Performancekünstler und Choreograf
Michikazu Matsune
Sanfte Subversion und neue Perspektiven
Michikazu Matsune, Performancekünstler und Choreograf im Interview mit Makiko Yamaguchi, Goethe-Institut Tokyo
Wien im Lockdown
Yamaguchi (MY): Michikazu Matsune, Du arbeitest als Künstler seit langem in Wien. Du beschäftigst Dich in Deinen Arbeiten, die immer zugleich von Humor und kritischem Geist durchdrungen sind, mit diversen Themen. Ich möchte Dir viele Fragen stellen, unter anderem auch über Dein neues Werk Mitsouko & Mitsuko, das 2020 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt werden sollte, wegen der Corona-Pandemie aber auf 2021 verschoben wurde. Wie geht es den Künstlern in Wien im Lockdown?
Matsune (MM): Die österreichische Regierung hat ein Programm zur Unterstützung freischaffender Künstler initiiert. Wenn man einen Antrag stellt, erhält man zum Beispiel – abhängig von der Höhe des bisherigen Einkommens – bis zu 70% davon ausbezahlt. Bis März 2021 bekommt man Fördergelder für die Monate, in denen man keine Einnahmen hatte. Wenn man allerdings kein Deutsch kann, ist es wahrscheinlich schwierig. Künstler sind im Prinzip sogar noch gut dran. Wenn ich den Besitzer des China-Restaurants frage oder den chinesischen Inhaber des Friseurladens, zu dem ich häufig gehe, sagen sie, dass so ein Antrag viel zu kompliziert zu stellen sei. Künstler sind von jeher daran gewöhnt, Antragsformalitäten zu erledigen.
A scene from "All Together” (2018)
| © Maximillian Pramatarov
Meine Familie hat Ausbildende aus Süd- und Südostasien immer zu Hause aufgenommen
MY: Seit wann bist Du eigentlich in Europa?
MM: Ich wollte schon immer andere Kulturen kennenlernen und bin nach dem Abschluss der Oberschule nach Europa gegangen. Als ich ein Kind war, hat meine Familie als Gastfamilie Praktikant*innen aus Südostasien aufgenommen. Als ich 12 Jahre alt war, hat ein junger Nepalese mit Namen Niran für ein Jahr bei uns gewohnt. Auch danach haben jedes Jahr Praktikant*innen aus Ländern Süd- und Südostasiens wie Sri Lanka, Indonesien etc. für sechs bis zwölf Monate bei uns gewohnt. Sie wurden von einer NGO eingeladen, die sich die Unterstützung der Entwicklung Asiens zur Aufgabe gemacht hatte, und machten in Japan ein Praktikum in der Landwirtschaft oder Fischerei. Im Rückblick hat mich die Begegnung mit ihnen stark beeinflusst. Wenn ich zurückschaue, war für mich das Zusammenleben mit ihnen entscheidend. Durch den Kontakt mit diesen Praktikant*innen begann ich, mich sehr für andere Kulturen zu interessieren. Mit 15 Jahren bin ich nach Nepal gefahren, um Niran zu besuchen. Diese Erfahrung mit fremden Kulturen war für mich damals enorm wegweisend und führte dazu, dass ich nach Abschluss der Oberschule in eine andere Kultur eintauchen wollte. Dafür hatte ich eine öffentliche Oberschule mit Schwerpunkt Englisch besucht.
MY: Warum hast Du Dir Europa als Zielort ausgesucht?
MM: Weil die NGO, die Praktikant*innen nach Japan einlud, mit Asien zu tun hatte, habe ich überlegt, ob ich nach Asien gehen sollte oder in die USA bzw. nach Europa. Die Entscheidung fiel auf Europa, weil ich die Waldorfpädagogik kennenlernen wollte. Ich habe mich für Rudolf Steiner und alternative Pädagogik insgesamt interessiert. Damals dachte ich, dass ich in Zukunft vielleicht Lehrer werden möchte. Heute denke ich, dass ich auch durch die Interessen meiner Eltern beeinflusst wurde. Meine Eltern hatten eine kleine Firma für Naturkost gegründet und diese – noch bevor es Bio-Produkte in die Supermärkte schafften – nach Hause geliefert.
