Lilian Peter an Yui Tanizaki
Berlin, 18. März 2021
Liebe Yui,
jetzt ist schon Mitte März und in Berlin ist immer noch Winter. Vor einigen Wochen gab es einen arktischen Kälteeinbruch mit viel Sonne, Schnee und Eis. In Berlin sind Schnee und Eis selten und daher ein richtiges Ereignis. Es war magisch, wie in der langen, öden, grauen, stillen Zeit des Lockdowns (die immer noch andauert – wie es aussieht, noch bis mindestens Mitte April) die Welt da draußen plötzlich ein paar Wochen lang weiß glitzerte und sich Straßen und Parks mit Leben füllten. Ich fühlte mich in meine Kindheit nach Bayern zurückversetzt, eine Landschaft, die ich zunehmend vermisse: die Berge, die Täler, die Flüsse, die Seen. Die Winter. Das Schlittenfahren. Das Schlittschuhlaufen. Den Schnee. Das Eis. Heute haben die Wintersportgebiete in den bayerischen und österreichischen Alpen große Probleme, weil es nicht mehr genug Schnee gibt; die Gletscher tauen ab, und die Seen frieren viel seltener zu als früher.
Dass es diese Wochen gegeben hat, in denen Berlin in einen weißen Mantel gehüllt war und Flüsse und Seen zugefroren waren, kommt mir jetzt fast surreal vor, über die Bilder in meinem Kopf legt sich eine Melancholie, die vielleicht etwas mit dem Früher zu tun hat, mit dem für mich Schnee und Eis verbunden sind. Früher, bayerische Winter, früher, Seefahrer und Walfänger im arktischen Eis: Meine Vorfahren mütterlicherseits stammten von einer Insel in der Nordsee, die Männer fuhren zur See, die Frauen saßen zu Hause am Webstuhl. Die Landschaft, das Wattenmeer entstand erst vor etwa 7.500 Jahren, während der letzten Eiszeit, und ist stark geprägt von den Launen der Natur. Über die Jahrhunderte sind immer wieder Inseln ganz oder teilweise Sturmfluten zum Opfer gefallen und untergegangen; und es gibt dort die Gezeiten, Ebbe und Flut, bei Ebbe geht das Wasser so weit zurück, dass man übers Watt bis zu anderen Inseln laufen kann. Bis ins 19. Jahrhundert waren viele der seefahrenden Männer Walfänger, ihre Route ging über Amsterdam und Spitzbergen bis nach Grönland. Einer von ihnen, der „Glückliche Matthias“, der so genannt wurde, weil er besonders viele Wale erlegte (er ist ein Ur-Ur-Ur-...Großvater von mir), kommt sogar in Melvilles Moby Dick vor. Ich beschäftige mich damit gerade für ein Schreibvorhaben, wobei mich insbesondere das Inselleben der Frauen interessiert, das aber – Wunder, Wunder – kaum dokumentiert ist. Früher, etwas, das weit weg ist, Fernweh, während die Corona-Maßnahmen dazu führen, dass ich mich selbst zunehmend fühle wie eingesperrt auf einer Insel: Seit ein paar Wochen habe ich eine unerklärliche Sehnsucht nach dem nördlichen Eis. Ich möchte unbedingt nach Grönland fahren, am liebsten auf derselben Route, auf der die Walfänger unterwegs waren. Früher, das Eis: Wie viele Millionen Jahre ist es alt? Welche Formen von Leben er-innert es in sich?
Land kann man besetzen und ausbeuten, es scheint sich nicht zu wehren, das Wasser aber beugt sich dem menschlichen Willen nicht, es sei denn, es gefriert zu dicken Eisschichten. Manchmal frage ich mich, ob unsere Annahme, dass es sich bei Wasser und Erde um zwei verschiedene Elemente handelt, nicht über die enge Verbindung beider hinwegtäuscht. Schließlich ist es das Wasser, das die Ausbeutung der Erde eines Tages, wenn vom Eis nichts mehr übrig ist, im großen Stil rächen wird. Die Insel meiner Ahnen wird es dann nicht mehr geben; Berlin wird eine Stadt am Meer sein, Tokyo eine untergegangene Stadt, ebenso wie Osaka. Kyoto könnte gerade so davonkommen, wird aber ebenfalls zu einer Stadt am Meer.
Vor ein paar Tagen habe ich einen sehr interessanten Text über die Kanak gelesen, die indigene Bevölkerung Neukaledoniens, über ihr Verhältnis zu Land und Besitztum. Sie verstehen die Erde als eine „Mutter“, wie es auch die westliche Kultur tut. Aber die westliche Kultur – und vielleicht, in irgendeiner Weise, auch die japanische? – versteht diese „Mutter“ als eine, die man besetzen, besitzen, besamen und ausbeuten muss. Dagegen: „Den Kanak ist das Land, auf dem ihre Ahnen lebten, heilig. Privatbesitz gibt es in dieser Tradition nicht, keiner kann seine Mutter ‚besitzen‘, kann seine Ahnen ‚besitzen‘.“[1] Ich frage mich, ob das nicht zwangsläufig auch ein anderes Verhältnis zum Erzählen und Erinnern mit sich führt, von dem es tief verwurzelt im westlichen Denken die Idee gibt, dass es eingeschlossen und überwacht werden muss (was klassischerweise die Philosophen für sich reklamiert haben) – weil es seinem Wesen nach nicht etwas Festes, sondern etwas Flüssiges ist, und das Flüssige gilt als bedrohlich, wahrscheinlich aus dem simplen Grund, dass es scheinbar formlos ist und sich nicht besetzen lässt. Seit der griechischen Antike meinte man, es führe die Menschheit ins Verderben, wenn es frei seinen eigenen, scheinbar erratischen, „irrationalen“ Wegen folgt. Mit welchem Körper wiederum wird das Flüssige assoziiert...?
