Überschwemmung
Der unaufhaltsame Untergang von Jakartas Norden

Die Fertigstellung des National Capital Integrated Coastal Development-Damms ist für das Jahr 2024 geplant  und soll 5,7 Billionen IDR  (circa 340 Millionen Euro) kosten. Expert*innen sind der Meinung, dass der Damm nur eine vorübergehende Lösung ist.
Die Fertigstellung des National Capital Integrated Coastal Development-Damms ist für das Jahr 2024 geplant und soll 5,7 Billionen IDR (circa 340 Millionen Euro) kosten. Expert*innen sind der Meinung, dass der Damm nur eine vorübergehende Lösung ist. | © Dinas SDA Jakarta

Jakarta geht unter – jedes Jahr sinkt die Stadt um ein paar weitere Zentimeter unter den Meeresspiegel. Die Überschwemmungen nehmen zu, doch die Einwohner*innen der besonders gefährdeten Stadtteile bleiben trotzdem dort wohnen. Wie es zu dieser Tragödie kam und warum es für viele arme Menschen keine Alternative gibt, beschreibt die indonesische Journalistin Dewi Safitri.

Die Niederlanden sind bekannt für ihre Wasserstraßen und gelten daher als Meister der Kanalarchitektur und des Wasserversorgungsmanagements. In Jakarta, der ehemaligen niederländischen Kolonialstadt Batavias, fehlen allerdings die Belege für diese Überzeugung. Dabei wird nicht nur die niederländische Expertise in der  Wasserwirtschaft in Frage gestellt, sondern eine Studie weist darauf hin, dass die Kolonialpolitik der Niederländer zur größten Bedrohung Jakartas in der Gegenwart beigetragen hat: dem Absinken der Stadt an der Nordküste der Insel Java.

Zu Beginn ihrer Herrschaft bauten die niederländischen Kolonialherren zunächst Wasserkanäle, die das Stadtzentrum und die von indigenen Gemeinschaften bewohnten Außenbezirke im Gebiet des heutigen Nordjakarta miteinander verbanden. Die Kanäle waren die Hauptquelle für die Gewinnung von Oberflächenwasser für den täglichen Bedarf. Ihre Ausläufer befinden sich in der Nähe der Meeresmündung, deren Sedimente die Kanäle mit der Zeit zusetzen und da sie nicht reinigt wurden dafür sorgten, dass sie stanken und sich Krankheiten wie Cholera ausbereiteten.

Der Wasserbedarf jener Einwohner Batavias, die Europäer waren und zur indonesischen Oberschicht gehörten, wurden durch ein System von Wasserleitungen gedeckt. Die ärmere Bevölkerung hingegen verfügte über keinerlei Zugang zu diesem System. Dieser Missstand hielt mehr als hundert Jahre an, und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann man in den küstennahen Gebieten Jakartas mit dem Bau von Brunnen und Wasserreservoirs. In den 1900er Jahren  begann die Zeit, in der es den Bewohnern erlaubt war, nach Grundwasser zu bohren. Da Bohrungen die Gewinnung von sauberem Wasser stark vereinfachen, findet diese Methode bis heute Anwendung. Die Entwicklung optimaler Einrichtungen für die Wasserversorgung, wie die Instandhaltung der Kanäle und ein funktionierendes Leitungssystems für sauberes Wasser ist  jedoch nicht erfolgt.

Schlechtes Wasser, sinkendes Land

Das Land ist stark abgesunken, was dazu führt, dass die Siedlungen der örtlichen Bevölkerung häufiger und länger anhaltend von den Überflutungen in Küstennähe durch Meerwasser, der sogenannten ROB-Überflutung, betroffen sind.
Das Land ist stark abgesunken, was dazu führt, dass die Siedlungen der örtlichen Bevölkerung häufiger und länger anhaltend von den Überflutungen in Küstennähe durch Meerwasser, der sogenannten ROB-Überflutung, betroffen sind. | © Dewi Safitri
Bei der Wasserversorgung ist man weiterhin auf die Gewinnung von Grundwasser durch Erdbohrungen angewiesen, obwohl sich die Qualität des gewonnenen Wassers zunehmend verschlechtert. „Das Wasser ist gelb und trüb, es befinden sich Ablagerungen darin, es riecht abgestanden oder es stinkt. Manchmal hat es sogar eine bläuliche Farbe,“ erklärt Bani Sadar, Ortsvorsteher eines Viertels (RW22) in Kampung Empang im Fischerhafen Muara Angke in Nordjakarta im Juni 2023. Die Ortschaft Kampung Empang gehört zu jenen Wohngebieten, die direkt am Meer liegen. Fast 90 Prozent der Bevölkerung ist hinsichtlich ihrer Wasserversorgung auf Erdbohrungen angewiesen. „Für uns als Anwohner ist es schlimm, wir müssen immer noch in die Erde bohren, um an Wasser zu kommen. Wenn das nicht mehr geht, was sollen wir dann tun? Die meisten hier sind arm. Wir können es uns nicht leisten, Wasser in großen Mengen zu kaufen,“ fügt Bani hinzu.

