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Musiker, Komponist, Stimmperformer
Tomomi ADACHI Am Anfang stand die Begegnung mit John Cage – Menschen, Gesellschaft und Musik verbinden

Seit einigen Jahren veranstaltet das Goethe-Institut Tokyo die "Tokyo Berlin Experimental Music Meetings" unter der künstlerischen Leitung von Tomomi Adachi. Das jeweils mehrtägige Programm umfasst neben Konzerten mit professionellen Musikern aus Japan und Deutschland auch Workshops, die für ein allgemeines Publikum zugänglich sind. Zu der letzten Veranstaltung 2021 konnten aufgrund der Corona-Pandemie leider keine Künstler*innen aus Deutschland nach Japan kommen, das Highlight des Meetings bildeten daher die „Improvisationsduelle“, die sich sieben Duos in Japan tätiger Künstler*innen unter dem Titel „Only Duo“ lieferten. Die von Adachi ausgewählten 14 Künstler*innen hatten die Aufgabe, ohne vorherige Absprache zehn Minuten lang aus dem Stehgreif zu improvisieren. Es herrschte eine erwartungsvolle und gespannte Atmosphäre, denn einige der Teilnehmer*innen begegneten sich am Veranstaltungstag zum ersten Mal, und auch das Publikum hatte nicht die geringste Ahnung, was während der Veranstaltung geschehen würde.
Auch der offen ausgeschriebene Workshop, zu dem sich verschiedenste Musiker*innen und Tänzer*innen zusammenfanden, war einzigartig in seinem Ansatz. Die Teilnehmer*innen der Performance hatten unterschiedliche Hintergründe und brachten sich jeweils mit dem ein, was sie gut beherrschten – sei es ein Instrument, ihre Stimme oder ihren Körper. Inszenierung und Leitung lagen in den Händen von Tomomi Adachi.
Im Mittelpunkt von Tomomi Adachis musikalischer Tätigkeit stehen natürlich auch Soloauftritte mit seiner Stimme, im folgenden Interview liegt der Schwerpunkt jedoch auf der Frage, wie sich die charakteristischen Aktivitäten herausgebildet haben, mit denen er Musik und Menschen zusammenbringt. Dazu wollen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen:

KK: Herr Adachi, Sie haben sehr früh – nämlich bereits als Mittelschüler - zeitgenössische Musik gehört. Was hat Sie dazu gebracht, diese Musik zu hören? Das muss noch vor der Zeit der CD gewesen sein. Haben Sie Schallplatten oder Radio gehört?

Adachi: Ich war tatsächlich sehr früh dran - in der Mittelschule gab es in meinem Umfeld niemanden, der diese Art von Musik hörte. Mein Vater war ein großer Audio-Fan, und wir hatten zu Hause Hunderte von Schallplatten und bergeweise Kassetten mit Mitschnitten von Radiosendungen. Außerdem gab es zu Hause auch Bücher über Musikgeschichte. Mein Vater hörte Klassik, darum war ich mit klassischer Musik vertraut. Natürlich kam ich auch mit der damaligen Popmusik in Kontakt, aber diese Musik hat mich nicht sonderlich interessiert. In den Musikgeschichtsbüchern las ich über die Musik ab dem 20. Jahrhundert, und mein Vater hatte Platten von Strawinsky und Bartók. Als ich diese hörte, dachte ich mir: "Das ist es! Das ist die Musik, die ich machen will!“

KK: Sie sollen darüber hinaus von John Cages „Etcetera 2“ überwältigt gewesen sein. Wo haben Sie das Stück gehört?

