Johannes Waßmer
Sp. App. Assoc. Professor for German Literature, Osaka University
Das Leben der Dinge

Die Erinnerung ist eine gefährliche Porträtistin des eigenen Lebens. Zunächst zeichnet sie das Erlebte gestochen scharf, doch allmählich verwischen die Linien, bis schließlich nurmehr grobe Konturen zu erkennen sind. Gegen das Verblassen der Vergangenheit sammeln wir Erinnerungsdinge, bewahren Geschenke und Briefe, Fotos und die erste Kinderpuppe oder ein Erbstück. Das gilt zumal für Reisen, wenn wir unterwegs sind, dort, wo wir das Leben noch nicht kennen, und von wo wir fremde Dinge mitnehmen, die uns mit der Zeit vertraut werden. Diese Dinge bilden das Gefäß unserer Reiseerinnerungen, rufen Szenen ins Gedächtnis und ermöglichen es, einzelne Erlebnisfäden ein Stück weit zu verfolgen. Ihre Materialität und Geschichte vernäht die abwesenden Zeiten und bereisten Orte mit der Gegenwart.

Ein ganzes Fadenknäuel derart vernähter Zeiten präsentieren die Objekte von über 80 ehemaligen Stipendiat*innen der Villa Kamogawa. Obzwar die Objekte aus der rezenten Vergangenheit seit 2011 stammen, lässt sich die Vielzahl der in diesem Ausstellungsknäuel präsenten Zeiten kaum auseinanderdröseln. Ebenso müssen wohl auch Versuche zur Konstruktion einer inneren Ordnung der Dinge fehlgehen. Das schadet aber nicht, im Gegenteil, würden die Dinge sonst doch unter das Diktat einer programmatischen Idee gestellt. Ohne ein solches Programm wird nun ablesbar, wie vielfältig sich die Stipendiat*innen persönlich wie künstlerisch während des Aufenthalts in der Villa Kamogawa mit Japan auseinandergesetzt haben. Kleine Kunstwerke (Maximilian Brauers Bauschaumbuch) stehen neben Studien und Testobjekten (Lena Willikens/Sarah Szczesnys Phantom Noren Test) und den Dingen künstlerischen Handwerks (Andi Ottos Sensorbogen). Die kunstbezogenen Objekte werden kontrapunktisch ergänzt von Alltagsmitbringseln (Jakob Noltes Visitenkarte). Und dann sind da die vielen hybriden Objekte, die sich Kategorisierungen entziehen (Susanna Hertrichs Gyoza Party) und die zugleich Erinnerungsstück, Alltagsding und künstlerisches Objekt sind.

Der japanische Ausstellungstitel つなぐモノ語り Tsunagu Mono Gatari bedeutet wörtlich übersetzt in etwa Geschichten sowohl von Verbindungen als auch von Verbindungsstücken. Das Leben der Ausstellungsobjekte also ist ein biografisches ihrer Besitzer, mit dem Japan und Deutschland verbunden werden. Sie zeugen von der Vergangenheit, von Alltagserlebnissen, Fremdheitserfahrungen, künstlerischen Prozessen.

All diese Dinge haben jedoch nicht nur ein besitzerbiografisches, sondern auch ein eigenes Leben: eine Geburt und eine Geschichte, die sie von Japan nach Deutschland und nun wieder zurück geführt hat. Bruno Latour hat den Begriff der Akteurs-Netzwerke geprägt, um zu beschreiben, dass nicht nur Menschen agieren, sondern auch die Dinge an sozialen Handlungskontexten teilhaben. Indem sie Ereignisse ermöglichen, beeinflussen, verändern, werden sie zu handelnden Akteuren. Lea Letzels Feuerwerk-Brandschutzeimer, Alex Bureschs Wasabi-Büchse oder Nina Fischers/Maroan el Sanis Fächer repräsentieren nicht nur symbolisch kulturelle Praktiken und erinnern an die japanischen Erlebnisse der Künstler*innen. Vielmehr gestalten sie als Akteure Praktiken und Erinnerungen aktiv mit. Neben die Repräsentanz tritt das Präsentieren und das Präsentmachen. Ohne Eimer und Fächer wäre die Japan-Erfahrung und wäre auch die Erinnerung eine andere. Die »Verbindungsstücke« symbolisieren das Leben, die Kultur, den Alltag zwischen Japan und Deutschland nicht nur, sondern sie zeigen und verkörpern, was als fremd und vertraut, was als alltäglich oder als kulturelle Praktik erfahren wird.

Wer die Ausstellung besucht – auch die digitale Version ohne alle Materialität, für die die Räumlichkeiten der Villa als 3D-Modell nachgebildet worden sind –, der durchwandert nicht entweder einen Ausstellungs- oder einen Lebens- und Arbeitsraum oder einen Kulturraum – sondern alles zugleich. Ihre Objekte werden jedoch nicht nur als Symbole japanisch-deutscher Künstlerbiografien und als Akteure (trans)kultureller Praktiken in der Vergangenheit inszeniert. Denn indem die Objekte in die Räume und Gänge der Villa Kamogawa hineinversetzt und ganz alltäglich auf Tische gestellt und auf Anrichten drapiert, an Wände und Kleiderhaken gehängt werden, verbinden sie die Villa Kamogawa und all die Menschen, die in ihr leben und arbeiten, mit den ehemaligen Stipendiat*innen und mit den Ausstellungsbesucher*innen. Somit bilden die Objekte, die die Ausstellung versammelt, mehr als die biografische Nahtstelle, die abwesende Zeiten und bereiste Orte mit der Gegenwart verwebt: Sie sind Japan, Kansai, Kyoto irgendwann nach 2011 und sie sind die Erinnerung daran und sie sind Reise, Kultur- und Kreativität zwischen Japan und Deutschland in der Gegenwart. Wenn man sich fragt, was Japan für Künstler*innen aus Deutschland und was japanisch-deutsche Kultur ist, dann findet man Antworten in den »Verbindungsstücken«.



 

Japanische Übersetzung: Kazuko Kurahara