Das Land, auf dem sich Kampung Empang befindet, gehörte ursprünglich dem indonesischen Staat. Nachdem immer mehr Menschen dort siedelten, erhielten einige der Gebäude eine offizielle Baugenehmigung. „Wir sind arm, das ist eine Tatsache. Aber wir sind nicht illegal hier, wir haben eine Genehmigung,“ sagt Munarto, Vorsteher des Wohnblocks RT 03. In den letzten zehn Jahren haben Munarto und andere Dorfvorsteher in Kampung Empang wiederholt Treffen mit verschiedenen Kommunalbeamten bis hin zum Gouverneur organisiert, um Zugang zu Wasserleitungen zu erhalten, damit die Bewohner*innen sauberes Wasser vom Unternehmen PAM Jaya bekommen. Bisher existieren keine Leitungen in Kampung Empang.

Die Kommunalregierung hat mehrere Wasserstationen eingerichtet, die über Wassertanks des Unternehmens PAM Jaya versorgt werden. Anwohner*innen stellen sich dort an, um Wasser für 400 Rupiah (circa 0,024 Euro) pro Liter zu kaufen. Die Stationen stehen in der Kritik, da sie weitentfernt von der Deckung des Bedarfssind. Nach Jahrzehnten mit zunehmenden Überflutungen in den Vierteln Nordjakartas ist es Wissenschaftler*innen kürzlich gelungen, den Zusammenhang zwischen Wassermangel und Überschwemmungen nachzuweisen, die im Gebiet Nordjakartas immer weiter ins Land vordringen. Durch die massive Entnahme von Grundwasser über hunderte Jahre hat sich die Schicht des Aquifers, der Zone in der Erde, die Wasser speichern kann, mit verunreinigtem Meerwasser angereichert. Bis hinein in diese Schicht werden Bohrungen vorgenommen, um an Wasser zu gelangen. Je mehr Bohrungen stattfinden, desto kleiner wird das Aquifer, und als Folge davon sinkt das Land ab und versinkt schließlich.
Allerorts sieht man verlassene Grundstücke, in denen mit ROB-Wasser gefüllte Lachen stehen.
Allerorts sieht man verlassene Grundstücke, in denen mit ROB-Wasser gefüllte Lachen stehen. | © Dewi Safitri
Als Heri Andreas, der heute Lektor am Institut für Technologie Bandung ist, 1997 zum ersten Mal nach Nordjakarta kam, um die Überschwemmungen des Festlands mit Meerwasser zu erforschen, studierte er noch an der Fakultät für Geodäsie (heute Teil der Fakultät für Geowissenschaften) am Institut Teknologi Bandung (ITB). Er folgte seinem Professor Zainal Abidin, der ab 1982 umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur Bodenstruktur in Nordjakarta durchführte. Diese Untersuchungen wurden erst 2011 abgeschlossen. „Nachdem wir entsprechende Modelle erstellt hatten, waren wir in der Lage zu berechnen, dass es zu Landabsenkungen von durchschnittlich zwei bis 15 Zentimetern und stellenweise sogar von 20–25 Zentimetern pro Jahr kommt. Mit Blick auf die zunehmende Menge an Meerwasser sowie die Sturmfluten lässt sich nur erahnen, wie sich dies in Zukunft auf die Siedlungen der Bevölkerung auswirken wird,“ erklärt Heri. Die Untersuchungen des ITB-Teams kommen zu dem Ergebnis, dass die Landabsenkung die Hauptursache für die Überflutungen mit Meereswasser ist. „Die Grundwasserentnahmen zu stoppen, wäre der beste Schritt,“ sagt Heri. „Das Problem ist aber, dass es noch keine Alternative für die Wasserversorgung gibt. Wenn die Wassergewinnung in der bisherigen Form eingestellt wird, gibt es keine Versorgung mit sauberem Wasser mehr, denn das Oberflächenwasser und das Wasser im untiefen Aquifer sind bereits verschmutzt.“

Untergang im Jahr 2050?

