Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Kriege und Tage

Das Gebäude der Versicherungsfirma Russia in Charkiw, zerstört von russischen Bomben.
Das Gebäude der Versicherungsfirma Russia in Charkiw, zerstört von russischen Bomben. Aufnahmedatum: 05. Juni 2022. | Foto (Detail): Sadak Souici © picture alliance / ZUMAPRESS.com

Was macht der Krieg in der Ukraine mit uns allen, die hilflos zusehen? Der kroatische Schriftsteller Marko Pogačar beschreibt in einem sehr persönlichen Beitrag, wie er den Tag des Einmarsches russischer Truppen erlebt hat.

Von Marko Pogačar

Tage sind gefährlich. In jeder ihrer Stunden stirbt jemand. Tagebücher sind genauso gefährlich: Jede Seite ist eine Falle, in der Fehler lauern. Kaum sichtbare Larven, aus denen gewiss früher oder später ein gewaltsamer Tod schlüpft.

Am 2. August 1914 machte Kafka – der unglückliche, präzise, aufwendige Kafka, der die Literatur als Axt für das gefrorene Meer in uns sieht – eine oft zitierte knappe Eintragung in sein Tagebuch: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittags Schwimmschule.“ Da war die Schwelle zum Ersten Weltkrieg unwiderruflich überschritten. Eine komplexe Reihe an Ursachen und Anstößen, die die Geschichte grundlegend erschüttern und uns in die Welt, wie wir sie kennen, führen würde, erreichte ihren Höhepunkt. Der Erste Weltkrieg würde der Auftakt für einen Zweiten sein. In diesem war dem Volke Kafkas das Schicksal bestimmt, zu Rauch zu werden – den „Gräbern in der Luft“, die die Juden in der Todesfuge sich selbst zu schaufeln gezwungen sind – und aus diesen Massenmorden und dem darauffolgenden stillen Kalten Krieg würde sich eine geopolitische Konstellation ergeben, mit deren Folgen wir heute leben. Die Welt hat sich seit diesem warmen Prager Nachmittag im Jahr 1914 natürlich zutiefst und radikal verändert. In gewisser Weise hat sie, gemeinsam mit uns, ihre scheinbare Unschuld verloren.

Das Offensichtliche zu unterstreichen ist unnötig: Als Kafka seinen Tagebucheintrag machte, konnte er nicht ahnen, was kommen würde. Wir, die wir in unsere beiläufigen Tagebücher den 24. Februar 2022 eintragen – genau wie jene, die aus demselben Grund am 1. September 1939 ans Papier gefesselt waren – haben nicht denselben Luxus und werden ihn nie haben. Dies ist eine globale und global schreckliche, von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gebeutelte, augenblickliche und vernetzte, durch das rote Lämpchen der nuklearen Bedrohung erleuchtete Welt. Eine Welt, die wir als Gesellschaft, ein immer verlassener und vergessener Sammelbegriff, bei jedem Aufwachen verzweifelt anders antreffen können. 

Stumme Steine

Es ist für niemanden außer für mich selbst von Bedeutung, wie und weshalb ich mich an diesen Tag erinnere. Was uns aber etwas angehen sollte, ist vor allem, wie ihn seine Opfer erlebt haben und noch immer erleben. Die Opfer, versteht sich, deren Leben ihnen inzwischen nicht durch ein Verbrechen genommen wurde. Denn genau darauf laufen diese dunklen, schlingenartigen Knoten der Geschichte hinaus: dass Menschen mit Vor- und Nachnamen ihres Lebens beraubt und dann stumme Steine nach ihnen benannt werden.

Ich weiß genau, wo ich war und was ich tat, als am 11. September 2001 die Nachricht vom Angriff auf den blanken Plexus Amerikas um die Welt ging. Den 24. Februar 2022, das ist jetzt schon klar, werde ich in noch intensiverer Erinnerung behalten – mit der greifbaren Angst, dass es die Umstände noch lange nicht zulassen werden, diese Erinnerung zur Seite zu wischen, sie auszuklammern, dem Global-Traumatischen zu überlassen und sie von den alltäglichen Kleinigkeiten überfluten zu lassen, von denen viele ebenfalls ausgiebige Mengen an Toten beinhalten. Toten, denen wir es tagein tagaus erlauben, dass sie uns nicht ständig bewusst sind. Denn das Ausblenden ähnlicher Tatsachen ist eine Voraussetzung für unser eigenes – sprichwörtlich mehr oder minder – normales Leben. Jenes, dessen überall in der Ukraine gerade jemand beraubt wird.