Adachi: Das war 1986, als die Suntory Hall in Tokyo eröffnet wurde. Damals wurden unter der künstlerischen Leitung von Toru Takemitsu vier Werke in Auftrag gegeben - eines davon war „Etcetera 2“. Ich habe das Stück in einer Radio-Sendung von NHK (öffentlich-rechtlicher Sender in Japan) gehört, da war ich wahrscheinlich 15 oder 16 Jahre alt. John Cage war schon bekannt - in den einschlägigen Büchern konnte man Artikel über ihn lesen. Außerdem konnte man damals auch schon zeitgenössische Musik im Radio hören. Wenn man beispielsweise das ganze Jahr über ständig NHK hörte, hatte man auch damals Gelegenheit, zeitgenössische Musik zu hören. Ich habe Cage also nicht zum ersten Mal in dieser NHK-Sendung gehört, sondern kannte seinen Namen bereits. Zudem ist „Etcetera 2" ein Werk aus den 1980er Jahren. Im Vergleich zu Werken aus den 1960er Jahren ist es klanglich eher gemäßigt, aber es ist einfach total langweilig und man versteht nicht, was das soll. Verglichen mit Bartók, Joji Yuasa oder Toru Takemitsu, die ich normalerweise hörte, war es wirklich absolut abgefahren. Da kommen fünfzig Erwachsene und vier Dirigenten zusammen und dann kommt dabei so etwas Unbegreifliches heraus. Ich meine, wenn es da nicht irgendeinen Sinn gäbe, dann funktioniert so etwas doch nicht. Da ertönt ab und zu ein längeres „tuut“, dann ein kurzes „tut“ und dann wieder ein „tuut“, und das geht dann eine halbe Stunde lang so weiter. Dazu erklangen im Hintergrund ganz leise Umgebungsgeräusche, die Cage selbst auf Kassette aufgezeichnet hatte, und vermittelten so den Eindruck, dass man Geräusche von draußen hört.
Bei John Cage gibt es keine Fokussierung, aber ich war überrascht von dieser unglaublichen Wirkung des Fehlens eines Fokus. Es war weniger, dass ich es interessant fand, sondern vielmehr habe ich mich gefragt, was diese furchtbar langweilige Sache wohl sei, zu der sich so viele Menschen zusammengefunden hatten. Mir ist dabei klargeworden, dass es bei Musik nicht nur um die Freude am Klang geht oder darum, einen bestimmten Klang zu erzeugen, sondern auch darum, dass man sein Verständnis von der Welt so wie es ist in seinen Werken zum Ausdruck bringen kann. Ich habe viel darüber gelesen, aus welchen Überlegungen heraus Cage so vorging, aber für mich kann ich sagen, dass ich wirklich zu 100 % von Cage gelernt habe, dass man sein Weltverständnis direkt in seine eigenen Werke einfließen lassen kann.

KK: Hat Sie das dann später dazu gebracht, an der Universität Philosophie zu studieren? War Ihr Wunsch, die Welt durch die Musik zu begreifen, letztlich der Ausgangspunkt für ihre Beschäftigung mit der Philosophie?

Adachi: Ja schon, aber Interesse an der Philosophie hatte ich schon vor der Begegnung mit Cage. Es gab tatsächlich eine Phase, in der ich mich intensiv mit der östlichen Philosophie auseinandergesetzt habe. Ich stamme aus Kanazawa, traditionsreicher Stadt am japanischen Meer, und das war mit ein Grund dafür, dass ich nachdem ich in die Oberschule kam, in einem Tempel Zen praktiziert habe. Es war also weniger so, dass ich über Cage dazu kam, sondern mein Interesse an beidem fiel zeitlich zusammen und fügte sich gut ineinander. Das Kapitel östliche Philosophie habe ich danach aber für mich abgeschlossen. Cage hatte teilweise auch recht eigenwillige Vorstellungen vom Zen-Buddhismus. Später habe ich da eine Menge Widersprüche gespürt und erkannt, dass dies nicht das Richtige für mich war. Aber es ist schwer zu sagen, was zuerst da war: die Philosophie oder das Interesse an Cage. Für mich kam beides - sehr passend - ziemlich zur gleichen Zeit.

KK: Sie haben Philosophie studiert, waren parallel dazu aber auch sonst sehr aktiv, sie haben komponiert und musiziert.

Adachi: Anfangs war es vergleichbar mit den Clubaktivitäten an der Uni. Im P3 art and environment in Yotsuya, Stadtteil in Tokyo, gab es eine Klanginstallation von Cage mit dem Titel „Writings through the Essay: On the Duty of Civil Disobedience” (1993). Damals war P3 die Location in Tokyo, an der die spannendsten Ausstellungen, Installationen und Konzerte stattfanden. Ich glaube, ich war 18 oder 19, als der Bassist Motoharu Yoshizawa, einer der Vorreiter des Free Jazz in Japan, im P3 einen Improvisationsworkshop ins Leben rief. Ich nahm daran teil und machte dadurch neue Bekanntschaften und freundete mich auch mit den Leuten vom P3 an, die Verständnis für mein Interesse an Cage zeigten. Sie sagten: "Wir führen auch viele Werke von Cage auf, willst du mitmachen?“ Damit begann alles und später ergab sich daraus dann die Gelegenheit, in der Konzertreihe von Mamoru Fujieda im Setagaya Art Museum aufzutreten.