Warsita und sein Kühlschrank, der auf einem „Thron“ aus Betonsteinen steht, um ihn vor der Rob Überflutung zu schützen.
Warsita und sein Kühlschrank, der auf einem „Thron“ aus Betonsteinen steht, um ihn vor der Rob Überflutung zu schützen. | © Dewi Safitri
Warsita ist verärgert. Sein geschätzter zweitüriger Kühlschrank, wichtigstes Gerät für seine Arbeit als Fischverkäufer auf dem Markt von Muara Angke, ist erneut zum Opfer geworden. Salziges Meerwasser, vermischt mit Abwasser aus der Kanalisation und Müll von der Straße, überflutete unlängst sein Haus in Kampung Empang. Drei Tage in Folge reinigten Warsita und seine Frau Karmi das Haus von Meerwasser, das nicht nur den Boden schmutzig und rutschig zurücklässt, sondern auch Juckreiz auf der Haut verursacht und Gegenstände aus Metalllegierungen wie den besagten Kühlschrank angreift.

Karmi justiert den Wasserschlauch in der Küche. „Dieses Wasser kann man für zweihundertfünfzigtausend (Rupiah) im Monat kaufen. Ob man ein Bad nimmt oder Wäsche wäscht, das Wasser hat dieselbe Farbe, es ist gelb,“ sagt sie. Das Wasser stammt aus dem Brunnen eines Nachbarn, etwa 50 Meter entfernt, und wird durch einen faustdicken Gummischlauch geleitet. „Fürs Kochen nehmen wir was anderes, da kaufen wir Gallonen [Anm. d. Red.: eine Gallone entspricht 3,7854 Litern]­. Das ist sicherer,“ fährt sie mit einem bitteren Lächeln fort. Die Äußerungen von Warsita und Karmi zeigen, dass Bohrungen zur Gewinnung von Grundwasser in Nordjakarta weiterhin an der Tagesordnung sind. Da die Speicher an sauberem Wasser im oberflächennahen Aquifer bereits erschöpft sind, müssen die Bohrungen inzwischen bis zu einer Tiefe von mindestens 130 Metern durchgeführt werden, um Wasser von etwas besserer Qualität zu erhalten. So überrascht es kaum, dass der Bau eines Brunnens um die 50 bis 60 Millionen Rupien (circa 3000–3500 Euro) kosten kann.

Eine Studie von Heri Andreas und seinen Kolleg*innen zeigt, dass, wenn dieser Praxis nicht Einhalt geboten wird, bis 2050 bis zu 50 Prozent der Fläche Nordjakartas überschwemmt sein werden. Noch dramatischer ist, dass dies kein reines Problem der Stadt Jakarta ist. Auch für andere Küstengebiete Indonesiens, deren Grundwasservorkommen ebenfalls bereits übermäßig ausgeschöpft wurden, wird eine ähnlich bedrohliche Lage vorhergesagt. Dies gilt für die Nordküste Javas mit den Küstengebieten von Semarang, Pekalongan und der benachbarten Umgebung. Durch die wachsende Bedrohung durch den Klimawandel, und den dadurch ansteigenden Meeresspiegel, aber auch natürliche Gefahren wie Tsunamis, wird es in diesem Gebiet zu einer akuten Wasserkrise und zu langanhaltenden Überschwemmungen kommen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch internationale Wissenschaftler*innen wie Hiroshi Takagi vom Tokyo Institute of Technology. Im Rahmen seiner Forschung, die er vor rund sieben Jahren begann, erkannte das Team um Takagi, dass der drohenden Gefahr des Versinkens begegnet werden kann, wenn die kontinuierliche Landabsenkung gestoppt wird. Die Hauptstrategie dahinter sieht vor, die Abschöpfung des Grundwassers zu unterbinden und Bautechnologien zu entwickeln, die der Zerstörung durch Überflutungen und Landabsenkungen standhalten können.

Unwissenheit über den drohenden Untergang

Seit Jahrzehnten beklagen Anwohner die leeren Versprechungen von bezahlbaren Leitungssystemen und sauberem Wasser.
Seit Jahrzehnten beklagen Anwohner die leeren Versprechungen von bezahlbaren Leitungssystemen und sauberem Wasser. | © Angga Budhiyantos
Im März 2018 befragte das Takagi-Team 29 betroffene Anwohner*innen: „Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Haus absinkt?“ Nur etwa die Hälfte der Befragten stimmte zu, dass ihr Grundstück tatsächlich abgesunken sei. Die übrigen erklärten, sie wüssten es nicht. Darunter befanden sich drei Anwohner*innen, deren Häuser zuvor bereits von Überschwemmungen bis zu einer Höhe von zwei Metern betroffen waren. Es scheint als ob Unkenntnis und mangelndes Bewusstsein dazu führen, dass Maßnahmen zum Schutz des Wohngebiets nicht greifen. Beispielsweise, wenn eine Verordnung zur Unterbindung der Grundwasserentnahme zwar erlassen, aber nicht umgesetzt wird.