MY: Das ist ja interessant. Daher hattest Du natürlich auch schon von Waldorf gehört?
MM: Ich habe mich auch für Kunst interessiert. Aber ich wusste nicht, was ich machen sollte. Nach Abschluss der Oberschule habe ich dann in Dänemark den künstlerischen Zweig an einer Waldorfschule besucht.
MY: In einer Umgebung nur mit Englisch und Dänisch?
MM: Ja. Aufgrund meiner Erfahrungen mit den Praktikant*innen aus Südostasien machte es mir immer Spaß, mich mit Menschen aus anderen Ländern zu unterhalten. Ich hatte den starken Wunsch, Menschen anderer Kulturen zu treffen, mich mit ihnen zu unterhalten und mehr über sie zu erfahren. Ich glaube, diesen Drang habe ich auch heute noch.
MY: War das ein Ausgangspunkt für Deine künstlerische Arbeit?
Immer im Wechsel arbeiten: Stück für die Bühne und ausserhalb des Theaters
A scene from “What The Hell” (2017)
| © Bernhard Müller
MM: Im Rückblick kann man das vielleicht so sagen. In meine Stücke nehme ich in den letzten Jahren bewusst Erfahrungen und Wahrnehmungen aus meiner Kindheit mit auf.
MY: Warum?
MM: Vielleicht, weil ich endlich erwachsen geworden bin (lacht). Viele Jahre habe ich immer im Wechsel ein Stück für die Bühne und eine Arbeit außerhalb des Theaterraums geschaffen. Eines meiner neueren Bühnenstücke heißt All Together (2018). Insgesamt drei Performer*innen, inklusive mir selbst, sprechen in diesem Stück über Menschen, die in ihrem Leben in irgendeiner Form eine Rolle gespielt haben. Im Hintergrund der Bühne werden die Namen eingeblendet. Wenn dann zum Beispiel „Maya“ erscheint, das ist meine Schwester, dann spreche ich über meine Schwester. Als nächstes erscheint ein anderer Name, das ist auch der Name eines Bekannten von einem/einer von uns. Das kann ein Familienmitglied sein, ein Freund oder ein Lehrer von früher. Es erscheint also ein Name nach dem anderen und über diese Person wird dann etwas erzählt. Tatsächlich ist es so, dass alle, deren Namen eingeblendet werden, aus irgendeinem Grund nicht ins Theater kommen können. Meine Schwester zum Beispiel ist weit weg in Kobe und hat ein kleines Baby, sie kann also nicht kommen. Bei anderen sind es zum Beispiel ein Freund aus Kindertagen, die erste Freundin oder aber eine Person, die bereits verstorben ist. Das Theater ist ein Ort, wo Menschen zusammenkommen und über etwas nachdenken. Bei diesem Stück ist es hingegen so, dass man über Menschen nachdenkt, die gerade nicht zusammenkommen können.
A scene from “Homesick Festival” (2017) featuring Thomas Geiger’s “Livingroom Demonstration” I © Elsa Okazaki
MY: Ein Stück also, bei dem man auf das bisherige Leben zurückblickt. Gibt es andere Arbeiten von Dir, die in eine ähnliche Richtung gehen?
MM: Ich werde oft gefragt, ob ich manchmal Heimweh bekomme, weil ich schon so lange in Europa lebe. Ich habe immer mit Nein geantwortet. Vor etwa fünf Jahren aber, etwa seit der Zeit als meine Eltern gestorben sind, hatte ich den direkten Impuls mich mit dem Thema Heimweh auseinanderzusetzen. Daraus entstand das Projekt Homesick Festival (seit 2017). In Wien, dann Düsseldorf und Zagreb haben Künstler*innen aus der jeweiligen Stadt dabei mitgewirkt. Wenn uns jemand bucht, dann besuchen wir in einem Zweierteam das Haus dieser Person und zeigen dort unsere Performance. Unser Auftraggeber wiederum lädt noch weitere Freunde oder Gäste ein, die dann unser Publikum sind.
