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Judith Hermann und Claire Keegan

Es schien so unwahrscheinlich und doch geschah es. Zwei der gegenwärtig interessantesten Schriftstellerinnen, Judith Hermann und Claire Keegan, lasen gemeinsam an einem wunderbaren Abend der Reihe Germany@Home in der Wohnung von Mechtild Manus, der Leiterin des Goethe-Instituts. Aus mehreren Gründen war dies eine äußerst inspirierende Begegnung.

Germany@Home © Joseph Carr Photography Beide Schriftstellerinnen lasen aus jüngeren Werken, die im Heinrich-Böll-Haus auf Achill Island, im Westen Irlands während Residenzaufenthalten entstanden waren – sehr unterschiedlichen Aufenthalten, wie wir noch erfahren würden.
 
Beide Autorinnen, in ihren 40ern, nur zwei Jahre auseinander, fühlen sich eher zu inneren Welten hingezogen: Ihre Figuren kämpfen mit starken Gefühlen und geben sich häufig dem Nachdenken hin, manchmal bestimmt von Bedauern. Ihr Erzählen bestimmt eine ruhige Intensität. Keine von beiden interessiert sich besonders für die Darstellung politischer Situationen und doch entwickelt sich aus ihrem Erzählen durchaus ein Sinn für Sozialgeschichte, für das Leben ihrer Figuren innerhalb der Gesellschaft. Beide Autorinnen vertrauen offensichtlich auf die Kraft der subtilen Untertreibung, auf das Gewicht einer Geste, einer Beobachtung, das beredte Erschauern, das so viel erzählen kann.
 
Beide erwiesen sich schon früh in ihren Karrieren als natürliche Meisterinnen der Kurzgeschichte. Judith Hermanns hoch gelobtes Debüt “Sommerhaus, später” wurde 1998 in Deutschland veröffentlicht. Die englische Übersetzung folgte 2001. Claire Keegans “Wo das Wasser am tiefsten ist” wurde nach seiner Veröffentlichung 1999 mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem “Los Angeles Times Book of the Year”.
 

Und doch gibt es Unterschiede: Judith Hermann ist gebürtige Berlinerin. Ihr Werk ist in der Stadt verwurzelt und sie ist eine urbane Autorin. Als ich sie an ihren Aufenthalt in einem anderen berühmten Refugium für begabte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, dem Alfred Döblin Haus, erinnere, lächelt sie. Auch als ich sie darauf hinweise, dass Döblin, obwohl im pommerschen Stettin (heute Polen) geboren, doch ein sehr großstädtischer Autor war, wie sein Meisterwerk “Berlin Alexanderplatz” (1929) beweist. Hermann zufolge ist der Tumult, in dem sich ihre Figuren befinden, Teil eben dieser Stadt.
 
Am Abend von Germany@Home befand sich Hermann auf einer Reise durch vier Deutschabteilungen irischer Universitäten. Sie sprach mit Studierenden und arbeitete mit ihnen anhand der deutschen und englischen Ausgabe ihres neuen Romans “Aller Liebe Anfang”, der im August 2014 in Deutschland auf den Markt kam. Die englische Übersetzung “Where Love Begins” von Margot Betauer Dembo, erscheint im Oktober 2015. Seit 25 Jahren arbeite sie mit dieser Übersetzerin, erwähnt Hermann: “Es kommt mir so lange vor”. Aber Hermann selbst sieht heute nicht viel anders aus als die junge Autorin, deren erstes Buch das neue Gesicht eines veränderten Deutschland repräsentierte.
 
Sie sei nervös, gesteht Hermann, bevor sie beginnt, auf Deutsch aus dem zweiten Kapitel von “Aller Liebe Anfang” zu lesen. Seit Beginn der Handlung sind drei Wochen vergangen, Stella, Mutter eines kleinen Kindes, ist an einem gewöhnlichen Werktag allein zu Hause. Hermanns Stimme ist leise, als sie die Angst vermittelt, die allmählich von Stella Besitz ergreift. Mit wenigen Sätzen etabliert sie eine starke Empfindung von Stella: “Sie ist heute gerne alleine, früher war sie nicht gerne alleine, so einfach ist das,  sie weiß nur nicht mehr genau, wann diese Veränderung eigentlich eingetreten ist. Auf welche Weise, jäh oder allmählich? Im Verlauf von Monaten, oder von heute auf morgen, von einem Tag, den Stella vergessen hat, auf einen anderen Tag.”
 