Ich stelle Warsita dieselbe Frage. Nach einem Moment des Schweigens antwortet er, er habe noch nie vom Absinken seines Dorfes gehört. „Ich lebe hier seit 15 Jahren. Wo versinkt denn hier was? Das Haus steht noch,“ antwortet er ernsthaft. Nicht nur Warsita, auch Djahruddin, der Sekretär des Bezirksamtes von Pluit, einem ebenfalls betroffenen Dorf im Norden Jakartas, will von der Vorhersage nichts wissen. „Wo soll hier etwas untergehen? Tatsächlich kommt es fast  jeden Monat zu einer Überschwemmung. Wenn man in der Nähe der Küste wohnt, ist das doch normal. Woher soll ich denn wissen, dass es hier ums Versinken geht?“ Djahruddin sagt, der 37 Kilometer lange Damm, der im Rahmen des derzeit laufenden Programms National Capital Integrated Coastal Development (NCICD) gebaut wird, werde die Überschwemmungen in Muara Angke beenden.

Wissenschaftler*innen wie Heri Andreas und Hiroshi Takagi bezweifeln, dass der riesige Damm die Antwort auf das Problem der drohenden Überschwemmung Jakartas ist. „Kurzfristig ist der Damm nicht verhandelbar, denn die Anwohner*innen müssen geschützt werden. Aber auf lange Sicht ist der Damm nur ein Schmerzmittel. Der Meeresspiegel wird steigen, und je mehr er steigt, desto mehr wird das Land versinken.“ Das Meerwasser ist bereits mehrmals derart angestiegen, dass es über den Damm trat und diesseitige Landflächen überschwemmte.
Einige der Anwohner*innen, die man in andere bewohnbare Mehrfamilienhäuser umgesiedelt hatte, entschieden sich aufgrund der Entfernung zu ihrem Arbeitsplatz für eine Rückkehr.
Einige der Anwohner*innen, die man in andere bewohnbare Mehrfamilienhäuser umgesiedelt hatte, entschieden sich aufgrund der Entfernung zu ihrem Arbeitsplatz für eine Rückkehr. | © Febiantis
Müssen die Anwohner*innen zwangsumgesiedelt werden, wenn die Überflutungen nicht mehr zu kontrollieren sind? Der Sekretär des Bezirksamtes von Pluit, Djahruddin, sagt, die Umsiedlungsmaßnahmen seien bereits mehrmals durchgeführt worden. „Mit Hilfe der Stiftung Su Tzi wurden rund 600 Anwohner*innen in Wohnsiedlungen in Muara Angke umgesiedelt. Früher gab es bereits eine ähnliche Maßnahme, da wurden Hunderte von Anwohner nach Marunda umgesiedelt und dann kamen sie alle wieder hierher zurück. Das Problem ist, dass sie Fischer sind und Marunda sehr weit von ihrern Arbeit entfernt liegt.“ Offenbar werden die Anwohner in Nordjakarta bleiben, solange das Gebiet nicht komplett unter Wasser steht. Aktuell liegen bereits 20 Prozent der Ortschaften unter dem Meeresspiegel. „Wenn dem nicht begegnet wird, könnte sich diese Fläche innerhalb der kommenden zwanzig Jahre um bis zu 80 Prozent vergrößern,“ sagt Lisa Tarigan, Subkoordinatorin für Planungsangelegenheiten in der Abteilung für Geologie, Wasserschutz und Wasserversorgung bei der Wasserbehörde der Stadt Jakarta. Daher ist ihr besonders wichtig, dass die Verordnung des Gouverneurs von Jakarta in den Zonen, in denen die Grundwassergewinnung untersagt ist, eingehalten wird.

In Nordjakarta aber lässt sich diese Verordnung nur schwer durchsetzen, da bis zum letzten Jahr nur 65 Prozent des Gebiets der Sonderregion Jakarta (DKI) vom Unternehmen PAM Jaya mit Wasser versorgt werden konnten. Ein Anwohner, der seinen Namen nicht nennen möchte, sagt, er habe die leeren Versprechungen satt. „Ständig heißt es, die Lösung liege im Leitungssystem. Beamte sind gekommen, NGOs sind gekommen, Studenten sind gekommen, Journalisten sind gekommen, und es waren viele. Es ändert sich nichts – das ist alles,“ sagt er.

Aufgrund der Bedrohungen durch Landabsenkung, durch Umweltverschmutzung und Klimawandel steht Jakarta gemäß dem Global Risk Report 2022 auf der Liste mit den 576 größten Städte der Welt als die „am stärksten gefährdete Stadt“. Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, dass Nordjakarta unter dem Wasser versinkt, werden mindestens 1,5 Millionen Menschen direkt betroffen sein.

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