MY: Bedeutet das, dass Du in der Performance auf die Situation in der Wohnung des Gastgebers reagierst?
MM: Bis zu einem gewissen Grad ist Improvisation dabei, aber prinzipiell arbeiten wir die Performance aus, bevor zu den Gastgeber*innen gehen. Weil es ja kein Theaterraum ist, kann es auch schon mal sein, dass während der Performance alle um einen Tisch sitzen. Die Wohnung der Menschen, die uns eingeladen haben, ist sozusagen das Bühnenbild. Im Haus eines Menschen ist in der gegenwärtigen Form komprimiert, wie lange er dort schon wohnt, wo er herkommt, aber auch die Umstände und die Geschichte dieser Person. Die Situation in diesem privaten Raum durchdringt die Performance und die Performance reagiert auf das Haus und verschmilzt mit ihm. Es ist auch höchst interessant, wie sich das Leben dieses Bewohners oder die zwischenmenschlichen Beziehungen der versammelten Personen in der Performance widerspiegeln. Besonders beeindruckend fand ich einen Einsatz, bei dem uns jemand zum 80. Geburtstag seiner Mutter gebucht hatte. Alle Gäste hatten sich im Haus der Großmutter versammelt – die Performance fand im Kreis ihrer Kinder und Enkel statt.
MY: Du hast eben erwähnt, dass Du immer abwechselnd eine Arbeit für die Bühne und eine Arbeit außerhalb des Theaterraums inszenieren.
MM: Die Vorzüge der beiden kontrastieren miteinander, deshalb ist das für mich inspirierend. Bevor ich Store (2005 – 2013) gemacht hatte, beidem wir Live-Performances zum Verkauf anboten und das Du, Makiko, vor ziemlich langer Zeit auch gesehen hast, war ich als Tänzer im Bereich des zeitgenössischen Tanzes tätig. Das war meine Zeit als Tänzer. Von Steiners Eurythmie bin ich zum zeitgenössischen Tanz gekommen und habe 7 oder 8 Jahre lang als Tänzer in Wien und anderen Städten mit verschiedenen Choreographen zusammengearbeitet.
„Mitsouko & Mitsuko“
MY: Wien ist eine imposante und ‚mächtige‘ Stadt, in der man Geschichte spürt.
MM: Ja, es sind ja auch noch Gebäude der Habsburgermonarchie erhalten. Selbst Gebäude, die im Krieg zerstört wurden, hat man genau wie vorher wieder aufgebaut. In Deutschland wurden nach dem Krieg moderne Gebäude gebaut, in Österreich dagegen hat man wiederaufgebaut und restauriert. Man wollte sich nicht vom Glanz der Habsburger trennen. Auf den ersten Blick sieht die Stadt möglicherweise alt aus, wenn man sie aber besser kennt, dann kann man gut erkennen, dass auch Neues aufgenommen wurde. Gerade weil traditionelle Opernhäuser und klassische Musik so fester Bestandteil des Lebens sind, bildet das Neue, Zeitgenössische einen deutlichen Gegenpol dazu.
Für mein neues Stück Mitsouko & Mitsuko (Premiere im August 2021 bei den Wiener Festwochen), an dem ich derzeit arbeite, recherchiere ich zum Theater in Wien der 1910er bis 1930er Jahre und habe herausgefunden, dass man damals wahnsinnig experimentierfreudig war. Zum Beispiel haben Frauen Männerrollen gespielt. Das waren z.B. Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt in Paris und Ida Roland in Wien, die u.a. die Rolle des Napoleon gespielt haben. Wenn man sich jetzt Fotos davon ansieht, dann erinnert es ein wenig an die Takarazuka Revue (lacht). Diese Frauen waren damals Vertreterinnen des Feminismus, aber heute sind sie gänzlich in Vergessenheit geraten.
MY: Dann ist es eine wichtige Aufgabe, sie wieder aufleben zu lassen.
