Kafkas Metaphern

Professorin Youngae Chon diskutiert die Herausforderungen und Besonderheiten beim Übersetzen von Kafkas Werken. Außerdem teilt sie ihre Antwort auf die Kafka-inspirierte und virale Frage in koreanischen Onlinemedien: „Was würdest du tun, wenn ich mich in ein Ungeziefer verwandeln würde?“

Goethe Halmoni Interview © Goethe-Institut Korea/Leslie Klatte

Bitte stellen Sie sich kurz vor.

Hallo, ich bin Youngae Chon, Gründerin und Betreiberin des Yeobaek Seowon (Anm. Während der Joseon-Dynastie ein Ort, an dem sich Gelehrte trafen, heute Ort mit Verlags- und Bibliotheksfunktionen/Ort des Lernens.) in Yeoju. Kürzlich habe ich mein großes Projekt „Goethe-Dorf“ gestartet. Vor allem aber habe ich mein ganzes Leben lang deutsche Literatur studiert und übersetzt.
 
 

Kafka wurde in der Tschechischen Republik geboren. Bitte erläutern Sie, warum seine Werke zur deutschen Literatur gehören.

Kafka wurde im Jahr 1883 geboren und starb 1924. Die Menschen rund um das Prager Rathaus, wohin viele Menschen reisten, sprachen Deutsch. Der Grund dafür ist, dass Prag zwar heute Tschechien ist, aber damals ein Habsburgisches Königreich war. Da es sich um eine Habsburger-Monarchie handelte, wurde Deutsch gesprochen, und insbesondere in Prag sprach etwa ein Zehntel der Bevölkerung Deutsch. Kafka war Jude. Sein Vater war ein erfolgreicher Mann, der es ihm ermöglichte, in die deutschsprachige Welt der Oberschicht vorzudringen und auf Deutsch zu lesen, zu schreiben und zu sprechen. Es handelt sich also zweifellos um deutsche Literatur. Es ist tatsächlich die Essenz der modernen deutschen Literatur. So ist es nur natürlich, dass sich das Goethe-Institut mit Kafka beschäftigt. Sich nicht damit zu beschäftigen, wäre nicht richtig.

Sie haben Kafkas Roman in den 1980er Jahren übersetzt, und übersetzten ihn in 2023 erneut - was hat sich verändert?

Die erste Übersetzung ist schon wirklich lange her. Die ersten Kurzgeschichten habe ich schon 1979 übersetzt. Und wie veraltet sind sie heute, wenn sie aus dieser Zeit stammen? Irgendwann dachte ich, ich sollte das Ganze nochmal als überarbeitete Version veröffentlichen. Vorletztes Jahr habe ich jeden einzelnen Satz überprüft, aber habe nicht wirklich viel geändert, weil ich damals so hart gearbeitet habe. Also habe ich versucht, zum Beispiel kleinere Stellen neu zu schreiben, wie den ersten Vers von „Die Verwandlung“: „Gregor Samsa wachte eines Morgens auf und stellte fest, dass er sich in einen Käfer verwandelt hatte.“ Dieser Satz klingt natürlich, oder? Aber ich entschied mich am Ende doch, sehr nah bei jedem einzelnen Wort zu bleiben, das Kafka schrieb, also: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Kafka hat jedes einzelne Stück mit so großer Sorgfalt geschrieben. Ich fand, dass man einem Schriftsteller wie ihn in seinem Schreiben begegnen sollte und nicht in einer simplen Umschreibung oder Erklärung. Das war also das Ergebnis von 30 Jahren Überlegung.

Kafkas Werke sind voll von Metaphern. Auf welche Schwierigkeiten sind sie beim Übersetzen gestoßen?

