Lilian Peter an Yui Tanizaki
Berlin, 24. November 2020

Liebe Yui,
 
Du musst Dich nicht entschuldigen für das Vergehen der Zeit; sie hat ja ihren eigenen Kopf, sie schreibt mit in den Briefen, die wir einander schicken, und sie macht das auf ihre Weise. Das ist völlig in Ordnung. Mehr noch, ich finde, es hat vielleicht sogar einen besonderen Reiz, dass wir uns so über einen längeren Zeitraum hinweg schreiben können; ursprünglich hatte ich mir einen viel schnelleren Wechsel vorgestellt, ein Projekt für den Sommer, 2 oder 3 Monate, ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass das ja ganz unrealistisch ist angesichts der diversen Etappen, die die Briefe durchlaufen, vom Schreiben zum Übersetzen zum Lektorieren zum Schreiben zum Übersetzen und so weiter. Die Langsamkeit scheint mir nun aber der tatsächlichen Entfernung viel angemessener; eine Reise zwischen Japan und Deutschland dauert ja auch nicht „nur“ die 12 Stunden, die man im Flugzeug sitzt, man muss erstmal zum Flughafen fahren, Gepäck aufgeben, Sicherheitschecks durchlaufen, man verbringt viel Zeit mit Warten, irgendwann ist man an Board, irgendwann landet man, dann wartet man wieder, aufs Gepäck, auf die Weiterfahrt, dann fährt man weiter, irgendwann kommt man an, hält sich mühsam wach bis zum Abend, dann sinkt man in tiefen Schlaf, und wenn man schließlich erwacht am neuen Ort, ist man ja trotzdem noch lange nicht angekommen, was immer das überhaupt genau heißt: ankommen.
 
Im Moment ist meine Welt ganz klein. Herbst und Winter sind in Berlin sehr grau, goldene Tage gibt es nur selten, dunkel wird es jetzt schon um vier. Die Corona-Infektionszahlen sind im Oktober so angestiegen, dass wir seit Anfang November wieder im Lockdown sind, alles außer Supermärkten und Geschäften hat zu. Kein Café, kein Restaurant, kein Kino, kein Theater, kein Konzert. Gerade im Winter gehe ich sonst häufig zum Arbeiten in Cafés, jetzt bin ich die ganze Zeit in der Wohnung. Im Spätsommer habe ich ein Buchmanuskript fertig gestellt, ein neues (oder mehrere neue) Vorhaben gibt es zwar schon, aber die Arbeit und ich sind gerade kein sehr gutes Team, es ist alles zu still. Manchmal ist Stille das Allerbeste, aber wenn sie zu raumgreifend wird, lähmt sie mich. Nachts träume ich wüst, wenn ich aufwache, fühle ich mich, als wäre ich im Koma gewesen, und das Arbeiten jenseits aller unmittelbaren Arbeitsanforderungen von außen (wie etwa Unterrichten – montags habe ich Klavierschüler) fällt mir schwer. Jeden zweiten Tag gehe ich laufen, meist um die Mittagszeit, wenn es noch hell ist, ich drehe meine Runden im Park, immer im Kreis, immer rundherum, ich laufe immer gegen den Uhrzeigersinn, andersherum widerstrebt es mir im Moment, warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich die Zeit anhalten will, vielleicht aber auch, weil sie sich wie angehalten anfühlt und ich ihr nicht davonrennen will, das schiene mir ungesund.
 