MM: Ja, genau. Zu Ida Roland habe ich zunächst recherchiert, weil sie die Ehefrau von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi war, der in der Geschichte meines Stücks eine wichtige Rolle spielt. Mitsouko & Mitsuko ist ein Projekt, das ich mit der in Berlin und Zürich lebenden Kuratorin Miwa Negoro begonnen habe. Es geht um die Zeit der Modernisierung in Japan und der Welt. Ein großes Thema ist, wie Individuen zum Spielball der Weltpolitik werden.
MY: Bitte erzähl uns mehr über die Arbeit, soweit möglich.
MM: Bei Guerlain gibt es ein Parfüm namens Mitsouko. Ich habe begonnen, nachzuforschen, warum das Parfüm nach einem japanischen Frauennamen benannt wurde, und meine Recherche zog dann immer weitere Kreise. Es heißt häufig, dass die mit einem Adligen aus dem Kaiserreich Österreich-Ungarn verheiratete Mitsuko Coudenhove-Kalergi Modell für dieses Parfüm war, das stimmt aber gar nicht. Mitsuko Coudenhove-Kalergis Sohn Richard hat ein Buch geschrieben, das für das Konzept der Europäischen Union als Grundlage diente, und hat diesen Gedanken auch ausgearbeitet und verbreitet. Es ist in Europa kaum bekannt, dass bei der Gestaltung der EU der Sohn einer Japanerin beteiligt war.
Neben dieser Mitsuko kam in einem zu jener Zeit in Frankreich geschriebenen, exotischen Roman eine Heldin mit Namen Mitsouko vor. Vor dem Hintergrund des Russisch-Japanischen Kriegs wird in dem Roman eine japanische Frau beschrieben, die zu jener Zeit keinen Kimono mehr, sondern westliche Kleider zu tragen beginnt. Das versteckte Thema ist also, wie sie im Konflikt zwischen Tradition und Modernisierung ihre Identität findet.
Elsa Okazaki Image for “Mitsouko & Mitsuko” (2021)
| © Michikazu Matsune
Damals war der Japonismus schwer in Mode, Japan war Gegenstand von Schwärmerei, und die Begeisterung richtete sich insbesondere auf japanisches Kunsthandwerk und japanische Frauen. Das galt auch für Frauen, die Kimono tragen. Das ist eine klischeehafte und stereotype Sichtweise, aber das war das falsch verstandene Bild einer japanischen Frau in den Augen von Europäer*innen. Bei der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 eroberten die Aufführungen von Sadayakko Kawakami die Welt im Sturm, aber daran erkennt man den westlichen und männerzentrierten Blick. Auf der anderen Seite warfen die Frauen in Europa ihr Korsett aus viktorianischen Zeiten ab und gerade geschnittene Kleider, die die Taille nicht einschnüren - wie wir sie auch bei Coco Chanel sehen - wurden zum Zeichen der Frauenbewegung jener Zeit und verbreiteten sich sprunghaft. Und genau hier kommt auch der Kimono ins Spiel.
im Gegenzug zur Japan-Begeisterung im Japonismus beschäftige ich mich in meinem Stück auch mit der damaligen These von „der Gelben Gefahr“ vor. Die Furcht vor einer möglichen Eroberung der Welt durch Ostasiaten führte zu Rassismus und breitete sich in Europa und den USA aus. Vor dem Hintergrund des Goldrauschsund der Abschaffung der Sklaverei strömten billige Arbeitskräfte aus China und Japan in die USA, insbesondere an die Westküste. Zu der Zeit, als sich die Diskriminierung von Asiaten im Zuge der Furcht vor der ‚gelben Gefahr‘ zunehmend verbreitete, kam der Schauspieler Sessue Hayakawa nach Hollywood und wurde mit Rollen als asiatischer Bösewicht zum Star. Er spielte unter anderem auch den Liebhaber in verbotenen Beziehungen und wurde unter weißen Frauen zum umschwärmten Idol. Für weiße Männer verkörpert er genau das Bild des furchterregenden Ostasiaten, der sich die Welt unterwerfen will und ihnen noch dazu die Frauen raubt. In Wirklichkeit waren in den USA zu dieser Zeit Liebesbeziehungen zwischen unterschiedlichen Rassen per Gesetz verboten. Aus heutiger Sicht birgt diese Situation sogar eine gewisse Komik. Im Kontext der damaligen sozialen Verhältnisse jedoch ist diese Story einleuchtend und überzeugend. In Mitsouko & Mitsuko beschreibe ich diese historische Phase, in deren Verlauf sich reale und fiktive Welten überschneiden.