Nein, es war nicht schwierig. Weil ich so dankbar war, so gute Texte lesen zu dürfen, dachte ich nicht: „Das ist schwer zu übersetzen.“ Beim berühmten ersten Satz versuchte ich vor allem, den Ton des Satzes zu bewahren. Kafkas Schreiben ist sehr offen für Interpretationen. Er ist immer noch einer der am meist untersuchten Schriftsteller der Welt. Das Interessante am Wort „Ungeziefer“ ist, dass wir damit assoziieren „Ich bin wie ein Ungeziefer“, aber Kafka lässt diesen Schritt weg und spricht nur von „Ungeziefer“. Er fängt mit dem Käfer an, und er zeichnet ihn so präzise, so genau, dass man sich den Käfer wirklich vorstellen kann, wie er hier und dort krabbelt, und doch, wenn man noch einmal darüber nachdenkt, ist es nicht die Geschichte eines Käfers, es ist die Geschichte eines Menschen, der in dieser Industriegesellschaft lebt. In der Metapher ist so viel komprimiert. Ich bin so froh, dass es so viele Menschen gibt, die die wahre literarische Qualität hinter dieser Metapher sehen, aber andererseits beunruhigt mich immer der Gedanke, dass wir alle diese Probleme der Industriegesellschaft teilen, dass wir alle darunter leiden.

Kafkas Roman „Die Verwandlung“ ist in Korea besonders populär. Warum, glauben Sie, ist das so? 

Ich hatte es gerade schon kurz erwähnt und bin der Antwort dieser Frage etwas zuvorgekommen…

Es gibt keine Erklärung, warum ich ein Käfer bin. Ich gehe jeden Tag als Käfer zur Arbeit und lebe mein Leben als Käfer, aber warum ich zum Käfer wurde, ist nicht klar. Um das Werden des Käfers aber verstehen zu können, müssen wir das Leiden des Menschen, der zum Käfer wurde, verstehen. Im Verlauf von Kafkas Geschichte wird deutlich, dass Gregor gezwungen wurde, ein Käfer zu werden. Es ist nicht nur die Hektik der Industriegesellschaft und das Gefühl, an den Rand gedrängt zu werden. Der Druck setzt sich in der Familie fort: „Was ist, wenn mein Vater krank wird?“ Was passiert, wenn ich krank bin? Aber wenn ich nie zu einem Käfer werde – was passiert, wenn ich mich so wertlos wie einer fühle?“ Bis er sich in einen Käfer verwandelte, lebte die ganze Familie abhängig von Gregor Samsa. Doch nach seiner Verwandlung, beginnt jeder für sich selbst zu sorgen, erledigt seine eigene Arbeit und richtet sogar eine Pension ein. Und als er dann als Käfer hervorkrabbelt, werfen sie Äpfel nach ihm, um ihn zu vertreiben. Er wird vom Apfel getroffen und stirbt. Nun, in diesen Szenen sind Realität und Unwirklichkeit so eng miteinander verbunden. Dann hört Gregor plötzlich den Klang der Geige der Schwester, der er eine musikalische Bildung ermöglichen wollte, und sagt zu sich: „Bin ich ein Tier, dass mich Musik so ergreift?“ Dieses Gefühl ist so gut gezeichnet.

Es ist eine traurige Geschichte. Ich werde zum Käfer und sterbe, aber meine Familie freut sich darüber und geht ein Picknick machen. Aber wenn ich sehe, was meine Studierenden schreiben, erkenne ich Hoffnung. Doch wie können wir hoffen? Hätte Kafka explizit eine Geschichte mit der Aussage „Habt Hoffnung!“ geschrieben, so wäre vermutlich die Reaktion darauf: „Nein, es ist schwer, Hoffnung zu haben.“ gewesen. Doch weil Kafka das Gefühl von Verzweiflung und Frustration von Gregor so gut erzählt, wäscht es auf eine Art die Augen der Lesenden. Sie kriegen das Gefühl, dass wir diese Situation in einer menschlicheren Gesellschaft hätte lösen können. Ich glaube, solche Gedanken sind das, was die Menschen an Kafkas Roman so fasziniert. Mathematikprobleme haben Antworten, aber Probleme im Leben sind oft so schwer zu beantworten. Es gibt manchmal keine einfachen Antworten, aber wenn wir uns der Situation direkt stellen und ihr auf den Grund gehen, werden wir meiner Meinung nach die Kraft bekommen, mit ihr umzugehen. Im Grunde ist also nicht nur Kafka, sondern auch die Literatur an sich Fiktion, die uns Kraft verleiht. Darüber hinaus können wir manchmal nur unser Leben, unsere Gefühle leben. Doch wenn ich ein Buch wie „Die Verwandlung“ lese, dann denke ich an meinen Vater und daran, wie schwer er es hatte; an Menschen mit Behinderung, und wie es wohl wäre, wenn ich mit dieser Behinderung leben würde. Diese Art von Literatur bringt uns viel zum Nachdenken über das Leben und die Erfahrungen anderer, und genau deshalb müssen wir Literatur lesen.