KK: Nach Ihrem Studienabschluss sind Sie fast jeden Monat irgendwo aufgetreten und waren sehr vielseitig aktiv – z.B. mit dem Tomomi Adachi Royal Chorus oder dem Tomomin Orchestra. Was kann man sich darunter vorstellen und wie kamen Sie dazu?

Adachi: Mit dem Royal Chorus habe ich anlässlich des MUSIC MERGE FESTIVALs begonnen, das Yoshihide Otomo mit einigen anderen Künstler*innen im großen Saal der Hosei-Universität veranstaltete. Der Royal Chorus war im Grunde genommen eine Gruppe, die gemeinsam Musik machte, ohne dass es dabei auf die richtige Tonhöhe ankam. Bei Chören wird immer wahnsinnig viel Zeit darauf verwendet, die richtige Tonhöhe und die reine Harmonie zu finden. Ich war schon lange der Meinung, dass man noch viel mehr machen könnte, wenn man nur auf diesen Teil verzichten würde. Ich wollte Musik machen, bei der die Tonhöhen nicht aufeinander abgestimmt werden müssen - eine Musik, die dafür aus anderen Elementen, nur aus Phonemen und Rhythmen besteht. Daraufhin sprach ich einige meiner Bekannten an. Es reichte, wenn sie Achtel- und Viertelnoten unterscheiden konnten, aber sie sollten andererseits keine Hemmungen haben, mit lauter Stimme zu singen und zu sprechen. Am Anfang waren wir etwa acht Personen.
Beim Tomomin-Orchester lief es so, dass ich zuerst das Musikinstrument Tomomin gebaut habe. Zeitgleich mit meinem Auftritt in Atsushi Sasakis Performancereihe UNKNOWN MIX (1994) sollte ein Flohmarkt stattfinden, auf dem alle CDs verkaufen. Ich dachte mir, es wäre doch cool, Musikinstrumente zu verkaufen. In der Genealogie der sogenannten elektronischen Musik fand ich amerikanische Künstler wie David Tudor oder Nicholas Collins, mit dem ich heute noch befreundet bin, mit ihren selbstgefertigten Instrumenten total faszinierend. Ich dachte mir, wenn ich mir einen Lötkolben besorge, werde ich schon irgendetwas bewerkstelligen. Früher, als ich neun oder zehn war, hatte ich mich intensiv mit Elektronik beschäftigt. Ich kannte mich einigermaßen mit integrierten Schaltkreisen aus, konnte löten und wusste, wie Schaltkreise funktionieren. Darum dachte ich mir, dass ich eigentlich so ein Instrument hinbekommen sollte.
Zuerst habe ich dann einen einfachen Sender gebaut. Man konnte damit ein unglaublich großes Glissando erzeugen, aber keine bestimmte Tonhöhe halten. Ich gab dem Instrument den Namen Tomomin und brachte fünf Tomomin zum UNKNOWN MIX mit. Bevor der Saal öffnete, hatte ich bereits alle fünf Tomomin an andere auftretende Künstler*innen verkauft. Danach baute ich fast 100 weitere Tomomin. Mit diesen traten wir als Tomomin Orchester auf und spielten u.a. Tschaikowskis Klavierkonzert. Die Tomomin-Tonhöhen waren alle unterschiedlich, aber wir baten einen richtigen Pianisten dazu, und dann passte alles irgendwie zusammen.
Früher gab es z.B. die Portsmouth Sinfonia, ein Amateurorchester, das in den 70er Jahren von Gavin Bryars gegründet worden war, und dem sich auch Brian Eno und andere anschlossen. Ich fand es spannend[KK1] , dass Amateure, die kein Instrument beherrschten, gemeinsam als Orchester berühmte Stücke spielten. Das hatte ich natürlich im Hinterkopf. Mich hat fasziniert, dass etwas ganz anderes herauskommt, wenn Laien spielen.
Später trat der Royal Chorus relativ regelmäßig im MANDA-LA2 u.a. auf. Als ich Tonaufnahmen davon an John Zorn schickte, antwortete er umgehend, dass er gerne eine CD herausbringen wolle. Die Zusammensetzung des Chors blieb zunächst fast unverändert, nach etwa fünf Jahren hatte dann etwa die Hälfte der Mitglieder gewechselt.