Du schreibst von den Müttern im Faust; ich hatte die Stelle nicht mehr im Kopf und habe ebenfalls nochmal nachgelesen, dort heißt es unter anderem auch: „Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben. / Was einmal war, in allem Glanz und Schein, / Es regt sich dort; denn es will ewig sein.“ – Ist das Totenreich, in dem die Mütter wohnen, also das Reich der unsteten Bilder, das Reich der Erinnerung? Es wimmelt hier geradezu von Metaphern des Flüssigen bzw. Festen; so warnt etwa Mephisto Faust, er werde im Reich der Mütter „Nichts Festes finden“. Später resümiert Faust, er sei „durch Graus und Wog’ und Welle... her zum festen Strand“ gekommen, endlich wieder im Reich der „Wirklichkeiten“ gelandet.
Am Bezeichnendsten finde ich aber dies: „Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; / Von ihnen sprechen ist Verlegenheit“. ER ist in Wirklichkeit also schlicht in Verlegenheit: Er versteht die Sprache der Mütter nicht und findet entsprechend selbst auch keine Sprache für sie. Aber muss man Körper, deren Sprechen man nicht versteht, gleich einfrieren und ins Totenreich sperren? Die Antwort lautet wohl nur dann „ja“, wenn man sie zugleich ungestört benutzen und ausbeuten können will.
Tatsächlich bedeutet das Schmelzen des Eises nicht, dass Altes, längst Vergessenes, Eingefrorenes oder Eingeschlossenes (nennen wir es: das Sprechen der „Mütter“) einfach nur an Land gespült wird, sondern es bedeutet, dass das Land überspült wird und erodiert, jedenfalls teilweise. Gewinnt ihr Sprechen an Macht und Einfluss („Einfluss“ ist im Deutschen, bezeichnenderweise, eine Metapher des Flüssigen; man spricht auch von „Wellen“ des Feminismus etc.), verändert sich der Boden, den er besetzt hält. Die freie, ungezähmte Mutter ist für die patriarchale Kultur also so etwas wie der Alptraum einer Naturkatastrophe. Aber eben: Auch ein Alptraum ist ein Traum, und wenn die Handschriften jenes „Unbetretenen, nicht zu Betretenden“, wie Mephisto das Mütterreich auch nennt, nun vehementer werden, so ist das nur der Spiegel der patriarchalen Ausbeutungswut selbst. Geht es nicht letztlich auch um die Frage: Wer darf träumen? Und wer nur geträumt werden?
Du schreibst, dass Du gut darauf verzichten kannst, ins Totenreich eingeschlossen zu werden. Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz schreibt in einem Roman: „...und das wäre ja das Thema überhaupt, wie Frauen sich an sich selbst erinnern.“ Geht es nicht darum: Zu erinnern statt bloß erinnert zu werden. Zu träumen statt geträumt zu werden. Zu schreiben statt geschrieben zu werden? Wenn ich zu lange zu Hause „eingesperrt“ bin, kommt mir die Schreibfähigkeit abhanden, die, bei mir wenigstens, viel zu tun hat mit dem schemenhaften, sich verselbständigenden Spiel der Erinnerung. Es scheint, als könnte sich dieses Spiel nur dann in Gang setzen, wenn ich, der Körper, in dem es stattfindet, Gelegenheit habe, meine Insel zu verlassen und zu ihr zurückzukehren; im Moment aber geht das nicht.
Über die Geburtstagskarte aus der Kita mit der Aufforderung, schneller zu werden – und Deiner Überlegung, ob Dir nicht vielleicht die Erinnerung einen Streich spielt – musste ich sehr lachen. Deine angebliche Langsamkeit ist mir sympathisch. Ich glaube, die Literatur ist gemacht aus Langsamkeit, vielleicht ist sie sogar so etwas wie ein Aufbegehren des Langsamen, Ineffizienten, Indirekten, Ungeraden gegen die Diktatur der Effizienz und die Logik der Ausbeutung: Sie lässt sich weder erzwingen noch bezwingen noch einfrieren noch einschließen. Sie überlebt immer, wie die Natur.
Mein Brief hat diesmal auch etwas länger gebraucht; inzwischen ist schon der 25. März und es ist deutlich wärmer geworden. In den letzten Tagen habe ich nicht mehr soviel an Schnee und Eis gedacht, heute war ich das erste Mal ohne Mantel draußen und habe einige Blumen für den Balkon gekauft. Es ist erleichternd, dass es endlich wärmer wird. Wir nähern uns schon dem Monat, in dem wir letztes Jahr Bilder unserer wuchernden Balkone ausgetauscht haben. Ob Du auch in diesem Frühjahr wieder so schöne Pflanzen hast? Ich habe bis jetzt zwei Anemonen (violett und azurblau), ein Alpenveilchen (pink) und eine Pflanze, von der ich nicht weiß, wie sie heißt. Sie hat viele kleine hellrosa Blüten.
In Vorfreude auf Deinen nächsten Brief grüßt Dich nach Kyoto:
Deine Lilian
[1] https://www.toledo-programm.de/journale/2202/kanaky-zuhause-journal-zur-ubersetzung-des-romans-kanaky-von-joseph-andras