Juni 2021
Maike Wetzel: Elly
Wenn Du Ian McEwans Roman Ein Kind zur Zeit gern gelesen hast, empfehlen wir Maike Wetzels Elly.
Generell erwarten wir oft, dass Romane sich mit dramatischen Geschehnissen und der Zeit unmittelbar danach auseinandersetzen. Krimis und Thriller laden die Leserin ein, den Pfad eines Kriminalfalls oder eines Mysteriums zu verfolgen, während die Ereignisse noch frisch sind und die Emotionen hochkochen. Ian McEwans Roman Ein Kind zur Zeit (der verfilmt wurde, u.a. mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle) zersetzt diese Erwartung und untersucht den andauernden Verlust eines Vaters zwei Jahre nach dem Verschwinden seiner Tochter.
Auch Maike Wetzels Roman Elly (übersetzt mit Klarheit und Geschick von Lyn Marven) steigt in die Geschichte ein, mehrere Jahre nachdem die elfjährige Elly verschwunden ist und legt die Besessenheit offen, die erwächst aus Jahren des Verlusts, ohne damit abschließen zu können. Der schlanke Roman vermeidet das politische Philosophieren von McEwan und fokussiert stattdessen auf das emotionale Leben der Mutter, des Vaters und der Schwester von Elly, die darauf beharren, dass Elly noch immer lebt.
Der Roman ist durchzogen von Verschiebungen und Leerstellen. Der erste Teil wird von einer Fremden erzählt – einem jungen Mädchen, das ein Krankenhauszimmer mit Ines, Ellys Schwester, teilt. Sie wird von Ines dazu überredet, dass sie – während den nächtlichen Eskapaden der Jugendlichen im Krankenhaus – sich als Elly ausgibt. Die Beziehung zwischen den beiden beunruhigt, und dieser erste Teil setzt den Ton für das Buch, in dem die Trauer – und die Ablehnung von Trauer – alles untermauert. Spätere Kapitel werden durch die verschiedenen Familienmitglieder erzählt. Äußerlich bleiben Mutter, Vater und Tochter durch ihre Parole vereint, dass Elly noch lebt, aber ihre Entfremdung voneinander wird zunehmend unübersehbar.
Der Wendepunkt im Roman wird durch einen Telefonanruf ausgelöst: Vier Jahre nachdem Elly verschwunden ist, wird ein fünfzehnjähriges Mädchen in Dänemark gefunden, das Ellys Beschreibung ähnelt. Flüge nach Dänemark werden gebucht (die Eltern fliegen getrennt, für den Fall, dass ein Flugzeug verunglückt). Das Mädchen kommt nach Hause – aber das Unbehagen, die Wachsamkeit und die Verschiebungen bleiben. „Unsere Eltern und ich halten den Atem an, damit meine Schwester sich erholen kann,“ meint Ines. Doch die Zeit vergeht und Elly erholt sich nicht – und dabei entstehen immer mehr Fragen zu „der neuen Elly“, wie Ines sie nennt – die aber nie ausgesprochen werden.
Vor Ellys vermeintlicher Rückkehr denkt Ines: „Meine Schwester ist tot. Ich traue mich kaum, das zu denken, weil ich weiß, dass mein Glaube genügt, um sie umzubringen. Elly hat nur noch uns. Unser Glauben hält sie am Leben.“ Dieser Aberglaube – die verzweifelte Hoffnung, dass man etwas wahrmachen kann, indem man darauf beharrt – ist der Motor, der alles in diesem beeindruckenden und erschütternden Roman antreibt.
Über die Autorin
Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist Programmkoordinatorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.Leihen Sie sich das deutsche Original digital über die Onleihe aus.
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