Ryusuke Hamaguchi:
Bericht von der Berlinale 2021
Von Ryusuke Hamaguchi
Die drei Sekunden, in denen mir das weiche und elastische, längliche Etwas ins rechte Nasenloch geschoben wird, verursachen eher Überraschung als Schmerz. So tief! Durch schlichtes Nasebohren kann man in diese Tiefe nicht vordringen. Das schmale und weiche Ding bahnt sich seinen Weg, ein Abstrich wird genommen. Nachdem der Stab in mir bisher unbekannte Tiefen meines Körpers eingedrungen ist und wieder herausgezogen wurde, habe ich eine Weile das Gefühl, die Landkarte meines Körpers sei neu gezeichnet. Ein wenig zumindest.
Um nach Deutschland einreisen zu können, braucht man die Bescheinigung eines negativen PCR-Tests, der maximal 72 Stunden vor der Einreise durchgeführt werden muss. Da mein Film „Wheel of Fortune and Fantasy“ bei der Berlinale mit einem Silbernen Bären (Großer Preis der Jury) ausgezeichnet worden ist, begebe ich mich am 10. Juni 2021 zusammen mit dem Produzenten Satoshi Takata zum PCR-Test in eine Klinik in Toranomon. Ziel unserer Reise nach Deutschland: die Preisverleihung und die Filmpremiere meines Films bei der Berlinale.
„Wheel of Fortune and Fantasy“ | ©︎ 2021 NEOPA / Fictive
Ist es der Position der Berlinale als einem der drei großen internationalen Filmfestivals geschuldet, dass man sich ohne Scheu vor dem enormen Arbeitsaufwand entscheidet, das Festival stattfinden zu lassen? Eine Absage der Berlinale hätte das große Straucheln der Filmbranche, das im vergangenen Jahr begonnen hat, noch verstärkt. Oder wollte man einem Verlust des internationalen Rangs vorbeugen, der mit einer Absage des Festivals einhergegangen wäre? Die Wahrheit weiß ich nicht. Über die Diskussionen, die im Festivalbüro geführt worden sind, ist nichts nach außen gedrungen. Als einfacher Teilnehmer des Festivals jedoch habe ich die Zweiteilung des Festivals als extrem sinnvoll empfunden. Mitten in der Corona-Krise ohne größere Komplikationen ein internationales Filmfestival zu organisieren – das ist allein mit Stolz nicht zu bewerkstelligen. Dafür braucht man die Intelligenz, Risiken abzuwägen, sowie die Fähigkeit, organisatorisch auf das Unvorhersehbare zu reagieren.
Die Risiken, die im Zuge der Corona-Pandemie zu einer Absage des Festivals führen könnten, sind vielfältig. Das größte Risiko ist, dass sich jemand durch Kontakt mit Infizierten ansteckt, in Quarantäne gehen muss und dann nicht mehr handlungsfähig ist. Das gilt auch für das Umfeld der infizierten Person – so kann eine einzige Ansteckung schließlich eine ganze Organisation lahmlegen. In Bezug auf die erste Festivalhälfte im März entscheidet sich das Berlinale-Büro durch die Verlagerung der Screenings und Verhandlungen in den digitalen Raum für eine maximale Reduzierung der Kontakte.
Allerdings gibt es da ein Problem. Kann man die Faszination eines Films auf dem Monitor eines Computers und mit Kopfhörern wirklich ausschöpfen? Hier ist vehementer Widerspruch geboten. Mit Haut und Haar spüren das besonders die Vertreter*innen von Filmverleihen. Da der Kauf eines Films enorme Auswirkungen auf die Zukunft der Firma haben kann, reicht das Seherlebnis am Computermonitor zumeist nicht aus, um eine so tiefgreifende Entscheidung zu treffen. Auch in dieser Hinsicht vollzieht das Berlinale-Büro also einen außergewöhnlichen Schritt.