KK: Daran anknüpfend geht meine nächste Frage sehr viel weiter in die jüngere Zeit. Ihre Projekte nahmen mit der Zeit immer größere Dimensionen an, wie z.B. die Veranstaltungen auf dem Fischmarkt. Aber die zentrale Idee dahinter war, Nicht-Musiker*innen in die Projekte einzubeziehen?

Adachi: Früher habe ich auch an politische Dinge gedacht. Ich denke, Musik ist etwas, das jeder machen kann. Das hängt auch mit mir selbst zusammen: ich habe nie eine spezielle Musikausbildung genossen, mir fehlt also die Technik, aber ich bin überzeugt, dass es möglich ist, interessante Musik zu machen, wenn man nur die Ideen hat. Das ist eine konzeptkünstlerische Denkweise des Modernismus. Noch wichtiger war - und ist mir auch heute noch - der Wunsch, etwas zu tun, das einem Spaß macht und dass Menschen für eine gewisse Zeit zusammenkommen und sich begegnen. Dabei geht es nicht darum, dass diese Menschen diese Gemeinschaft danach fortführen, sondern dass sie zeitweise zusammenkommen und durch diese Begegnungen immer neue Schichten in der Gesellschaft gebildet werden. Deshalb habe ich damals an die gesellschaftliche Funktion der Musik geglaubt - zur Hälfte tue ich das heute noch – aber damals war ich wirklich davon überzeugt.
Die Teilnehmer*innen machen aus unterschiedlichen Gründen mit, das lässt sich natürlich nicht steuern. Es ist durchaus eine etwas andere Erfahrung, ob man als Zuschauer teilnimmt oder ob man selbst auftritt. Darum finde ich es interessant, wenn man etwas von dieser Erfahrung mit ins normale gesellschaftliche Leben nach Hause mitnimmt. Man muss ja nicht das Leben der Person verändern, aber ich dachte mir, dass man dadurch vielleicht ein klein wenig Bewegung erzeugen kann. Musizieren an sich ist ja etwas, das Spaß bereitet. Ich betrachte es als Teil meiner Arbeit, die Gelegenheit dafür zu bieten, und es wäre schön, wenn dies das Leben der Menschen zumindest ein klein wenig verändern würde. Unter „verändern“ verstehe ich dabei das Aufzeigen von Möglichkeiten, anders sein zu dürfen, als man gerade ist, und ich denke, das ist sehr wichtig.
Nehmen wir z.B. das seit vielen Jahren laufende Projekt "Art Access Adachi: Downtown Senju – Connecting through Sound Art", das von der Tokyo University of the Arts und dem Tokyoter Bezirk Adachi getragen wird. Im Rahmen dieser Projektreihe fand 2011 auf dem Adachi-Fischmarkt das Projekt „NUo“ statt. Seitdem wurden diverse Veranstaltungen auf dem Markt organisiert, aber mein Projekt „NUo“ war das erste dieser Reihe. Bei meinen Events erläutere ich den Beteiligten meist, dass wir uns viel auf dem Eventgelände hin- und herbewegen. Am Anfang gestaltet sich das immer sehr schwierig, weil meine Gegenüber nicht verstehen, was ich sagen will, und ich selbst merke auch, dass sie wahrscheinlich nicht begreifen, wovon ich rede. Trotzdem gebe ich mein Bestes um sie zu überzeugen. Natürlich bemühen sich auch die beteiligten Studierenden wahnsinnig. Das hat u.a. dazu geführt, dass ein Fischhändler, der an dem Event mitwirkte, so begeistert war, dass er seitdem immer mit dabei ist. Ich will mich ja nicht selbst loben, aber ich fand das wirklich toll und war beeindruckt.

KK: Sie haben vorhin gesagt, dass jeder Mensch Spaß an der Musik haben kann, aber für Laien ist es doch recht schwierig, sich aktiv einzubringen. Natürlich hört jeder gerne Musik, aber selbst wenn man aktiv mitmachen will, scheitert es z.B. daran, dass man kein Instrument spielen kann. Die Kluft zwischen dem, was man selbst tun möchte, und dem, was man kann, führt dazu, dass man aufgibt. Aber Menschen, die durch derartige Projekte mit Musik in Berührung kommen, sammeln dabei sicher wertvolle Erfahrungen.

