Berlinale Blogger*innen 2024
„Eine Reise von Vater und Tochter” voller Wunden

Treasure
Edek (Stephen Fry) mit seiner Tochter Ruth (Lena Dunham). | © Anne Wilk

A wall is a wall.” So die Worte von Edek (Stephen Fry) gegenüber seiner Tochter Ruth (Lena Dunham). Aber stimmt es, dass eine Mauer wie die andere ist?

Eine Mauer kann einfach ein unbelebtes Objekt sein. Eine Mauer kann aber auch einen entscheidenden Unterschied machen: Schützt sie jemanden vor dem eisigen Winterwind oder hält sie Menschen gefangen, die vernichtet werden sollen.

Der Film Treasure (2024) läuft im Programm Berlinale Special und spielt in Warschau im Jahr 1991. Es sind genau 51 Jahre vergangen, seitdem Edek und seine jüdische Familie aus ihrem Haus vertrieben und in das Konzentrationslager Warschauer Ghetto deportiert wurden.

Ruth, eine Journalistin aus New York, kehrt in Begleitung ihres Vaters Edek in dessen Heimatstadt zurück. In der Hoffnung, mehr über die Herkunft ihrer Familie zu erfahren, setzt Ruth ihre journalistischen Fähigkeiten bei der Beschaffung von Informationen ein.

Nach Informationen graben, an alten Wunden kratzen

Das Vorgehen bei der Beschaffung von Informationen kann offensiv sein. Vor allem dann, wenn der Informant, den man als entscheidende Informationsquelle ins Auge gefasst hat, diese nur mit Widerwillen preis gibt. Es ist eine Frage der Ethik, hier nicht ausbeuterisch vorzugehen. Häufig lässt es sich nicht vermeiden, den Informanten/die Informantin in eine unangenehme Lage zu bringen. Journalist*innen können das sehr gut nachvollziehen. Ruth steht vor einer schwierigen Herausforderung: Als Journalistin verfolgt sie das Interesse, nach Informationen zu graben, doch dieses Mal stammen die Informationen von ihrem eigenen Vater – einem Überlebenden des Holocaust aus Polen.

Treasure (2024) erscheint auf den ersten Blick wie ein beinah herkömmlicher Road Trip von Vater und Tochter. Der kohärente Handlungsstrang wird in drei nicht überladenen Episoden erzählt. Die Figur des Vaters scheint keinerlei Lebensbürden zu tragen, er ist übersprudelnd und macht gerne Scherze.

Der Film vermag es, sich mit einer schlichten Sprechweise mit dem Schweraussprechbaren auseinanderzusetzen: mit dem Trauma und dem Schmerz hinter Edeks Verhalten, das nach außen hin den Anschein erweckt, es wäre alles in bester Ordnung. Der Film vermittelt dem Zuschauer gleich zu Beginn, dass die Vergangenheit eine Wunde sein kann. Wenn man an ihr kratzt, kann sie wieder nässen und schmerzen. Kann aber die Wunde tatsächlich heilen, wenn man sich nicht mit ihr befasst und sicherstellt, dass sie nicht mehr akut entzündet ist?

Vom Persönlichen zum Politischen

Treasure zeigt die Spannungen in der Vater-Kind-Beziehung. Der Zuschauer wird zum Teil in die Rolle der ahnungslosen Ruth versetzt. Blickt der Zuschauer durch Ruths Brille, so wird er langsam an das Schockierende herangeführt; Stück für Stück erfährt Ruth von der Geschichte der Überlebenden des Holocaust, von Folter, Zwangsarbeit, Verlust von Familienangehörigen – und sieht sich schließlich mit der Realität konfrontiert, dass fast eine ganze Generation ihrer Familie gewaltsam ausgelöscht wurde.

Zum anderen wird der Zuschauer auch in die Lage des Vaters versetzt. Edek wird sich darüber bewusst, dass sein ungelöstes Trauma Auswirkungen auf seine eigene Tochter hat und somit ein generationenübergreifendes Trauma bildet (intergenerational trauma).

Treasure wurde im Jahr 2024 veröffentlicht, zu einer Zeit also, in der in einem anderen Teil der Welt ebenfalls ein Völkermord stattfindet, in der Mauern zur Abschottung errichtet werden, in der Menschen und ihre Identitäten vernichtet werden. Der Film wird damit zum Anstoß bitterer Reflexion. Die Spannungen, die zwischen Lena und Edek herrschen, erreichen auch den Zuschauer: Wie können wir über Menschlichkeit sprechen, sie verstehen und uns auf ihre Seite stellen, damit wir nicht zulassen, dass sich Völkermorde wiederholen?
 

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