Unter dem Titel „EFM (European Film Market) Goes Global“ werden weltweit in vier Städten Satellitenscreenings der Berlinale-Festivalfilme organisiert - darunter auch Tokyo. Das Kino Eurolive in Shibuya wird zur „japanischen Sonderspielstätte der Internationalen Berliner Filmfestspiele“. Natürlich können daran grundsätzlich nur professionelle Filmschaffende wie Vertreter*innen von Filmverleihen und Journalist*innen teilnehmen. In welchem Ausmaß sie durch das Sehen der Filme im Kino für ihre Arbeit des Kaufens (oder nicht Kaufen), des Schreibens (oder nicht Schreibens) davon profitieren, ist jedoch kaum zu ermessen. Für das Festival ist es im Vergleich zu vor 10 Jahren natürlich viel einfacher, Filmdateien in die jeweiligen Städte zu versenden. Zweifellos müssen aber auch hier Kosten und Risiken neu abgewogen werden.
Das Bekenntnis zum Seherlebnis auf großer Leinwand erstreckt sich auch auf die Arbeit der Jury. Von den sechs Jurymitgliedern des Wettbewerbs (alle ehemalige Gewinner*innen des Goldenen Bären) reisen – mit Ausnahme zweier Regisseur*innen, die keine Reiseerlaubnis bekommen haben – vier nach Berlin und begutachten im Rahmen ihrer Jurytätigkeit alle Filme auf der großen Leinwand. Wie ich hörte, haben sie die 15 Filme in drei Tagen gesehen. Ein enormes Pensum, bei dessen Bewältigung ihnen die große Leinwand, die gute Tonqualität und die bequemen Kinosessel bestimmt erheblich geholfen haben.
Nachdem “Wheel of Fortune and Fantasy” für den Wettbewerb ausgewählt worden ist, bekomme ich ab Anfang des Jahres regelmäßig E-Mails vom Festivalbüro, in denen „ungewöhnliche“ Maßnahmen mitgeteilt werden. Mit jeder E-Mail verstärkt sich mein Eindruck, dass das Festivalbüro mit der Formulierung „soweit wir das in der jetzigen Situation zusichern können“ das Risiko zwar minimiert, die für die Filmbranche essenziellen Funktionen eines internationalen Filmfestivals aber klar identifiziert und auf deren Erhaltung enormen Wert legt. Die Beobachtung, dass die Frage, auf welche Weise Filme und das Publikum sich begegnen können, dabei den Kern aller Überlegungen und Entscheidungen ausmacht, intensiviert mein Erstaunen noch. Natürlich ist es eine große Freude, dass mein Film am Ende mit einem Preis ausgezeichnet wird. Stärker als die momenthafte Euphorie über den Preis bewegt mich aber die Tatsache, dass dies durch die sorgfältige, minutiöse und nachhaltige Arbeit des Festivalbüros überhaupt erst möglich geworden ist.
Am 12. Juni kommen wir nach einem Stopover in Moskau am Internationalen Flughafen Berlin-Brandenburg an. Der Einreisevorgang zieht sich wie erwartet in die Länge. Nach Vorlage meines negativen PCR-Tests beim Beamten am Immigrationsschalter können wir endlich das Gate passieren. Lächelnd erwartet uns Elisa vom Festivalbüro, der man die Erschöpfung infolge des langen Wartens nicht anmerkt. Elisa hatte ich vorab bereits online kennengelernt – sie ist Italo-Japanerin und lebt seit 10 Jahren in Berlin, eine extrem verlässliche, viersprachige Person (sie spricht auch Englisch). Als sie uns in das Festivalauto setzt, erklärt sie: „Ich begleite euch bis hierher. Im Hotel wartet jemand anders vom Festivalteam auf euch“. Es ist eine Regel des Festivals, dass zur Verhütung von Infektionen das Personal nicht im selben Wagen fahren darf wie die Festivalgäste. Sie hat am Flughafen so lange gewartet - einfach nur, um uns ins Auto zu setzen.
Im guten Berliner Juniwetter werden in einem auf der Museumsinsel über der Spree aufgebauten Freilichtkino die Wettbewerbsfilme und die Preisträgerfilme der verschiedenen Sektionen gezeigt. Die Zuschauer*innen sind zum größten Teil Berliner Bürger*innen. Natürlich nehmen an der Berlinale professionelle Filmschaffende wie Produzent*innen, Käufer*innen und Journalist*innen teil, aber wichtiger ist die Offenheit des Festivals für das breite Publikum, die lokalen Bürger*innen. Das betont das Personal immer wieder. Dadurch habe ich einmal aufs Neue verstanden, warum sie mit so großer Entschlossenheit an dem physischen Anteil des „Summer Specials“ festgehalten haben. Endlich, in Berlin, ist die Gelegenheit da - mein Film wird vor einem größeren Publikum gezeigt. Auch in dieser zweiten Hälfte ist das Festival mit großer Sorgfalt und teilweise Strenge organisiert.