Während Stella durch die wenigen Stunden wandelt, die ihr zwischen der Fürsorge für ihre kleine Tochter und ihre drei Patienten bleiben, wird ihre Einsamkeit bedroht durch einen Fremden, der mit ihr sprechen möchte. Der Mann lässt nicht locker, die Spannung wächst. Und Judith Hermann, deren exaktes Schreiben durch frühe Jahre als Journalistin geschult ist, hält ihr Publikum in gespannter Erwartung auf den Fortgang der Handlung.
 

Claire Keegan wuchs auf dem elterlichen Bauernhof in der Grafschaft Wicklow auf. Licht und Schatten sind wichtig in ihrem Werk, das menschliche Befindlichkeiten und Begegnungen mit den wechselhaften Stimmungen der Natur in Einklang bringt. Sie ist eine traditionelle Autorin mit einem originellen und intelligenten Empfinden für das Gewöhnliche, wie zum Beispiel die Teezubereitung, bei dem stets eine gewisse rituelle Bedeutung mitschwingt. Ruhig und bewusst kann sie direkt schreiben und doch einen Anflug von Geheimnis bewahren. Als sie verkündet, dass sie “Ein langer qualvoller Tod” aus ihrem zweiten Geschichtenband “Durch die blauen Felder” lesen wird, zeigt sich in ihren Augen ein vielsagendes Lächeln.
 
Nicht nur, dass diese Geschichte im Heinrich-Böll-Haus geschrieben wurde, sie gründet auf einer Begegnung dort. Keegan hat eine Bühnenpräsenz. Ihr Vortrag ist gemessen, sie scheint die Worte beim Lesen abzuwägen und liest sie offensichtlich laut beim Schreiben.
 
“Ein langer qualvoller Tod” beginnt, als die Hauptfigur, eine Frau, im kleinen Dorf Dugort auf Achill Island ankommt. Obwohl es noch mitten in der Nacht ist und die Häuser im Dunkel liegen, ist die Natur schon hellwach. Genau so wie die Frau, deren Sinne geschärft sind. Die Besitznahme des Hauses ist aufregend. Keegan gestaltet sie als einen kleinen Sieg; die Frau hat sich die Freiheit zu schreiben erstritten. Eine Reihe von Verrichtungen führt sie hin auf den Moment, in dem die Arbeit beginnen soll. Aber das Telefon läutet. Sie zögert, doch der Anrufer gibt nicht auf. Schließlich hebt sie ab und hört einem deutschen Germanistikprofessor am anderen Ende der Leitung zu, der das Haus besichtigen möchte. Er ist so hartnäckig, dass die Schriftstellerin sich auf den Besuch einlässt und sogar einen Kuchen bäckt, wenn auch mithilfe einer Backmischung.

Der Deutsche hat das Gefühl, dass die Frau, die vorher schwimmen gegangen war, das Privileg, in diesem Haus zu wohnen, nicht würdigt. Er erinnert sie daran, dass Böll den Nobelpreis gewonnen hatte. Dieser Fauxpas beendet das subtile Spiel mit den kulturellen Unterschieden, das die beiden Fremden immer weiter auseinandertreibt. Nachdem sie den unwillkommenen Gast hinauskomplementiert hat, schreibt die Schriftstellerin über ihn und seinen finalen Untergang.  Das erweist sich als eine sehr befriedigende Rache.
 
Für Claire Keegan, gewöhnt an die Stille des Landlebens, war der Aufenthalt im Böll-Haus wunderbar. Judith Hermann schaudert noch immer in Gedanken an die Nächte, die sie, alleine im Dunkeln, knarrenden Geräuschen lauschend, in Angst und Schrecken verbrachte. Jeden zufälligen Besucher hätte sie willkommen geheißen, selbst einen selbstgerechten Professor. Obwohl ihr die Einsamkeit nicht behagte, fand sie doch Trost in der Lektüre von Keegans Geschichten. Ein Exemplar des Bandes “Durch die blauen Felder” war im Haus verblieben.
 
Gastgeberin Mechtild Manus
Geschichten sind dazu da, gelesen zu werden. Es ist immer ein Privileg, Autorinnen und Autoren selbst ihre Werke lesen zu hören, und wenn dies in der Intimität einer kleinen Versammlung in einem Wohnzimmer statt in einem öffentlichen Veranstaltungssaal geschieht, umso besser. Abende wie diese in einer informellen entspannten Atmosphäre ermutigen Leser und Schriftsteller gleichermaßen, über Literatur zu diskutieren und ihre Gedanken auszutauschen.
 



 

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