Der Schrecken der Normalität

So oft im Leben habe ich mich aus irgendeinem Zufall und aufgrund einer Reihe von Umständen, ohne jeglichen eigenen Verdienst, unglaublich privilegiert gefühlt – sogar außerhalb des Kontextes, ein weißer, europäischer Mann zu sein, der in einer Familie aufgewachsen ist, die als Mittelklasse durchgehen kann. Dieses Privileg wiederholt sich: Während ukrainische Städte einem Granatenregen ausgesetzt sind, befinde ich mich für mehrere Monate in der Schweiz. Einem seit 1815 neutralen Land, das von seiner Position gut profitiert und sich nur widerwillig den europäischen Sanktionen angeschlossen hat. Ein Land, das Medienberichten zufolge das einzige ist, das über ausreichende Kapazitäten an ordentlich instandgehaltenen Atomschutzbunkern verfügt. Demnach ist die Perspektive, aus der diese Notiz zu dem Tag entsteht, der unser aller Leben, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, grundlegend verändert hat, unverzeihlich angenehm, tanzt am widerwärtigen Rande des Zynismus.

Sie erlaubt mir, in einem warmen, möglicherweise durchaus mit russischem Gas beheiztem Zimmer zu sitzen und Notizen zu machen, fieberhaft die zugänglichen Nachrichten mitzuverfolgen. Tag für Tag versuche ich, den Kontakt mit meinen ukrainischen Freund*innen nicht zu verlieren. Ich irre durch pessimistische geopolitische, strategische und ideologische schwarze Löcher, die ihren eigenen Text erfordern. Dieser lässt mich das Ausmaß meines eigenen Fehlers erkennen: Bis zum letzten Moment habe ich nicht geglaubt, dass es tatsächlich zu einem solchen Krieg kommen würde. Und es drängt mich aus dem Schrecken des Augenblicks in die Erinnerung. In die Ukraine, die ich kenne – die ich mehrere Male kreuz und quer mit Zügen bereist habe, wo meine Bücher übersetzt wurden, wo immer noch so viele Bekannte sind, Freund*innen, die gezwungen sind, sich zu bewaffnen oder mit denselben Zügen das Land zu verlassen – kurz: die friedliche, verschlafene, wundervolle und riesige Ukraine meiner Vorstellung, die vor unseren Augen verschwindet. Wie soll sich da ein Mensch fühlen, wenn er satt und hilflos im Warmen sitzt, während um ihn herum Menschen und Städte verschwinden? Dieser Mensch fühlt sich seit dem 24. Februar 2022, man verzeihe es ihm, wie ein Stück Scheiße. 

Der Mensch kehrt immer wieder unweigerlich in seine eigene Vergangenheit zurück, nicht nur wegen der bekannten wohltuenden Wirkung des Vergessens: Der vergangene Donnerstag hat bei mir einen noch stärkeren und schrecklicheren Eindruck hinterlassen als zum Beispiel der 15. September 1991, als – glücklicherweise nur kurz – meine Heimatstadt unter Granatenbeschuss stand. Das ist, ich weiß es, noch eines im Herbarium meiner Privilegien. Denn ich war damals im überfüllten Luftschutzkeller des Wohnhochhauses, als die Sirenen Luft- und Generalalarm signalisierten, war Grundschüler und war, genauso wie die Welt Kafkas, immer noch scheinbar unschuldig. Die Angst hatte keine rationale Grundlage. Das Leben spielte im ewigen Jetzt. Es gab kein Morgen. Ich war immer noch im goldenen Zeitalter, dem einzigen, das wirklich existiert: Das Zeitalter vor der Angst vor dem eigenen und dem Tod anderer. Seitdem sind etwas mehr als dreißig Jahre vergangen, die Zeit ist im großen Stil in mein Leben getreten – und hat alle Illusionen weggefegt. Jetzt weiß ich, was auf solche Tage folgt. Tage, die wir am liebsten vergessen würden, die wir aber nicht werden vergessen können. Dazu haben wir schlicht und ergreifend nicht das Recht. Dieses Privileg hat noch niemand erlangt.

Die Toten gilt es uns, in Erinnerung zu behalten – und, noch viel wichtiger, mit allem Verfügbaren bei den Lebenden zu sein. 

Dieser Artikel wurde am 3. März 2022 verfasst.
Zurück zur Projektseite 

Top