Vor dem Freilichtkino auf der Museumsinsel |
Als die offizielle Einladung zur Berlinale bei mir eingeht – im Mai - ist eine Einreise nach Deutschland ohne besonderen Grund noch nicht erlaubt. Möglich wird meine Reise nach Berlin allein durch ein formales Einladungsschreiben des Festivals. Bedingung für die Einladung ist die Reduzierung von Begleitpersonen auf ein Minimum – Regisseur*innen sollen möglichst allein anreisen. Da ich in Bezug auf die Kommunikation auf Englisch etwas unsicher bin, bitte ich das Festivalbüro, auch für den Produzenten Takata, der gut Englisch spricht, ein Einladungsschreiben auszustellen. Es ist – offen gesagt - ausgesprochen schade, dass die Schauspieler*innen und das Team, die sich über die Auszeichnung gefreut haben, nicht mitreisen können. Unter der Prämisse der Risikobegrenzung mit dem Ziel, eine Veranstaltung im physischen Raum zu realisieren, kann ich die Entscheidung aber nachvollziehen.Für den Fall, dass ich mich infiziert hätte und nicht nach Berlin hätte fliegen können, nehme ich etwa einen Monat vor dem Festival eine Videobotschaft auf und schicke sie nach Berlin. Glücklicherweise kommt das Video, das vermutlich mit englischen und deutschen Untertiteln gezeigt worden wäre, nicht zum Einsatz (die große Erleichterung, als ich das negative Ergebnis des PCR-Tests bekomme, ist mir noch in lebhafter Erinnerung). Wie die Abläufe beim Festival konkret organisiert sein würden, darüber war ich bereits vor meiner Abreise online informiert worden. Wie gestaltet man eine Preisverleihung, den roten Teppich und Fotosessions unter Einhaltung von Distanzregeln? In welchen Situationen muss eine Mundschutz-Maske getragen werden und in welchen nicht – all diese Dinge sind bis ins Detail geregelt. Es tut mir leid, dass ich hier meine Vorurteile ins Spiel bringen muss, aber dieses Programm wirkt auf mich in seiner Rigorosität wirklich „typisch deutsch“.
Am Tag nach meiner Ankunft, am 13. Juni erlebe ich – noch im Jetlag - die Preisverleihung. Auf der Vordertreppe der James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel wird ein Gruppenfoto der Jurymitglieder und Preisträger*innen gemacht. Gruppenfoto bedeutet in diesem Fall aber nicht, dass wir alle zusammenrücken, sondern die Beteiligten sind mit Abstand platziert. Das Foto verwandelt auf diese Weise Distanz in Symmetrie. Die Weisheit, eine unvorteilhafte Grundsituation anzunehmen und ins Positive zu wenden, kommt auch hier zum Tragen. Jurymitglieder und Preisträger*innen | © Ali Ghandtschi / Berlinale 2021 „Er ist kürzer als sonst“, sagt ein Teammitglied des Festivals etwas betreten, als man mir den Roten Teppich präsentiert. Mir erscheint er durchaus lang genug. Die Preisverleihung beginnt, und die Preisträger werden einer nach dem anderen auf die Bühne gerufen. Es sind etwa ein Dutzend Preisträger*innen mit Begleitung anwesend, und alle halten leidenschaftliche Reden. Auch eine Stunde, nachdem mein Auftritt eigentlich vorgesehen war, bin ich noch nicht an der Reihe. Als kurz nach neun Uhr die Sonne untergeht, steigt - vielleicht von der Spree - kalte Luft auf. Ich ziehe mein Jackett am Revers fest zusammen. Als mein Name und der Titel meines Films aufgerufen werden, sind meine Finger schon ganz kalt. Mit diesen kalten Händen nehme ich den Silbernen Bären entgegen. Es ist nicht erlaubt, dass jemand ihn mir überreicht, daher wird er auf der Bühne abgestellt. Er hat ein enormes Gewicht. „Hat damit bisher noch nie jemand einen Mord begangen?“ kommt mir in diesem Moment als reichlich deplatzierter Witz in den Sinn – ich halte mich aber zurück. Bestimmt haben alle anderen vor mir schon denselben Gedanken gehabt. Auf der Bühne nenne ich die Namen der Schauspieler*innen und des Teams, die nicht nach Berlin kommen können, und spreche dem Festival meinen herzlichen Dank aus.
