Die Welt über Kunstwerke erschließen:
Ein Besuch auf der documenta14
Die Ansicht, dass eine Reise in angelsächsische Länder zu einer besseren Bildung oder zur Erfahrung einer fortschrittlicheren Infrastruktur des Alltags dient, bröckelt bereits. Wonach sucht der Mensch heute? Es gibt unterschiedlichste Wege, gewisse Vorstellungen und Konzepte aus allen möglichen Richtungen zu bewegen und sie im jeweiligen Lebensraum zu aktivieren.
Während seines Besuchs in Brasilien wurde Pius Sigit Kuncoro vom dortigen Goethe-Institut zu einer Veranstaltung eingeladen, bei dem der als Kurator für die Biennale Jogja 2017 ernannte Künstler mit Jochen Volz, Kurator der 32. Sao Paulo Biennale, und Monika Szewczyk, eine der Kurator*innen der documenta14, zusammentraf. Die Verbindung, die diese drei unterschiedlichen Menschen zusammenbrachte, bestand im Thema der Sao Paulo Biennale[i], dem griechischen Kunstjournal „South as state of mind”[ii] und dem Symposienprogramm der Biennale Jogja „Khatulistiwa”[iii].
Grob könnte man diese drei Elemente in dem Licht betrachten, dass der Postkolonialismus inzwischen keinen für kritisches Denken relevanten Rahmen mehr bildet. Die Ansicht, dass eine Reise in angelsächsische Länder zu einer besseren Bildung oder zur Erfahrung einer fortschrittlicheren Infrastruktur des Alltags dient, bröckelt bereits. Wonach sucht der Mensch heute? Es gibt unterschiedlichste Wege, gewisse Vorstellungen und Konzepte aus allen möglichen Richtungen zu bewegen und sie im jeweiligen Lebensraum zu aktivieren.
Das Goethe-Institut ermöglichte mir und einigen anderen Kunstschaffenden eine Reise nach Athen und Kassel, um die documenta14 zu besuchen. Einer unserer Mitreisenden, Moe Satt, wunderte sich über die Beschriftungen der Kunstwerke in Athen, aus denen das Geburtsjahr der Künstler nicht hervorging. In Kassel hingegen gab es jeweils diese Information. Hendrik Folkerts, einer der Kuratoren der documenta14, erklärte, dass diese Abweichung auf der Entscheidung des Design-Teams beruhe und keine kuratorische Entscheidung sei.
Für mich ist die kuratorische Entscheidung, den Geburtsort des Künstlers statt seines Herkunftslandes anzugeben, eine interessante Wahl. Diese schlichte Entscheidung, also das Land nicht zu erwähnen, ist gleichzeitig absichtsvoll und sehr politisch, da es auf den kleinsten Lebensraum verweist, in dem die Arbeit und die Leistungen des Künstlers in ihrem entspechenden örtlichen Rahmen und Kontext betrachtet werden können. Einverständnis natürlich vorausgesetzt.
Das Hessische Landesmuseum
Für mich war das Hessische Landesmuseum einer der interessantesten Ausstellungsorte der documenta14. Allein in der Sammlung verbrachte ich zwei Stunden. Als mir bei meinem Rundgang klar wurde, dass ich noch gar kein Werk der documenta14 gesehen hatte, befand ich mich im obersten Stockwerk des Museums. Ich folgte einer Geräuschquelle und vermutete, dass das Medienformat des Videos nicht zur Sammlung des Museums gehörte. Beim Eintreten in den Raum erklärte ein Sprecher im Video gerade, dass es sich bei dem Ort des Gesprächs, das sich auf drei Bildschirmen abspielte, um den Konferenzraum handelte, in dem im Jahr 1973 die Versammlung der „Gerakan Non Blok“ - der Bewegung der Blockfreien - stattfand. Automatisch machte ich wieder kehrt, erkundigte mich nach der Dauer des Videos, die auf einer Ausstellungstafel am Eingang angegeben war, und trat wieder ein.Ich stellte mir immer wieder vor, wie viele Besucher das Video wohl in voller Länge anschauten. Wie viele „normale“ Zuschauer, also solche ohne besonderes Interesse für das Thema, den Künstler oder das Videoformat, nahmen tatsächlich Platz und sahen es sich bis zum Ende an? Ist diese Frage für den Künstler selbst von Bedeutung? Wer weiß das schon ... Sicher ist jedenfalls, dass ich mir während der 85 Minuten, die ich vor dem Werk von Naeem Mohaiemen verbrachte, die Position Bangladeschs nach seiner Unabhängigkeit klar gemacht habe, und dass ich noch einmal darüber nachgedacht habe, was es heutzutage bedeutet, wenn Staaten außerhalb der G20 miteinander verbunden sind. Wie kommt eine solche Verbundenheit zustande? Wozu sind wir noch verbunden? Handelt es sich um eine Illusion eines längst der Vergangenheit angehörenden sozialen Bedürfnisses, das inzwischen zu einer Belastung geworden ist? Oder brauchen wir tatsächlich diese Verbundenheit?