Konzept einer Arbeit und deren Titel
MY: Von einem Parfüm ausgehend erstreckt sich das Stück also in viele Bereiche. 2016 wurde Dein Stück Dance, if you want to enter my country! zum Festival Kyoto Experiment eingeladen.
A scene from “Dance, if you want to enter my country!” (2015)
| © Michikazu Matsune
MM: Vor einigen Jahren hatte ich eine Phase, in der ich nicht wusste, in welche Richtung ich mich weiterentwickeln soll. Das schließt an das an, was ich vorhin gesagt habe, denn ich wollte ja meine eigenen persönlichen Erfahrungen neu beleuchten. Genau zu dieser Zeit wurde ich zu einem Gespräh mit
dem Künstler Chu Enoki in meiner Heimatstadt Kobe eingeladen. Chu Enoki macht seit den 1970er Jahren Happening-artige Performances, von denen ich schon lange begeistert war. Er ist derjenige mit der Nonsens-Performance, bei der er sich mit Hangari (halb geschoren) alle Haare seiner rechten Körperhälfte abrasierte, um nach Hungary (Ungarn) zu gehen. Er wohnt in Kobe auch nicht weit weg von meinem Elternhaus, so dass ich mich mit ihm eng verbunden fühlte. Für dieses Gespräch musste ich nach Japan zurückzukehren, aber mein Reisepass war gerade abgelaufen. Für die neuen Passfotos so habe ich mir die Augenbrauen abrasiert und mir diese Haare über dem Mund als Bart angeklebt. Mit diesen Passfotos habe ichmir bei der japanischen Botschaft in Wien einen Reisepass ausstellen lassen. Als Hommage an Chu Enoki. Die Geschichte von diesem Pass ist ein Teil des Werkes Dance, if you want to enter my country! (Premiere 2015).
MY: Die Titel sind immer sehr pointiert und humorvoll.
MM: Die Beziehung zwischen dem konzeptionellen Zugriff und dem Titel war mir schon immer wichtig. Was ich in den Titel einbaue, hat für mich eine spielerische Seite, ist aber auch ein wichtiger Bestandteil des Stückes. Ich denke viel darüber nach, auch über die geweckten Erwartungen und dann die Kluft zum tatsächlichen Stück. Dance, if you want to enter my country! basiert auf der realen Geschichte eines schwarzen Tänzers, der in Israel am Flughafen zum Tanzen genötigt wurde. Der US-amerikanische Tänzer Abdur-Rahim Jackson ist die Hauptfigur der Geschichte. Er ist Mitglied des Alvin Ailey American Dance Theatre in New York und wollte zusammen mit dem Tanzensemble für eine Aufführung an der Oper in Tel Aviv nach Israel einreisen. Da er einen muslimischen Namen hat, wurde er in ein extra Zimmer geführt und einer strengen Einreisekontrolle unterzogen. Um zu beweisen, dass er von Beruf Tänzer sei, wurde er dort dann tatsächlich zum Tanzen genötigt. Das ist die Geschichte von jemandem mit einem anderen kulturellen Hintergrund und anderen Eigenschaften als bei mir. In meinem Stück greife ich die Problematik auf, dass man anhand von Unterschieden deskulturellen Kontexts, der Körperlichkeit, Rasse etc. kategorisiert wird. Ich tanze das Stück, das sie auch in Israel an der Oper in Tel Aviv tanzten und das auf die Geschichte von Schwarzen Bezug nimmt. Ehrlich gesagt fand ich es ziemlich riskant, dieses Stück ausgerechnet in Österreich oder Deutschland aufzuführen. Aufgrund des Holocaust ist es im deutschsprachigen Raum gewissermaßen ein Tabu, kritisch über etwas zu sprechen, das in Israel passiert ist. Die Arbeit an diesem Stück war meinem Empfinden nach so etwas wie ein Drahtseilakt. Das Werk war sehr erfolgreich, ich habe es auch in Hongkong und Südafrika gezeigt.
