Zum 60-jährigen Jubiläum des Goethe-Instituts Tokyo
Neustart: Die Kraft der Kunst
Das Goethe-Institut Tokyo feiert in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen. Hier erfahren Sie, was alles im Jubiläumsjahr geplant ist.
Von Peter Anders
Nach den dunklen Jahren der Pandemie schütteln wir uns, atmen tief durch, blicken nach vorn und fragen uns, was denn nun von der auferlegten Kontemplation geblieben ist. Welche Stärken zeichnen uns aus, nachdem wir Resilienz bewiesen, selbstauferlegte Beschränkungen geduldet und digitale Kompetenzen erweitert haben? Wo stehen wir heute, welche Gewissheiten leiten uns und wie verbinden wir das „vorher“ mit dem „danach“? Und gerade in diesem Moment, in dem wir dieses Programm konzipieren, Ende Februar des Jahres 2022, sind wir erneut gefordert: Der Krieg in der Ukraine führt in Deutschland zu einer „Zeitenwende“ mit bisher nicht definierten Konsequenzen einer neuen europäischen Verortung. Dies wird nicht ohne Folgen für die Kulturarbeit bleiben.
Eine Institution wie das Goethe-Institut kann dabei auf eine lange Tradition der Selbstreflektion zurückblicken. Es ist ein Segen, dass die Bürde der thematischen Fokussierung, die zugleich Chance ist, nicht nur auf den eigenen Schultern lastet, sondern maßgeblich von denen abhängt, die mit uns Dinge gemeinsam erobern und verändern wollen. Und diese „Dinge“ sind so vielfältig wie menschliche Erfahrungen, die sich in der Begegnung entfalten – nicht immer nur zur reinen Freunde, sondern zuweilen auch zum Ärgernis. Kulturaustausch ist ein Seismograph der gemeinsamen Befindlichkeit, fällt er weg, verschließt sich das Tor zum Anderen.
In Tokyo arbeiten seit 60 Jahren Menschen im und mit dem Goethe-Institut daran, Erfahrungen in ein Verhältnis zu setzen, um Aussagen über das Leben in Japan und Deutschland zu ermöglichen – literarische Aussagen, musikalische, performative Interpretationen, philosophische Einsichten und wissenschaftliche Erkenntnisse zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft. 60 Jahre Leidenschaft, Visionen, Experimente - gemeinsame Erlebnisse, deren Kraft gerade in den vergangenen zwei Jahren während der Corona-Pandemie schmerzlich vermisst wurde und angesichts der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen noch einmal ganz neu an Bedeutung eines kollektiven Bewusstseins gewinnen. War das Verbindende, ja, auch das Heilende im Sinne des kollektiven Gemeinschaftserlebens, das die Kunst schaffen kann, schon am Ausgang pandemischer Zeiten besonders gefragt, so ist es dies nach den schrecklichen Verwerfungen kriegerischer Aggression erst recht.
Der 60ste Geburtstag spielt in der asiatischen Kosmologie eine ganz besondere Rolle: Nachdem sich der zwölfjährige Tierkreiszyklus zum fünften Mal geschlossen hat, gilt die „60“ als der kosmische Neubeginn. Wir verstehen diese Koinzidenz der Wiederkehr als grandiose Aufforderung, mit all jenen das Ende einer Krise und den Neubeginn zu feiern, die wie wir die Kraft der Kunst als Möglichkeit verstehen, über Geübtes und Gewöhntes hinaus Neues zu erkunden. Praxis zu ändern, indem wir sie durch die Erfahrung des Ästhetischen neu betrachten. Dies war und ist ein grundlegender Antrieb unserer Arbeit.
Wir wollen uns daran messen lassen, Künstlerinnen und Künstlern ein produktives Umfeld zu schaffen, das ihnen die Sicherheit und die Unabhängigkeit bietet, ihren alternativen Entwürfen nachzukommen. Dies geht über die Präsentation der Kunstwerke weit hinaus und schließt heute wie selbstverständlich die Produktion neuer Werke vor Ort ein. Schon seit sechzig Jahren fördern wir dabei auch längerfristige Aufenthalte wie etwa jenen von Karlheinz Stockhausen, der in Zusammenarbeit mit dem elektronischen Studio des NHK Kompositionen in Japan erarbeitet hat, die später weltweite Aufführungen fanden. Hier begründete sich eine lebenslange kreative Freundschaft zwischen Pina Bausch und Kazuo Ohno. Doris Dörrie begann mit Unterstützung unseres Hauses ihre Filme in Japan zu drehen, die in Deutschland das Bild Japans beeinflussten und Durs Grünbein verarbeitete die Eindrücke seiner Japanreisen in einer Sammlung von Haikus. Der Neue Deutsche Film prägte nicht nur eine Generation von Filmemachern hüben wie drüben, sondern auch die Sehgewohnheiten seines Publikums. Ähnlich nachhaltig wirkten freilich auch Kurosawas Filme und die Japanese New Wave.
G60 haben wir unser diesjähriges Jubiläumsprogramm betitelt und dabei nicht nur riskiert, mit einer flotten Automarke verwechselt zu werden. Wir haben damit ganz bewusst auf jene Bündnisse angespielt, bei denen sich verschiedene Partner um einen Tisch versammeln, um diese eine Frage zu beantworten: Wie schaffen wir es gemeinsam und ohne Nostalgie, sich mit einer Vorgeschichte zu konfrontieren, die Referenzen hinterlassen hat und Wegbereiter war für das, was heute einen Neubeginn markieren soll? Also, aus der Geschichte lernen, die Aktualitäten analysieren und daraus Räume entwickeln, die auf ein Morgen verweisen – dies haben wir uns zur Aufgabe dieses Jubiläumsjahres gemacht.