Adachi: Bei einem solchen Projekt wird zwar geprobt, aber nur z.B. drei Mal, mehr nicht. Das ist etwas anderes, als wenn man ein Jahr lang jedes Wochenende probt, die Teilnehmer*innen müssen also nicht so viel Zeit opfern. Aber dafür ist es für diese Menschen wahrscheinlich eine völlig neue Erfahrung. Ich weiß nicht, ob sie das als interessant empfinden, aber ich sehe es als eine meiner Aufgaben, den Teilnehmern zu zeigen, dass man solche Dinge tun kann. Voraussetzung ist, dass das Ganze einigermaßen einfach umzusetzen ist. Einerseits einfach, aber gleichzeitig kommt dabei auch etwas unglaublich Komplexes heraus. Die Tonhöhe muss zwar nicht stimmen, aber jeder einzelne Ton für sich ist einzigartig. So entsteht auf ganz einfache Weise etwas sehr Komplexes, das sich nicht in Noten ausdrücken lässt. Die Anweisungen verfasse ich mal in Noten, mal sage ich z.B. „wenn ich (an dieser Stelle) mit der Hand dieses Zeichen gebe, gebt bitte einen beliebigen Ton von euch“. Ich sage zwar auch dazu, dass die Teilnehmer*innen auf die Klänge um sich herum achten sollen, aber das wird mal mehr mal weniger eingehalten - jeder Mensch hat ja auch unterschiedliche Fähigkeiten. Ich sehe es als meine Aufgabe zu überlegen, wie man es bewerkstelligt, dass diese Menschen, die unterschiedliche Fähigkeiten haben, unterschiedlich denken und reagieren, gemeinsam etwas Neues erschaffen, das nur in dieser Zusammensetzung und an diesem Ort entstehen kann.

KK: Bisher habe ich Sie zu Ihren Aktivitäten in Japan befragt, aber seit 2012 sind Sie in Deutschland aktiv. Führen Sie dort auch partizipative Projekte durch?

Adachi: Ja schon, aber das ist in Deutschland tatsächlich ziemlich schwieri[KK2] g. Dort ist alles nach Fachgebieten aufgeteilt, d.h. es ist genau festgelegt, wer Musikexperte ist und wer nicht. Viele denken, dass man eine entsprechende Ausbildung durchlaufen haben muss. Wenn wir beispielsweise in Berlin ein Projekt ankündigen, zu dem sich jedermann anmelden kann, kommen letztendlich nur Künstler*innen und keine „normalen Bürger*innen“, obwohl es eigentlich massenweise Menschen geben müsste, die keine (Musik)Expert*innen sind. Man kann dann natürlich z.B. Tänzer*innen musizieren lassen, aber trotzdem wird daraus dann immer noch kein Projekt mit Nicht-Künstler*innen.
So etwas wie eine „lokale Gemeinschaft“ bildet sich in Berlin nur schwer heraus und man wird sie in Deutschland überhaupt kaum finden[KK3] . Es wird deutlicher zwischen professionellen und nicht-professionellen Musiker*innen unterschieden als in Japan. In Japan gibt es zahlreiche Amateurorchester, die auch unglaublich gut sind. Vergleichbares findet man (in Deutschland) nicht. Ich habe schon mit Amateurchören in Deutschland zusammengearbeitet. Die meisten betreiben das aber sehr hobbymäßig, d.h. bis zu einem gewissen Grad ziehen die Leute mit, aber alles was darüber hinausgeht, wird mit dem Argument abgelehnt: „wir haben keine Zeit“. Das erschwert die Sache. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, aber wenn ich ehrlich bin, gibt es in Deutschland wenig Gelegenheit, mit Amateur*innen zusammenzuarbeiten. In Japan hat die Kunst einen niedrigen Stellenwert in der Gesellschaft, darum melden sich Amateure eher, wenn man sagt, dass man etwas mit der Gesellschaft zusammen macht[KK4] . Umgekehrt hat hier (in Deutschland) die professionelle Musik bereits einen fest etablierten Platz in der Gesellschaft, darum scheint es mir im Gegensatz zu Japan schwieriger, sich aus diesem vorgegebenen Rahmen zu lösen.

KK: In Berlin konzentrieren sich Ihre Aktivitäten also im Wesentlichen auf Ihre Solokonzerte und Live-Auftritte. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal etwas in die Vergangenheit zurückgehen: Kann man sagen, dass die Begegnung mit der Lautpoesie Ihre (künstlerische) Ausrichtung und Ihren Stil geprägt hat?

