Rosinenpicker
Karlheinz Superstar
In einer Graphic Novel erscheint der Komponist Karlheinz Stockhausen, Pionier der elektronischen Musik, einem Jungen aus der Provinz wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
Von Holger Moos
Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker wächst in der bayerischen Provinz auf, in Oberviechtach, gelegen im Regierungsbezirk Oberpfalz. Die Sommerferien des Jahres 1989 ziehen sich wie Kaugummi. Die Ministrantentätigkeit ist eine der wenigen Abwechslungen. Man kann sich die sonst herrschende Ödnis gut vorstellen.
Da ist dem zwölfjährigen Thomas und seinem Bruder jede Abwechslung recht. Als ihr Vater sie mit einer Schallplatte konfrontiert, einer Aufnahme von Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge, lachen sich die beiden Jungen zuerst halb tot. Doch sie hören die Platte wieder und wieder – und finden schließlich Gefallen an dieser äußerst merkwürdigen Musik. Sie wollen sogar mehr davon.
Stockhausens Musikstücke sind „wie Tickets zu einem anderen Planeten“, seine Lebensgeschichte kommt Steinaecker wie eine „Superheldengeschichte“ vor. So betrachtet liegt eine Umsetzung als Comic nahe. Also hat sich der Schriftsteller Thomas von Steinaecker mit dem Illustrator David von Bassewitz zusammengetan. Das Ergebnis: die Graphic Novel Stockhausen. Der Untertitel, Der Mann, der vom Sirius kam, erinnert nicht von ungefähr an Superman, der ebenfalls von einem fernen Planeten namens Kryptonit stammt. In einem NDR Kultur-Interview bezeichnet Steinaecker den Komponisten als „eine fast schon übermenschliche oder messianische Figur“. Den Schriftsteller interessierte die Frage, wie jemand, der aus einer sehr bäuerlichen Gegend aus dem Bergischen Land stammt, am Ende seines Lebens zu einem „Sternen-Menschen“ wird, der behauptet, er käme vom Sirius.
Buhrufe und abgöttische Verehrung
In der Graphic Novel liest der junge Thomas nachts unter der Bettdecke Stockhausens Biografie. Dem folgt der Einstieg in die Lebensgeschichte des 1928 geborenen und 2007 verstorbenen Komponisten, deren verschiedene Stationen sowohl erzählerisch als auch graphisch herausragend dargestellt werden: Zunächst Stockhausens Aufwachsen während des Nationalsozialismus, der tragische Tod seiner Mutter, die als depressiv gilt und in der Tötungsanstalt Hadamar im Zuge der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik ermordet wird. Sein Vater stirbt 1944 an der Ostfront, und Stockhausen selbst erlebt Grausames, als er zur Arbeit in einem Feldlazarett herangezogen wird.Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs präsentiert die Graphic Novel die musikalischen Anfänge, auch die Buh-Rufe bei seinen Aufführungen, inklusive einer Musikerin, die schreit: „Ich… kann das nicht spielen!!“. Dem folgt später eine fast schon abgöttische Verehrung in aller Welt: durch Miles Davis, die Beatles, Max Ernst oder Thomas Pynchon, um einige zu nennen. Eingewoben sind Episoden aus Steinaeckers eigener jugendlicher Schwärmerei, die später zu einer Freundschaft mit dem bewunderten Komponisten führen sollte.
Gewaltiger Sog
„Ein gewaltiger Sog geht von diesem Buch aus“, beginnt Fritz Göttler seine Besprechung in der Süddeutschen Zeitung. Stockhausen ist in der Tat ein Ereignis, natürlich „auch aufgrund der Zeichnungen, die David von Bassewitz am Computer gemalt hat“, wie Christoph Haas in der taz betont. So wie Stockhausen den Rahmen der Musik sprengte, durchbrechen die Zeichnungen mit ihrer „skizzen- und aquarellhaften Lockerheit“ immer wieder die Rahmungen, teilweise verzichtet Bassewitz komplett auf gerahmte Panels.Die grandiose Graphic Novel endet wieder im Jahr 1989, als der junge Steinaecker von seinem Vater überrascht wird: Er darf zu einem Konzert und wird Stockhausen persönlich kennenlernen. Die Geschichte von Stockhausen und Steinaecker geht also weiter, ein zweiter Band wird angekündigt: „Große Emotionen! Erschütterndes Drama! Eine Reise an die Grenzen der Musik!“ Man darf also gespannt sein und hoffen, dass er bald erscheint. Etwas Geduld ist gleichwohl nötig. Haben Steinaecker und Bassewitz am aktuellen Band sieben Jahre gearbeitet, wollen sie den zweiten, abschließenden Band immerhin in vier Jahren schaffen.
Hamburg: Carlsen, 2022. 392 S.
ISBN: 978-3-551-73366-5
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