Preisrede von Ryusuke Hamaguchi | Der Regieassistent von “Wheel of Fortune and Fantasy”, Toru Takano, ist gerade zum Auslandsstudium in Frankreich, er kann daher nach Deutschland reisen und in Berlin zu uns stoßen. Nicht allein das – er macht dankenswerterweise auch Foto- und Filmaufnahmen vom Festival. Als ich mit der Trophäe zur zweiten Fotosession komme, steht Takano schon in Position. Eigentlich hatte er gar keine Akkreditierung, aber dafür hat Elisa gesorgt. Takano ist der einzige Regieassistent, der bei allen drei Episoden des Films mitgewirkt hat. Als ich bei der Fotosession zum Lächeln aufgefordert werde, tue ich mich schwer (können sich die Fotografen da nicht noch etwas einfallen lassen?). Aber wenn mein Blick auf Takano trifft, der mir mit seiner Kamera entgegenstrahlt, gelingt es auf ganz natürliche Weise. Diese Fotos werden am Folgetag in den japanischen Medien publiziert. Ich zeige mein breitestes Lachen, was mir auch ein bisschen peinlich ist. Schlussendlich ist es aber richtig so, weil es die Gefühle zwischen uns beiden authentisch abbildet.
Nach der ausgedehnten Preisverleihung folgt eine abendliche Dinnerparty auf dem Balkon des Neuen Pergamon-Museums. Als wir - typisch japanisch - etwas verloren herumstehen, spricht uns der künstlerische Leiter der Berlinale, Carlo Chatrian, an. Während seiner Zeit als Leiter des Filmfestivals in Locarno hat er 2015 meinen über fünfstündigen Film „Happy Hour“ für den Wettbewerb ausgewählt. Das war meine erste Teilnahme an einem großen Filmfestival, daher verspüre ich gegenüber Carlo Dankbarkeit, dass er meinen Film entdeckt hat. Die Programmerin Aurelie Godet, die ich schon aus Locarno kenne und die man als festes Mitglied des „Team Carlo“ bezeichnen kann, beschreibt ihre Eindrücke zu meinem Film so: „Ich kann nicht beurteilen, ob die Schauspieler*innen in Deinem Film gut spielen. Trotzdem spüre ich bei ihnen eine besondere Persönlichkeit – auf eine ganz direkte Weise. Die Grenzen zwischen Person und Rolle verschwinden, und ich meine wirklich, diese Person selbst zu sehen. Das ist die große Freude beim Sehen Deiner Filme.“ Das deckt sich mit der Wahrnehmung, die ich selbst beim Drehen und Schneiden hatte. Auch beim Casting ist mein wichtigstes Kriterium, ob ich von der „Persönlichkeit“ der Schauspieler*innen fasziniert bin oder nicht. Dass sich diese Erfahrung auch über die Sprachbarriere hinweg überträgt, davon bin ich schlichtweg überrascht. Aurelie: „Du sagst in Deiner (nicht verwendeten) Videobotschaft: ‚Ich kann nicht persönlich kommen, aber ich freue mich auf die Begegnung meines Films mit den Zuschauern.‘ Das hat mir Angst gemacht – denn die Wirklichkeit hätte ja ganz anders aussehen können. Es bestand immer die Möglichkeit, dass der Film und die Zuschauer*innen sich letztendlich doch nicht begegnen können.“
Ich habe gehört, dass die Menschen in Berlin sich erst seit Juni wieder ohne Mundschutzmaske und ohne Einschränkungen in der Stadt bewegen können. Das Szenario einer Preisverleihung ohne Zuschauer*innen, nur vor Vertreter*innen der Presse, war also stets präsent. Jetzt, da ich die Veranstaltung vor Zuschauern erlebt habe, kann ich mir lebhaft vorstellen, wie kalt sie unter solchen Umständen ausgefallen wäre. Diese Vorstellung und die Furcht davor waren bis zuletzt ein ständiger Begleiter des Berlinale-Teams. Ich habe noch einmal gespürt, dass ihnen bei der Vorbereitung und Durchführung des Summer Specials die Angst immerzu im Nacken gesessen hat.