Adachi: Bei meinen Soloauftritten besteht zwar häufig auch ein Bezug zur Lautpoesie, aber trotzdem ist die Elektronik natürlich wichtig. Da ist die Stimme, und die Lautpoesie hängt mit der Stimme zusammen. Elektronik ist die Modulation der Stimme. Entwickelt hat sich das bei mir folgendermaßen: Eingangs hatte ich bereits David Tudor erwähnt. Seine elektronischen Klänge fand ich wahnsinnig interessant – sie haben mein Interesse an Elektronik und elektronischer Musik geweckt. Es ist faszinierend, die Stimme mit Effektgeräten zu verändern. Wenn man beispielsweise ein Effektgerät für E-Gitarre für die Stimme verwendet, kann man viele interessante Effekte erzielen und nie gehörte Klänge erzeugen. Außerdem gab es damals kaum jemanden, der so etwas machte. Vor allem für Menschen, die mit ihrer Stimme arbeiten, ist die natürliche Stimme das Allerwichtigste - viele mögen Elektronik überhaupt nicht und nutzen sie deshalb auch nicht. Bei mir fing es damit an, dass ich mich fragte, weshalb die anderen die Elektronik nicht einsetzten. Die Stimme kam bei mir also erst nach der Elektronik.

KK: Das war in den 1990er Jahren, zu der Zeit als Sie die Tomomin bauten...

Adachi: Ja, das war um 1992 herum. Aber die Stimmen damals hatten nichts mit Gesang zu tun. Die Stimme diente als Klangmaterial für die Elektronik. Ich fragte mich, woher diese Art, die Stimme einzusetzen, wohl käme und stieß dabei auf Kurt Schwitters „Ursonate“. Seine Herangehensweise, Phoneme zu organisieren, sich nicht auf eine Tonhöhe zu fixieren, sondern vielmehr dem Wort seine Bedeutung zu nehmen und diese (bedeutungslosen) Worte (= Phoneme) neu zu ordnen – dies lag mir viel näher als Gesang. Als Erstes ging ich ins Goethe-Institut Tokyo und machte eine Kopie der „Ursonate“ aus dem Gesamtwerk Schwitters. Ich benutze diese Kopien immer noch. Ich weiß nicht, wo es damals in Japan noch irgendwo anders eine Ausgabe davon gab. Das muss etwa 1993 gewesen sein. Ich ging in die Bibliothek und fragte: „Ich möchte gerne die „Ursonate“ von Kurt Schwitters einsehen. Haben Sie sie da?“ Die Antwort war „Ja!“ und so machte ich dort massenweise Kopien.

KK: Sie haben ja schon früher bei Projekten mit dem Goethe-Institut zusammengearbeitet.

Adachi: Mein allererster Auftritt war bei „Puddles“(2001). Das brachte mich dann schließlich nach Europa. Damals gab es in Kanda eine Galerie namens Gallery Surge, die vergleichbar mit (den) Künstlerinitiativen in den Niederlanden, Japan, Deutschland oder Amerika war. Damals hörte man überall von sog. "Künstlerinitiativen" – ähnlich den Künstlerhäusern in Deutschland. Das sind mit Fördermitteln betriebene Einrichtungen, in denen Künstler*innen zusammenkommen, zusammenleben und in Eigenregie - ohne die Unterstützung von Kurator*innen - Dinge auf die Beine stellen. Es gab auch Bemühungen, diese Initiativen international miteinander zu vernetzen. In Japan spielte die Gallery Surge dabei eine zentrale Rolle. Man gründete eine Art internationales Netzwerk namens „Puddles“ und veranstaltete Ausstellungen und Performances. Der bekannte, inzwischen leider verstorbene Direktor der Gallery Surge, Shinichi Sakai, hatte wohl über irgendjemanden von mir gehört und kontaktierte mich. Das Projekt klang interessant und so traf ich mich mit ihm. Da fragte er mich aus heiterem Himmel, ob ich nicht nach Münster und Dortmund gehen wollte. Ich glaube, das Goethe-Institut war damals auch die ganze Zeit mit involviert. Unter dem Namen „Puddles“ wurde ein Symposium mit Fokus auf Künstler*innen veranstaltet, die aus Deutschland eingeladen worden waren. Dabei sollte es auch eine Performance geben - das war mein erster Auftritt im Goethe-Institut.