Das Laufen ist für mich schon immer Überlebensstrategie gewesen, mehr noch im Sinne des Gehens als des Joggens. Vor 11 Jahren bin ich einmal durch halb Frankreich und ganz Spanien gelaufen, bis ans äußerste Ende Europas, insgesamt um die 1.500 Kilometer, seitdem träume ich davon, einmal noch viel länger zu laufen, viele Monate oder sogar Jahre, am liebsten um die ganze Welt. Das Schreiben hat für mich auch viel mit Laufen zu tun. Sind Worte nicht wie Füße? Manchmal können sie auf einem Boden laufen, den es schon gibt, manchmal müssen sie ihn sich erst schaffen. Es wundert mich, dass ich es im Moment bevorzuge, im Park endlose Runden zu drehen; normalerweise gehe ich im Winter nicht laufen, sondern mache alle möglichen anderen Arten von Sport (ich liebe es, gegen Sandsäcke zu boxen). Im Sommer laufe ich nie im Park hier bei mir um die Ecke, sondern den Fluss entlang, bis ich in einen anderen Stadtteil komme, in dem ein anderer (viel größerer) Park ist, dort laufe ich dann noch ein Stück weiter, unterwegs sehe ich an bestimmten Stellen oft sehr viele Kaninchen, in einem Bogen laufe ich dann wieder zurück, im Sommer langweilt es mich, in der Nähe meiner Wohnung zu bleiben und mehrere je 2 km kurze Runden im Park direkt nebenan zu drehen. Im Moment aber ist die Welt so geschrumpft, dass meine Füße anscheinend gar nicht mehr ins Offene wollen, sondern sich am sichersten fühlen in unmittelbarer Nähe der Wohnung – während mein Kopf die ganze Zeit mit einer Wehmut an Flughäfen und Flugzeuge denkt, als würde es beides gar nicht mehr geben. Paradox: Ich kann Flughäfen eigentlich überhaupt nicht ausstehen, auch Fliegen mag ich nicht sonderlich.
 
Vor einer Weile habe ich mich ein bisschen mit alter japanischer Mythologie beschäftigt und u.a. das Kojiki in Übersetzung gelesen; dort gibt es eine Stelle, wo es über die „Ureltern“ Izanami und Izanagi heißt, Izanagi gehe von links und Izanami von rechts um einen Himmelspfeiler herum. Izanami – die Frau – spricht dabei als erste. Die beiden bekommen Kinder, aber sie gefallen ihnen nicht, und die Götter erklären ihnen, das liege daran, dass die Frau zuerst gesprochen habe. Also machen sie alles nochmal von vorn, diesmal spricht der Mann zu erst, diesmal wird alles gut. Ich musste bei dieser Stelle an eine Uhr denken: Er geht im Uhrzeigersinn, sie gegen den Uhrzeigersinn. Im Deutschen gibt es eine Redewendung, die man benutzt, um zu sagen, dass Eile mit etwas geboten ist: „Die Zeit arbeitet dagegen“. Arbeitet SIE gegen die Zeit? Arbeitet die Zeit gegen SIE? Ist nicht genau das das Erleben so vieler Frauen? Ich muss an die Fesseln denken, von denen Du im Zusammenhang mit Deinem Baby schreibst, Fesseln, die Deinen Bewegungsradius so enorm einschränken. Das Schreiben mag keine Fesseln, so wenig wie die Gewächse der Erinnerung, wahrscheinlich ist es deswegen so schwer, zu schreiben, wenn man – auf welche Weise auch immer – (von außen) gefesselt ist. Vielleicht hat die Sublimation, von der Du sprichst, sogar etwas zu tun mit einem Lösen von Fesseln? (Kann man das willentlich beeinflussen? Oder können sie sich nur „selbst“ lösen?)
 
Das Schreiben bewegt sich, scheint mir, auf dieselbe Art, auf die sich der Körper bewegt. Bei mir sind das momentan kleine Kreise, unweit von Zuhause, oft in neblig-feuchter Luft, eingelullt in den würzigen Duft und das gleichmäßige Rascheln getrockneter Platanen- und Ahornblätter. Wir scheinen beide gerade, wenn auch auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen, zurückgeworfen zu sein auf einen sehr kleinen Bewegungsradius. Umso schöner, dass wir diese Briefe hinaus in die Welt schicken können, die so weit weg ist, dass sie mir im Moment ganz unwirklich erscheint. Bin ich je in Japan gewesen? Bist Du wirklich dort, auf der anderen Seite der Erdkugel, schreibst Du mir wirklich zurück? Vor ein paar Tagen war ich in einem Teeladen und habe für 70 € japanische Tees gekauft. Gerade trinke ich eine Schale Gyokuro; ich liebe diesen Tee mit seinem würzigen, seltsam gemüseartigen Charakter.
 
Ich bin voller Vorfreude, wieder von Dir zu hören, und sende Dir noch ein Bild vom Sonnenaufgang, den ich um diese Jahreszeit von meinem Schreibtischfenster aus beobachten kann.
 
Deine Lilian

Sonnenaufgang, Photo: Lilian Peter © Photo: Lilian Peter Sonnenaufgang Photo: Lilian Peter



 
Japanische Übersetzung: Miho Matsunaga

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