Der Abstieg in die Archive, lang gehegte Quelle kreativen Schaffens, spürt jenen Umbrüchen nach, die Energien für zukünftige künstlerische Erneuerung freisetzten und Räume z. B. in der Musik schufen - seit 1967 etwa im Rahmen des Japanisch-Deutschen Festivals für Neue Musik (ab 1976 „Panmusikfestival“).[1] Wie auch bei Veranstaltungen im Filmbereich durch Kommentierung neuer Kurz- und Dokumentarfilme schon 1962, nachdem das Oberhausener Manifest gerade erschienen war.[2] Ebenso früh rückte eine andere Form der experimentellen Kunst in den Fokus des Goethe-Institut, die vor allem durch live-events den konzeptuellen Ansätzen jener Jahre den Körper als Medium sozialer Praxis entgegensetzte, und damit der etablierten Kunstpraxis neue Impulse verlieh: die performance art.[3]
Den Blick freigeben auf das, was andernorts in der Welt geschieht und zugleich die Einübung in die kulturelle Praxis – dies schien schon in den frühen Jahren das Profil des Goethe-Instituts zu sein. Dabei galt es einerseits, die japanischen Interessen nach Internationalität zu bedienen und andererseits die Netzwerke so eng zu begründen, dass eine belastbare künstlerische Beziehung entstand, in der alle Beteiligte ihre Interessen verwirklichen konnten.[4]
Der Blick in die Archive macht Mut, den Weg des offenen Labors auch im G60 Jubiläumsjahr 2022 weiter zu beschreiten und nach neuen Freiräumen zu forschen, deren Revitalisierung es gerade nach zwei Jahren des Ausschlusses und der Isolation aufgrund der Coronapandemie so dringend für das kollektive Kunsterleben bedarf. So begeben wir uns im Rahmen des Programms unrest 62|22 auf eine Reise interaktiver Musik zwischen Mensch und Maschine. Uns interessieren jene Prozesse zwischen Musikelektronik, Computer und Mensch, die in den 60er Jahren gelegt wurden und die mit Klangsynthesen und Videoproduktionen auch clubkulturelle Phänomene in den folgenden Jahrzehnten bis heute bestimmten. Die Verbindung gemeinsamer hybrider Räume wird nicht nur den Mittelpunkt dieses Experiments von internationalen elektronischen Musik- und Klangkunstschaffenden bilden, sondern auch im Film und in der performance Kunst werden wir Linien zwischen kulturellen Avantgarden damals und heute aufzuzeigen versuchen.
Einen weiteren Schwerpunkt des G60 Programms nimmt neben der Neuen Musik, die im Herbst des Jubiläumsjahres gesondert gewürdigt werden wird, der Tanz ein. Kaum eine Sparte hat sich über die Jahrzehnte der gemeinsamen Kulturarbeit so enger Kooperation erfreut. Für diesen Schwerpunkt werden wir historische Materialien aufarbeiten und zugleich nutzen, um damit neue Produktionen anzuregen.
Mit diesem Programm, das im Verlauf des Jubiläumsjahres noch durch viele weitere Initiativen ergänzt werden wird, hoffen wir nicht nur, unsere Dankbarkeit für die wundervolle langjährige Kooperation mit unseren japanischen und deutschen Partnereinrichtungen zum Ausdruck zu bringen, sondern nach den Jahren der Pandemie und angesichts des Krieges auch die Kunst selber zu feiern. Sie sei, „…die höchste Form von Hoffnung“, so hat es ein anderer Jubilar des Jahres 2022, der 90jährige Maler Gerhard Richter, ausgedrückt. Dem wollen wir an dieser Stelle nichts hinzufügen.
Peter Anders
Institutsleiter
Goethe-Institut Tokyo
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[1] H.J. Koellreutter verband mit diesem Festival schon früh die programmatische Handschrift des Goethe-Institut: „Ich sehe das Kulturinstitut als ein Forum neuer Ideen, als einen Ort der Diskussion und eine Stätte des Experiments“. Zur Voraussetzung des Erfolgs von Kulturarbeit hieß es im Jahresbericht 1968: „An dem Erfolg und der Organisation sind die beratenden und mitwirkenden japanischen Komponisten und Musiker beteiligt. Sie betrachten das Festival unter dem Gesichtspunkt: Tua res agitur“.
[2] Die Chronik des Jahres 1962 verzeichnet für den Abend des 30.10.1962 folgende Veranstaltung: „Filmabend: Dr. Wilfried Berghahn kommentiert neue Kurz- und Dokumentarfilme“. Berghahn galt seinerzeit als das intellektuelle Zentrum der fortschrittlichen deutschsprachigen Filmkritik, deren wichtigstes publizistisches Forum - die Zeitschrift „Filmkritik“ – er als Chefredakteur gemeinsam mit Enno Patalas leitete.
[3] 1973 berichtete das Goethe-Institut dann auch folgerichtig nach Deutschland: „Eine Gruppe zur Planung, Ausarbeitung und Aufführung von Happenings ist im Aufbau“.
[4] 1966 heißt es im Jahresbericht des Goethe-Institut Tokyo: „Wer in Japan kulturpolitischen Erfolg haben will, muss nicht nur bereit sein, die eigene Kultur zu repräsentieren und zu geben, sondern er muss sie auch als verwandelten Besitz der Japaner noch lieben können. Nüchterner ausgedrückt: In Japan Kulturpolitik zu treiben, heißt, einen Nationalismus zu berücksichtigen, der im ganzen Fernen Osten und Südostasien keine Parallele hat. Die Schaffung einer internationalen Atmosphäre…ist das angestrebte höchste nationale Ziel.“