Zeitgenössische italienische Literatur
Giulia Caminito – Die Stimme Italiens
In den deutschen Medien wird Giulia Caminito als die Stimme Italiens gefeiert. „Besser als Elena Ferrante“, titeln einige Zeitungen. Ihr Buch „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist bei dem für gute italienische Literatur bekannten Verlag Klaus Wagenbach erschienen.
Von Sarah Wollberg
Der Erfolg ihres Buches brachte Giulia Caminito jüngst mehrmals nach Deutschland. Sie war auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin, wo sie auf ein großes deutsches, aber auch italienisches Publikum traf, und auf der Frankfurter Buchmesse, wo sie an einem Treffen mit ihren Verlegern aus der ganzen Welt teilnahm. An Deutschland schätzte sie vor allem die lebendige Atmosphäre bei den Buchvorstellungen und die professionelle Wertschätzung ihres Berufs als Autorin. Die Übersetzung ihres Romans in viele verschiedene Länder brachte für sie eine ganz besondere Gefühlswelt mit sich. Von dem relativ kleinen Buchmarkt der italienischen Sprache stand sie plötzlich im Austausch mit vielen unterschiedlichen Sprachen, Denkweisen, Verlagswelten, Leserinnen und Lesern. Aber wie ist das Italien, das sie in ihrem Roman erzählt?
Italien und Rom mal anders
Den Worten der Autorin nach, steckt in ihrem Roman sehr viel Italien: die Wechselbeziehung von Stadt und Provinz, der Pendlerverkehr, die Wohnprobleme, das Bildungs- und Schulsystem, die kulturellen Bezugspunkte für Jugendliche, die historischen und politischen Ereignisse rund um die Jahrtausendwende, in denen sich das Leben ihrer Hauptfiguren abspielt. Das Rom, das wir hier kennenlernen, ist nicht das Rom der Dolce Vita oder der Vacanze Romane. Der Roman öffnet uns die Augen und bringt ein großes Stück Realität in den Mythos Rom. Unser Blick schweift von einem Keller in der verarmten Peripherie San Basilio über den eleganten, aber unerreichbaren Corso Trieste im reichen Norden der Stadt bis hin in das römische Provinzstädtchen Anguillara am Braccianosee. Wir erfahren von den finanziellen Schwierigkeiten einer Familie, die sich in einer Stadt zurecht finden muss, die den Bedürfnissen ihrer Einwohner verschlossen gegenübersteht. Eine Mauer steht zwischen den Stadtbeamten und den Bürgern auf der Suche nach ihren Rechten. Es geht, daran ist Caminito sehr gelegen, nur um eine von unzähligen Perspektiven in dieser großen Stadt. Es geht vor allem um den Kampf einer Mutter, und die Wut ihrer Tochter.Ein Appell an die heutige Zeit
Das Wasser des Sees ist niemals süß | © Verlag Klaus Wagenbach (2022) „Kann Bildung uns dabei helfen, den eigenen Weg zu finden?“, ist eine der großen Fragestellungen des Romans, aber das Buch steht der Schule sehr kritisch gegenüber, ja fast provokatorisch. Gaia lernt und lernt, aber ihr Leben wird dadurch nicht besser. Trotz ihres Fleißes steht sie nach der Schule vor einer großen Leere. Die Gesellschaft hat in diesem wichtigen Moment ihres Lebens keine Antwort für sie parat. Sie erkennt die Kraft ihrer Bildung nicht an und diese verliert dadurch ihren Wert. Die Frage verwandelt sich heutzutage noch vielmehr in ein Appell: Wie kommen wir in einer Zeit, in der die Sozialen Medien schnellen Erfolg versprechen, wieder zurück an unsere individuellen Wurzeln und somit an unsere Kreativität?Mehr Zeit und Mut
Für Giulia Caminito braucht es dafür vor allem Zeit und den Mut, frei zu schreiben: „Wenn Du ein Buch schreiben möchtest, dann nimm Dir viel Zeit für die Recherche, egal ob es eine autobiografische, historische oder zeitgenössische Geschichte ist, und für das Schreiben. Jede Geschichte muss erst einmal heranwachsen, bevor sie bereit ist, veröffentlicht zu werden.“In Deutschland wird bald ihr Roman La Grande A veröffentlicht. Es ist ihr erster Roman, aber die Zeit für ihn ist dort erst jetzt gereift, während Giulia Caminito bereits an ihrem neuen Buch sitzt, in dem es um die Kindheit und den Eintritt in die Arbeitswelt ihrer Romanfigur geht, einer Welt, zu der Gaia keinen Zugang hatte. Es ist kein autobiografischer Roman, aber wieder werden persönliche Geschehnisse und Gemütszustände mit hineinspielen.
Wir können uns also in beiden Ländern schon jetzt auf ihre Neuerscheinungen freuen, denn eines wissen wir mittlerweile: Auf die Stimme Italiens können wir uns verlassen.
Giulia caminito
Giulia Caminito, 1988 in Rom geboren, ist in Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano aufgewachsen. Sie hat politische Philosophie studiert und drei Romane verfasst, darunter der 2020 bei Wagenbach erschienene Ein Tag wird kommen. Ihr dritter Roman Das Wasser des Sees ist niemals süß stand 2021 auf der Shortlist des Premio Strega, gewann den alternativen Premio Strega Off und den renommierten Publikumspreis Premio Campiello. Der Roman wird in über zwanzig Sprachen übersetzt. Caminito arbeitet als Herausgeberin und Lektorin, sie lebt in Rom.
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