie zuvor“, resümierte Orbach. „Die politische Führung setzt sich nicht für das Wohl des Landes ein, sondern für parteiinterne Interessen.“ Neben den Gefühlen von Wut und Verwirrung entstehe auch ein Bedürfnis, den Prozess abzuschließen, trauern und heilen zu können. Sudhanshu Swaroop, der sich als Anwalt mit internationalem Recht befasst, erinnerte in seinem Vortrag daran, dass der Brexit so viele politische und soziale Energien des Landes bindet, dass andere große Themen zu kurz kommen. So etwa der Klimawandel: „Das ist das Musterbeispiel eines Problems, das sofortiges Handeln erfordert.“ Dabei gebe es ein Zeitfenster von rund zwölf Jahren. „Mag sein, dass es einen Plan B für unsere Premierministerin gibt“, sagte er. „Aber es gibt keinen Planeten B.“Durch den Brexit kämen andere Themen wie der Klimawandel zu kurz, erinnert Sudhanshu Swaroop in seinem Impulsvortrag | Foto: Rupert Hitchcox
Kidnapping der Brexit-Kampagne
In den Arbeitsgruppen um Ghislaine Boddington, die ein interaktives kreatives Design-Kollektiv leitet, ging es um Fragen der Identität: Wie definieren wir die eigene Identität in Zeiten des Brexit? Und wie hat sich das Verhältnis der Nation zu „den anderen“ verändert? „Wir reden auch für unsere Enkel darüber“, erklärte Boddington. Es war sicher kein Zufall, dass fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „Europe Actually“ in England ansässige Nicht-Briten aus aller Welt waren, von den Niederlanden bis Israel. Sie alle betrifft der Brexit mit seinen Unsicherheiten auf besondere Weise. Jacob Davey, Research Manager am Institut für Strategischen Dialog, riss an, wie rechts- und linksradikale Gruppierungen sich dieses politische Thema für ihre eigenen Zwecke zunutze machten. Davey sprach dabei vom „campaign hijacking“, vom Kidnapping der Brexit-Kampagne, und erklärte, wie dadurch radikales Gedankengut in den Mainstream gelangte und gesellschaftsfähig wurde.Arbeitsgruppe mit internationalen Expertinnen und Experten | Foto: Rupert Hitchcox