Am 14. Juni mache ich in meinem Hotel den PCR-Test für die Rückkehr nach Japan. Auch das ist vom Festival arrangiert worden. Ich bin innerlich schon auf eine Stoßtiefe wie in Japan vorbereitet (vielleicht hege ich sogar eine gewisse Erwartung), hier hingegen ist der Vorgang einfach nur etwas kitzlig, der Wattestab wird eher im Nasenloch hin und her bewegt. Da sich der Jetlag nicht wirklich gelegt hat, verbringe ich den Tag mehr oder weniger im Dämmerzustand, bevor ich abends zu einem Dinner mit m-appeal, dem Weltvertrieb von „Wheel of Fortune and Fantasy“, eingeladen bin. Es ist ein kleines Unternehmen mit einem multinationalen Team, Sasha aus Russland, Magda aus Polen, Lilla aus Ungarn - unter Leitung von Maren aus Deutschland. Ich habe gerade ‚klein‘ geschrieben, aber mein eigenes Produktionsteam ist natürlich auch nicht gerade ‚groß‘ zu nennen. Um glücklich arbeiten zu können, ist es essenziell, die Größe des Teams zu begrenzen. m-appeal hat sich meines Films durchweg mit großer Aufrichtigkeit angenommen, und ich habe immer gespürt, dass sie das Beste dafür wollen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass ich die Beteiligten vor Ort treffen konnte und wir gemeinsam auf den Film angestoßen haben. Über den Humor von Magda, die für die Kommunikation mit den Festivals in den verschiedenen Ländern zuständig ist, war ich amüsiert und verdutzt. Auf eine solche Weise kann man sich online nicht kennenlernen.
Am 15. erkunde ich zunächst die Museuminsel. Um Gerhard Richters Werke zu sehen, besuche ich die Alte Nationalgalerie. Sein dort ausgestellter vierteiliger Zyklus ist spektakulär – ich hätte ihn ewig betrachten können. Am stärksten haben mich aber die Gemälde des deutschen Malers Adolph Menzel fasziniert, die das gesamte Erdgeschoss einnehmen. Die hohe Präzision der Malerei, die darauf ausgerichtet scheint, den Blick in einem Höchstmaß auf die Fläche innerhalb des Rahmens zu konzentrieren und Menzels intensive Wahrnehmung von Licht und Dunkel führen mir den Unterschied zur zeitgenössischen Malerei vor Augen. Vor diesen Gemälden, die vor Kraft strotzen und nicht daran zweifeln lassen, dass es sich um einen der bedeutendsten Maler Deutschlands handelt, ist es mir ein wenig peinlich, dass ich Menzel bis dahin nicht gekannt habe, und zugleich bin ich beglückt über diese Begegnung.
Am Abend findet die Filmpremiere von „Wheel of Fortune and Fantasy“ statt. Die Karten sind ausverkauft, die Plätze sind - bei halber Kapazität - voll besetzt. Carlo ruft zusammen mit mir auch meinen Produzenten Takata und meinen Regieassistenten Toru Takano auf die Bühne. Ich danke für die Freude, dass mein Film endlich den Zuschauern begegnen kann. Auch um 19 Uhr ist es draußen immer noch hell. Wir setzen uns ins Publikum. Der Film beginnt. Das Freilichtkino ist mit einer hochbrillianten LED-Leinwand ausgestattet. Doch „Wheel of Fortune and Fantasy“ beginnt mit einer Folge relativ dunkler Szenen. Ich bin daher etwas in Sorge, ob die Zuschauer*innen den Film wirklich genießen können. Nach und nach kommen erste Lacher aus dem Publikum. In der zweiten Hälfte des Films ist es dann draußen dunkel – es herrscht eine Stimmung, in der Film und Stadt miteinander verschmelzen. Es weht ein Hauch von Popcornduft - Vögel fliegen auf die andere Seite des Screens. Das Lachen und die Stille, in der ich die Konzentration der Zuschauer*innen spüre, sind wie Wellen, die nach und nach heranrollen. Mit dem Beginn des Abspanns ertönt lauter Beifall. Ein Scheinwerfer ist auf mich gerichtet – ich stehe auf und verbeuge mich. Ich weiß noch nicht wirklich, wie ich mich in solchen Situationen verhalten soll.