Bitte geben Sie uns einige Beispiele dafür, was Sie an Kafkas Kurzgeschichten so faszinierend oder ungewöhnlich finden.

Wenn ich nur eine Geschichte auswählen müsste, wäre es meiner Meinung nach „Vor dem Gesetz“. Eigentlich ist die Geschichte nur etwas mehr als eine Seite lang, aber sie schafft so ein klares Bild vom Leben. Wie soll ich mein Leben planen? Ich versuche durch eine Tür zu gehen, aber ich werde aufgehalten. Und dann sterbe ich, aber während ich sterbe, höre ich eine Stimme, die sagt, dass diese Tür mein ganzes Leben lang nur für mich bestimmt war. Kafka zeichnet in dieser Geschichte wirklich ein klares Bild, das mich viel über mein eigenes Leben zum Nachdenken gebracht hat. Alle anderen Kurzgeschichten von ihm sind auch gut.

„Gemeinschaft“ gefällt mir auch. Ein Haus, aus dem zufällig 5 Freunde herauskommen und sich aufstellen. Doch als ein Sechster kommt und stehen bleibt, ist es für die Gruppe nicht in Ordnung. Es ist so schwer zu erklären, warum es nicht funktioniert, und es ist interessant, über Ausgrenzung und die Fragen der Parteinahme in diesem kurzen Stück zu lesen. Ein weiteres Merkmal von Kafkas Schreibstil ist, dass er viele Tiere bzw. Tiermetaphern verwendet. Es erscheinen Affen, Katzen und auch Mäuse. Wie auch schon in Äsops Fabel lehren die Tiere in Kafkas Geschichten oft etwas. Dies ist in seinen Werken oft der Umgang mit Verzweiflung oder Frustration, und Tiere sind eine Möglichkeit, diese Gefühle auszudrücken. Es geht nicht darum, Tiere schön zu zeichnen oder jemandem durch ihnen eine Lektion zu erteilen. Aber die Geschichten über Verzweiflung sind auf seltsame Weise ermutigend.

Was würden Sie zukünftigen Leser*innen sagen, die Kafka noch nicht gelesen haben?

Kafka ist nicht schwer zu lesen. Es macht Spaß. Ja, Sie sollten ihn wirklich lesen. Wenn Sie seine Kurzgeschichten lesen, bekommen Sie dadurch wirklich viel Anregung. Sie bringen einen zum Nachdenken. Und dieses berühmte Zitat von Kafka aus seinem Brief: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, trifft es so gut. Wir sind alle erstarrt, aber die Axt, die es zerbrechen kann, ist ein Buch. Kafka schätzte Bücher so sehr, und wie wertvoll könnte ein Kafka-Buch für Sie sein? Ich denke, Sie werden es genießen, diese Kurzgeschichten zu lesen. Vielen Dank!

Haben Sie diese Frage schon einmal gehört? Sie war letztes Jahr sehr beliebt… Kürzlich riefen Student*innen ihre Eltern an und fragten sie auf KakaoTalk: „Was würdest du tun, wenn ich mich in eine Kakerlake oder Ungeziefer verwandeln würde?“, und die Antworten waren sehr unterschiedlich. Ich fand heraus, dass die Frage aus Kafkas Literatur stammt…

Das ist so lustig. Zunächst einmal finde ich es toll, dass Kafka so akzeptiert ist.

Eines finde ich allerdings etwas schade. Und zwar wäre die Frage, was ich tun würde, wenn meine Mutter zu Ungeziefer wird, noch viel besser. Nicht wahr? Ich fände es gut, wenn es sich in diese Richtung noch ändern würde.

Nicht „Was werdet ihr für mich tun?“ „Ich habe mich verändert.“, sondern „Was werde ich für euch tun, wenn ihr euch in Kakerlaken verwandelt? So sollten wir es herumdrehen!

Diese Frage sollte so nochmal gestellt werden …

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