Leben und Arbeiten als Künstler in Europa
MY: Deine persönlichen Erfahrungen sind für Deine Produktionen sehr wichtig, Du lebst leben in Wien und Dein Publikum sind Wiener*innen bzw. Europäer*innen Hast Du dabei immer im Bewusstsein, dass Du Japaner bist?
MM: Ich glaube, es trifft es am besten, wenn ich sage, dass es mir immer wieder bewusst gemacht wird. Mein Umfeld zwingt mich dazu, es mir bewusst zu machen. Von Anfang an, seit ich in Europa lebe, und auch bis heute noch empfinde ich das so. Ich reagiere darauf spielerisch. Für mich ist es ein Unding zu denken, „weil ich ein Japaner bin“. Natürlich ist es Fakt, dass ich als Japaner klassifiziert werde, aber für mich ist es wichtig, wie ich, während ich mich dazu bekenne, gleichzeitig etwas herstelle, das über den Rahmen der Herkunft oder Stereotypen hinausgeht und schaffe. In Mitsouko & Mitsuko lasse ich Japaner*innen auftreten, in diesem Sinne ist das mein erster Versuch. Bisher hatte ich das eher vermieden. Gerade weil ich zuvor Dance, if you want to enter my country! gemacht hatte, wollte ich mich dieses Mal mit einer japanischen Figur beschäftigen. Auf der anderen Seite war es eine enorme Herausforderung für mich, das Bild dieser zwei Frauen namens Mitsuko, eingezwängt zwischen dem Westen und Japan, selbst zu entwickeln. Die Perspektiven und Stereotypen über Japaner unterscheiden sich in Bezug auf Frauen und Männer stark.
MY: Du untergräbst im positiven Sinne Erwartungen und Voreingenommenheiten und beschäftigt Dich mit der Kluft zum bestehenden Rahmen. Ich glaube, Kluft ist hier ein Schlüsselbegriff.
MM: Ich denke, sowohl mit Mitsouko & Mitsuko als auch mit Dance, if you want to enter my country! will ich nicht eine historische Geschichte erzählen, sondern es ist mir wichtig, dass ich sie als meine persönliche Geschichte verdaue um sie zu einem Stück zu verarbeiten. Für mich ist es ein wichtiger Teil, wie ich die Voreingenommenheiten und Erwartungen des Publikums unterlaufe und eine neue Perspektive präsentiere. Ich möchte den beliebigen Voreingenommenheiten und Vorurteilen der Anderen eine Ohrfeige verpassen (lacht).
MY: Diese Ohrfeige steht aber nicht für Wut oder Frustration, sondern sie überwindet diese behende und mit Humor gewürzt, das finde ich überaus beeindruckend.
MM: Sowohl Mitsouko & Mitsuko als auch Dance, if you want to enter my country! sind meiner Ansicht nach Stücke über Traumata, die unsere Gesellschaft geschaffen hat. Aber ich möchte ein Trauma nicht als Trauma darstellen, sondern vielmehr mit einem herzhaften Lachen darüber hinwegkommen.