Open-Air-Filmpremiere von "Wheel of Fortune and Fantasy" | Der Aufenthalt in Berlin ist wirklich kurz. Am frühen Morgen des 16. Juni kommen Luise vom Festivalbüro und Toru Takano, der noch länger in Berlin bleibt, zum Hotel, um uns zu verabschieden. Ich steige gemeinsam mit Takata wieder in den Festivalwagen, wir fahren los zum Flughafen. Ich sehe noch, wie die beiden uns zuwinken. Bei der Preisverleihung habe ich Kiyoshi Kurosawas Preisrede zu „Frau eines Spions“ bei den diesjährigen „Kinema Junpo Best 10“ imitiert. Kurosawa hat annähernd 30 Namen der Schauspieler*innen und des Teams auswendig genannt. Da ich noch genau weiß, wie tief mich bei dieser Gelegenheit die Nennung meines eigenen Namens berührt hat, wollte ich es genauso machen. Denn, Filme - das sind vor allem diese Menschen. Das gilt auch für Filmfestivals. Es sind die Menschen, die sie machen. Natürlich. Aber diese Wirklichkeit bleibt verborgen, wenn alles routiniert und systematisch abläuft. Die außergewöhnliche Situation der Pandemie hat umso deutlicher gezeigt, wie sehr der Berlinale ihre Gäste und deren Filme am Herzen liegen.
Was sind meine eigenen Ressourcen? Welches Maß an Risiko können wir tragen? Um Dinge voranzubringen, muss man diese Fragen abwägen und Ressourcen aufteilen. Allein dafür muss man der Berlinale eine außergewöhnliche Klasse bescheinigen. Am stärksten überzeugt hat mich aber die Haltung, die eigene Verantwortung für die Begegnung zwischen Filmen und dem Publikum zu hinterfragen und die vorhandenen Ressourcen dafür einzusetzen. Risiken so weit wie möglich zu minimieren, ist unerlässlich. Es gibt dabei aber eine Grenze, an der die Dinge ihre Bedeutung verlieren. Um etwas zu realisieren, muss man das größtmögliche und das kleinstmögliche Risiko auf sich nehmen. Das ist Klugheit. Dieser Gedanke wird umso stärker, wenn ich auf die Situation in meinem eigenen Land blicke, in das ich nun zurückkehre.
Ryusuke Hamaguchi
Nach seinem Studienabschluss in der Faculty of Letters der Tokyo University arbeite er zunächst als Regieassistent bei Film- und Fernsehproduktionen, bevor er ein Studium an der Graduate School of Film and New Media der Tokyo University of the Arts bei Kiyoshi Kurosawa aufnahm. Sein Abschlussfilm „Passion“ fand beim San Sebastian Filmfestival sowie bei der Tokyo FilmeX große Beachtung. Mit der Dokumentarfilmtrilogie „Voices from the Waves: Shinchimachi“ (2011-2013), bei der er gemeinsam mit Ko Sakai Regie führte, sowie seinem über vierstündigen Spielfilm „Intimacies“ machte er zunehmend auf sich aufmerksam. Sein Film „Happy Hour“, bei dem er sowohl das Drehbuch schrieb als auch Regie führte, wurde bei mehreren internationalen Filmfestivals, unter anderem in Locarno und Nantes, mit Preisen ausgezeichnet. Sein kommerzielles Spielfilmdebüt „Asako I & II“ (2018) wurde für den offiziellen Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Cannes ausgewählt. Für Kiyoshi Kurosawas Film „Wife of a Spy“, der bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig mit einem Silbernen Löwen geehrt wurde, zeichnete er gemeinsam mit Tadashi Nohara für das Drehbuch verantwortlich. 2021 gewann Hamaguchis neuester Film „Wheel of Fortune and Fantasy“ im Wettbewerb der Berlinale 2021 einen Silbernen Bären (Großer Preis der Jury). Unmittelbar in Folge wurde „Drive My Car“ im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Cannes gezeigt und dort als erster japanischer Film mit dem Preis für das beste Drehbuch und drei weiteren Preisen ausgezeichnet.