Die Realität verliert ihre Konturen
Und plötzlich ist nichts mehr wie es war – so erleben die Menschen in und aus der Ukraine ihr Leben seit dem 24. Februar 2022. Alle Russ*innen müssen aufstehen und ihre Stimme erheben, findet die russische Schriftstellerin Alisa Genieva, denn nichts wird mehr sein wie es war.
Von Alissa Arkadjewna Ganijewa
Es war ein Erwachen in einem endlosen Wirbel aus Schrecken, Scham, Mitleid und Ungläubigkeit. Die Bestätigung in mir schlummernder Erwartungen, Befürchtungen und Ängste. Acht lange Jahre hatte ich darauf gewartet, dass das passieren würde, acht lange Wochen lang versteinerte ich bei den Gedanken an den sich ankündigenden Krieg. Doch erst als er losgrollte, verlor die Realität ihre Konturen.
Der Morgen ging in den Tag über und der Tag in den Abend. Es schien unmöglich, aus dem schwarzen Fluss der Nachrichten wieder aufzutauchen. Unmöglich, sich etwas aufzubauen, Kleinigkeiten zu planen, an etwas anderes zu denken außer an den Krieg, außer an diese blutige imperiale Attacke, die durch mein Land und in meinem Namen vom Zaun gebrochen wurde. Daran, dass der Aggressor, der mein Land anführt, und seine ganze untertänige Diener*innenschar so phänomenal regieren und von uns geduldete Gewalttaten verüben. Regieren wegen all der Russ*innen, die sich damit abgefunden haben, dass sie keine Bürger*innen sind, dass sie nichts mit Politik zu tun haben, dass sie ohnehin nichts beeinflussen können, dass sie sich nicht mit diesem ganzen Nachrichtendreck umgeben wollen, sondern einfach nur Blümchen gießen und Kätzchen streicheln. Wegen jedes einzelnen dieser schweigenden Menschen fließt Blut, und jeder einzelne von ihnen wird bestraft werden. Selbst diejenigen werden büßen, die sich nicht fügten, die etwas sagten, die auf die Straßen gingen, die dafür als käufliche Vaterlandsverräter und lokale Verrückte abgestempelt werden. Alle sind verantwortlich für das Schweigen, für die Infantilität, für das Nichteingreifen der Mehrheit.
Kein Zurück mehr
Der Tag verging in einem endlosen Wirbel neuer Meldungen und einer Geräuschkulisse aus Schluchzen, Schreien, Fragen, Ratlosigkeit und – was widerlich ist – Beifallsbekundungen. Endloser Zorn und Schrecken der einen, kannibalische Freude der anderen. Aus vielen kroch etwas nicht mehr unterdrückbares, unstillbares Imperiales hervor.Ich lag mit Corona und Fieber im Bett und konnte nicht hinausgehen auf die Straßen der Stadt, um live mein „Nein“ auszudrücken, aber meine Freund*innen, mir nahestehende Menschen und Hausgenoss*innen waren da. Bis in die späte Nacht ging ich die Listen der Verhafteten durch und suchte nach ihren Namen. Einige waren geschnappt worden, manche sind noch immer weggesperrt. Doch Tag für Tag gehen die Leute raus auf die Straßen, Tag für Tag frisst der Krieg menschliche Leben, die Nachrichten vervielfachen sich, die Finsternis verdichtet sich. Doch auch Hoffnung irrlichtert umher: Denn ist es nicht, bevor es wieder Licht wird, finsterer denn je?
Wir werden nie in unser Leben davor zurückkehren können. Und die Zukunft verheißt Strapazen. Doch es gibt diesen Glauben, dass man Läuterung und Sieg erwarten kann. Den Sieg über das Böse im Inneren des Landes und in unserem eigenen Inneren. Jeder Russe und jede Russin hat die Pflicht, in diesem Inneren einen kleinen Drachen auszuloten, der stolz, selbstverliebt, argwöhnisch, xenophob und neidisch auf andere ist, der von Allmacht und Expansion träumt, – und ihn zu ersticken. Das wird schmerzhaft werden, aber anders geht es nicht.
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