KK: Sie arbeiten jetzt seit zehn Jahren in Berlin, haben Sie vor, auch in Zukunft dort weiterzumachen? Wie haben Sie die Zeit während der Pandemie verbracht und was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Adachi: Es ist nicht wirklich so, dass ich einen Zukunftsplan hätte, nach dem ich vorgehe - ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was ich in den nächsten ein oder zwei Jahren tun werde. Grundsätzlich ist es ja so, dass ich von anderen für Projekte angesprochen werde. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich überhaupt keine Vorstellung, wie lange ich bleiben würde. Wegen der Pandemie gab es natürlich auch Phasen, in denen Auftritte nicht möglich waren, das war schon eine schwere Zeit. Aber ob sich das Virus nun ausbreitet oder nicht, hat grundsätzlich nichts mit dem Menschen zu tun und ist mir egal. [KK5] Außerdem bin ich auch kein großer Freund davon, bestimmte Dinge nur zu tun, weil gerade eine Pandemie herrscht. Wenn man diese Dinge auch ohne Pandemie machen würde, fände ich es in Ordnung. Ich selbst mache gezwungenermaßen z.B. auch Live-Streaming, aber das ist meines Erachtens nicht die Aufgabe eines Künstlers. Ich bin sehr gespannt darauf, welche Bedeutung das Live-Streaming haben wird, wenn die Pandemie vorüber ist. Es kommt mir etwas seltsam vor, dass wir momentan notgedrungen solche Dinge machen, darum distanziere ich mich davon. Ich weiß nicht, ob Sie meine Telepathie-Projekte kennen. Zusammen mit Jennifer Walshe habe ich vor etwa sieben oder acht Jahren ausprobiert, ob uns eine telepathische Improvisation gelingt. Das war so ein Experiment, das sich gerade für Pandemiezeiten eignet. Danach habe ich im Auftrag der Akademie der Künste während der Pandemie eine telepathische Improvisation veranstaltet, aber ich finde es nicht richtig, bestimmte Dinge zu tun, nur weil zurzeit nichts anderes möglich ist. Denn das, was eine Performance interessant macht, geht verloren, wenn man sie – obwohl man sie eigentlich auch live machen könnte - absichtlich per Telepathie durchführt. Es war also in vieler Hinsicht eine schwierige Zeit, aber im Grunde genommen denke ich nicht, dass das unbedingt an der Pandemie lag.

KK: Wie läuft ein Telepathie-Konzert konkret ab?

Adachi: Im Internet finden Sie Aufzeichnungen von unseren telepathischen Improvisationen[KK6] . Wir üben das. Wir improvisieren jeweils zur gleichen Zeit und hören uns über Telepathie gegenseitig zu. Wir setzen voraus, dass es so etwas wie Telepathie gibt und zeichnen daran anknüpfend unsere Performance gegenseitig auf, mischen die Tonaufzeichnungen und überprüfen dann, was passiert ist. Dann versuchen wir es noch einmal. Wir haben das wie bei normalen Proben mehrmals wiederholt und sind dann - wenn ich mich recht erinnere - zweimal in der Akademie der Künste aufgetreten. Dem Publikum sagten wir: „Wir werden jetzt eine telepathische Performance machen, hören Sie bitte telepathisch zu“. Das Ganze ist eine Art konzeptionelle Kunst. Wir alle nutzen das Internet, als wäre es so gut wie kostenlos, aber in Wirklichkeit ist es das nicht. Solche Dinge sind von irgendetwas abhängig. Wenn man jedoch telepathisch senden kann, ist man unschlagbar und völlig unabhängig. Man kann von zu Hause aus Konzerte geben und braucht nicht einmal das Internet.
Wenn wir Musik hören, dann glauben wir grundsätzlich, etwas außerhalb von uns selbst zu hören, aber in Wirklichkeit spielt sich alles in unseren Köpfen ab. Ideal wäre es, wenn wir so weit kämen, ohne Zwischenmedium nur diese Vorstellungskraft zu aktivieren. Bei unseren Projekten versuchen wir, bis zu diesem ultimativen Zielpunkt vorzudringen.

KK: Ich habe den Eindruck, dass wir wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren: Musik und Philosophie, und wie wir Musik hören.