Ich erinnerte mich an Eva Braun. Um das Jahr 2003 herum recherchierte ich im Internet und in unterschiedlichen Publikationen zur Bedeutung von „Medien-Kunst“ und „Neue Medien-Kunst“. Ich stieß dabei auf das Werk mit dem Titel „Live and Die as Eva Braun" (1995-1997) und beschäftigte mich eingehender mit dieser Serie von Illustrationen und Texten auf Papier in der Form einer Installation. Offen gestanden erinnere ich mich nicht mehr an den Namen des Künstlers. Woran ich mich aber erinnere, das sind einige Studien, die davon sprachen, dass dieses Werk eine Ausprägung der virtuellen Realität - der virtual reality - sei. Das Benaki Museum in Athen war die erste Ausstellungsstätte, die wir besuchten. Ich war perplex, als ich dort „Eva Braun“ als das Eröffnungswerk für die documenta14 entdeckte. Und ich hoffte, noch weiteren Werken zu begegnen, die nicht nur optisch ansprechend sind, sondern auch Möglichkeiten eröffnen, tiefgreifendere Erkenntnisse über die Welt zu erhalten.
Diese Erwartungshaltung und diese Erfahrung führten mich indirekt auf den Weg zu Fuß zum Westpavillon (Orangerie). Ich hatte die Absicht, Werke anzusehen, die derart in einem Raum arrangiert waren, dass sie von der Interaktion mit anderen Werken befreit zu sein schienen. Solche spezifischen Orte sind offenbar insbesondere für Besucher gedacht, die sich darauf eingestellt haben, entweder nur wenige Werke anzuschauen, oder die mehr Zeit zur Verfügung haben.
Als erstes sah ich mir ein Video von einem Chor von griechisch-orthodoxen Priestern an, die das Stück Agni Parthene sangen; einer sang auf Griechisch und der andere auf Slowenisch. Die beiden Videos hatten eine Dauer von nicht mehr als 20 Minuten. Viele Besucher nahmen Platz und verbrachten dort sogar mehr als diese 20 Minuten. Ich blieb etwa 30 Minuten, sodass ich die Situation in dieser Zeit beobachten konnte. Ich vermutete, der Großteil der Besucher saß dort, weil die Priester mit einer faszinierenden Ausstrahlung und Stimme sangen, unterstützt wurde dies noch durch die Platzierung des Werks und durch ein herausragendes Audiosystem. Ein anderes Werk von Roumald Karmakar, ebenfalls als Video ausgewiesen, befand sich vor dem Gebäude und zeigte informative Texte über LED-Leuchten. Es waren Ausschnitte aus Nachrichten, die von Zerstörungen, militärischen Operationen in Jerusalem und von der Belagerung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 handelten. Die Schlichtheit und gleichzeitige Formschönheit und Poetik, die Karmakar mit dem Werk bietet, ist herausragend. Gleichzeitig zeigt er Gegebenheiten, bei denen Großmächte auf ihre Zerstörung zusteuern, wie die Reiche Byzanz und Konstantinopel!
„Im Wesentlichen will ein Kunstwerk gesehen werden,“ erklärt der Philosoph St. Sunardi. Auf welche Weise sehen wir? Was verarbeiten wir aus unserer Wahrnehmung? Sind wir offen genug, um mehr zu sehen als das Sichtbare?
(i) Das Thema der Sao Paulo Biennale 32 (2016) ist die Unsicherheit. Die Unsicherheit als generatives System, das als Orientierung dient, um sich mit großen Lebensfragen objektiv auseinanderzusetzen.
(ii) South as state of mind: Das Journal für Kunst und Kultur erscheint alle zwei Monate in Griechenland und wird international vertrieben. Während der letzten zwei Jahre diente es als regelmäßige Publikation für die documenta14.
(iii) Grace Samboh ist als Managerin des Symposiumprogramms „Khatulistiwa“ (dt. : Äquator) tätig. Diese Veranstaltung findet alle zwei Jahre statt und wird von der Stiftung Biennale Yogyakarta ausgerichtet. Seit 2011 findet eine Zusammenarbeit zwischen der Biennale Yogyakarta und den beteiligten Ländern längs des Äquators statt. Das Symposium Khatulistiwa ist mit der gleichen Perspektive eingerichtet worden. Für das Jahr 2022 planen wir eine Konferenz mit dem Titel Khatulistiwa als Abschluss der Reise der Stiftung Biennale Yogyakarta. Wir wollen kluge Köpfe zusammenbringen aus der ganzen Welt, sie sollen sich treffen können als Individuen und das repräsentieren, womit sie sich beschäftigen, ohne dass sie für ihr jeweiliges Land da sind.