Transnationale Zusammenarbeit und Mobilität
MY: Bisher war Mobilität ausgesprochen wichtig, viele Menschen kamen und gingen, sie vertieften ihr Verständnis füreinander, indem sie sich selbst an einen Ort begaben und dort sahen, hörten und sprachen. Ich dachte, auf diese Weise kann man gemeinsam eine Produktion erarbeiten und sich vernetzen. Heutzutage aber, wo in der Corona-Pandemie die Mobilität gegen Null geht, kann man zwar auch online kommunizieren, aber das funktioniert eher mit Menschen, die sich gegenseitig gut kennen oder wo bisher schon eine gemeinsame Basis gibt. Neue Begegnungen hingegen sind schwieriger geworden. Für eine Einrichtung, die sich den internationalen Kulturaustausch zur Aufgabe gemacht hat, ist das eine extreme Herausforderung. Dazu möchte ich Dich als Künstler nach Deiner Meinung fragen: Denkst Du im Moment über Austausch und Kooperationen nach?
MM: Ja, sogar sehr viel! Mobilität ist auch für mich ein sehr bedeutendes Thema. Im Momentkönnen wir uns nicht über Ländergrenzen hinwegbewegen, aber ich wünsche mir inständig, dass das wieder möglich wird. Der Auffassung, dass man Probleme lösen kann, indem man Ländergrenzen undurchlässiger macht, kann ich nicht zustimmen, und das gilt auch für die Pandemie. Auch in Europa wird diskutiert, wie man mit Mobilität politisch korrekt umgehen soll. Im Moment werden Online-Proben werden in den Himmel gelobt, aber da bin ich ganz anderer Meinung. Ich finde, sowohl auf individueller Ebene als auch auf Ebene eines Theaterhauses sind reale Treffen notwendig. Auch die Nutzung von Flugzeugen wird derzeit problematisiert, aber ich finde, dass es der falsche Ansatz ist, die Menschen zu kritisieren, die ein Flugzeug besteigen. Denn obwohl es technisch bereits möglich ist, Flugzeuge mit geringerer Umweltbelastung zu bauen, wird die Luftfahrtbranche von den zwei großen Unternehmen Boeing und Airbus monopolistisch dominiert, die auf der ganzen Welt Lobbyarbeit betreiben, um die Politik zu beeinflussen, und weiterhin mit ihren spritfressenden Flugzeugen zu fliegen. Die Erdölbranche mischt hier natürlich auch mit. Ich halte die Diskussion für unangemessen, welche die dahinterstehende große Politik geflissentlich übersieht, gleichzeitig aber verlangt, dass Künstler nicht mehr mit dem Flugzeug fliegen sollten. Natürlich ist es klar, dass die Flugzeuge, die im Moment fliegen, schlecht sind, und das muss verbessert werden. Auch bei den Autos geht die Meinung irgendwie in die Richtung, dass es ökologisch und deswegen OK ist, wenn es nur elektrisch angetrieben wird, aber ist das wirklich so? In Frankreich und auch vielen anderen europäischen Ländern wird der Strom immer noch sehr, sehr häufig aus Kernenergie gewonnen. Sollten wir hier nicht auch diese Tatsachen stärker berücksichtigen und überlegen, was wir verbessern können?
Es gibt zwar das Problem mit der Mobilität, aber ich halte es doch für wichtig, Menschen direkt zu treffen. Wenn mir das abhandenkommt, ist das so, als würde man mein ganzes Leben verneinen (lacht). Eine Welt, in der wie heutzutage die gewinnen, die Englisch können, bzw. die das Englische gut beherrschen, diese Welt ist falsch, finde ich. Denn die Praktikant*innen aus Asien, die bei uns in der Familie gewohnt haben, die mit mir gespielt haben, als ich noch ein Kind war, die mit uns gegessen haben: Auch wenn man sich sprachlich nicht versteht, versteht man doch, was man gegenseitig will. Das ist für mich die Basis für kulturellen Austausch.
MY: Die Menge an Informationen, die man online bekommen kann, hat auch ihre Grenzen.
MM: Ich möchte mein Bewusstsein auf Dinge richten, die auf dem Online-Bildschirm nicht sichtbar sind. Ich möchte auf das hören, was man mit Sprache nicht sagen kann. Auch dieses Interview wurde online geführt, aber ich hoffe, dass wir uns bald wieder real treffen und unterhalten können.
MY: Ja, ich freue mich darauf.
Das Interview wurde Ende 2020 online geführt.