Adachi: Wichtig ist jedoch, dass man es auch wirklich tut. Es geht also nicht nur um Konzepte, sondern darum, reale Erfahrungen zu sammeln. Wir sind zweimal in der Akademie der Künste aufgetreten. Das erste Mal anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des DAAD (2013). Jennifer und ich waren beide damals Artists-in-Residence des DAAD und so wurden wir gebeten, zu zweit etwas aufzuführen. Ich habe dem DAAD erklärt, dass das nicht möglich sei, weil ich zu dem Zeitpunkt unbedingt in Japan sein müsse. Stattdessen habe ich vorgeschlagen, dass wir eine Telepathie-Performance machen könnten, und der DAAD hat sofort zugestimmt. Jennifer performte damals vor einem Publikum in der Akademie der Künste und ich nahm mitten in der Nacht von Tokyo aus teil. Einen gewissen Kompromiss sind wir dabei allerdings eingegangen: hinter Jennifer wurde auf einem Screen über eine Skype-Schaltung gezeigt, was ich gerade machte. Jennifer konnte mich weder sehen noch hören, aber zumindest mitbekommen, dass ich etwas machte. So lief die Performance ab und danach haben wir unsere jeweiligen Tonaufnahmen zusammengefügt und veröffentlicht.

KK: Sie selbst haben Jennifers Performance auch weder sehen noch hören können? Und nur Sie waren auf der Leinwand in Deutschland zu sehen?

Adachi: Genau, ich konnte Jennifer physisch weder hören noch sehen. Keiner von uns beiden konnte den anderen sehen oder hören, wir spürten uns nur per Telepathie während wir performt haben. Das Ganze dauerte etwa zehn Minuten, wir machten das jeweils immer nur zehn Minuten lang. In Berlin vor Publikum, während ich in Tokyo ein Studio anmietete und von dort aus mitten in der Nacht performte.

KK: Danach konnte man sich dann die zusammengeführte Version der beiden Aufzeichnungen anhören?

Adachi: Ja, man kann sie hören, auch jetzt noch. Es gibt eine Soundcloud. Darin finden sich viele der Aufnahmen, die wir bisher gemacht haben. Die jüngste Aufnahme stammt aus dem vorletzten Jahr (2020). Wegen der Pandemiewaren waren wir zum Nichtstun verdonnert. Da kam die Akademie der Künste auf uns zu und fragte uns, ob wir nicht mit dem kurdischen Künstler Hardi Kurda zusammen ein telepathisches Konzert geben wollten. Die Akademie der Künste schrieb in der Ankündigung lediglich, dass das Konzert telepathisch sein würde. Es wurde auch nicht in der Akademie aufgeführt, sondern wir haben alle drei von zu Hause aus teilgenommen.

KK: Sie sind wirklich sehr vielseitig tätig, angefangen mit dem Bau von Musikinstrumenten über das Komponieren, Aufführungen Ihrer eigenen Werke oder der Werke anderer Künstler, das Kuratieren von Veranstaltungen, die Durchführung von Workshops, die Entwicklung von Musik-Apps und vieles mehr. Im Rahmen dieses Interviews konnten wir nur einen Bruchteil Ihrer Aktivitäten ansprechen. Gibt es Projekte aus der jüngsten Zeit, die Sie gerne an dieser Stelle noch vorstellen möchten?

Adachi: Ich interessiere mich grundsätzlich für die neuesten Technologien, insbesondere die Entwicklung der KI. Überall sind KI-Algorithmen im Einsatz – anfangs waren sie nur Forschungsinstituten und großen Unternehmen zugänglich, aber inzwischen kann sie im Prinzip jeder nutzen, der das möchte. Derzeit werden Algorithmen ausschließlich für Werbung und zur Überwachung eingesetzt, aber ich denke, es ist an der Zeit, sie für etwas Nutzloses – für die Kunst - einzusetzen. Bei einem Projekt z.B. habe ich meinen eigenen Improvisations-Avatar kreiert, und das Libretto für meine Oper „Romeo will juliet“, die letztes Jahr uraufgeführt wurde, wurde von KI geschrieben. Mit der Verbreitung von 3D-Druckern und der VR-Technologie ist es inzwischen auch möglich, den dreidimensionalen Raum in den Reproduktionstechniken abzubilden. Da sehe ich großes Potenzial

 [KK1]Nicht „ich“ (Adachi-san), sondern sie (Bryars und Eno) fanden es spannend

 [KK2]Nichte gerade einfach.

 [KK3]Stimmt das so?

 [KK4]darum kann man künstlerische Aktivitäten rechtfertigen, indem man eine gesellschaftliche Ebene betont.

 [KK5]Aber dass sich das Virus nun ausbreitet oder nicht, das geht über die menschliche Welt hinaus, und man sollte sich nicht allzu viel davon beeinflussen lassen.

 [KK6]https://soundcloud.com/putif
 

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