55 Jahre Stonewall:
Ein Rückblick und Blick nach vorn
Stellen Sie sich bitte vor.
Guten Tag. Mein Name ist More und ich wohne in Ilyeong-ri, einem Teil der Stadt Yangju in der südkoreanischen Provinz Gyeongi-do. More wird auf Koreanisch „Mo-eo“ ausgesprochen und setzt sich zusammen aus den Silben „Mo(毛)“ für „Haare“ und „Eo(魚)“ für „Fisch“: ein „haariger Fisch“.
„Ich wollte Balletttänzerin werden. Kein Balletttänzer …“ In Ihrem Ballettstudium sollen Sie auf eine Karriere als Balletttänzerin gehofft haben. Wie war ihre Schul- und Studienzeit, und was hat Sie dazu bewogen, Dragqueen zu werden?
Meine frühe Kindheit war mit Gewalt befleckt. Von dem Moment an, an dem ich über meine „Weiblichkeit“ zu sprechen begann, beschimpften mich die Menschen und wurden auch körperlich gewalttätig. Nur, weil ich anders als die anderen war, war diese so wichtige Zeit sehr schmerzvoll für mich.
Diese Geschichte der Gewalt setzte sich bis in meine Studienzeit fort. Bei der Einführungsveranstaltung für neue Student*innen schrie mich ein älterer Kommilitone an, dass ich meine Weiblichkeit loswerden sollte, und gab mir aus voller Kraft eine Ohrfeige. Ich wurde in eine Ecke des National Theatre of Korea (damals die Tanzschule der Korea National University of Arts) geschleudert und landete auf dem Boden. Damals dachte ich, dass ich aus dieser Welt wohl verschwinden sollte, und wollte sogar sterben.
Um zu überleben, verkroch ich mich in einem Mauseloch namens Itaewon. An dem Tag, als ich dort zum ersten Mal Stöckelschuhe anzog und eine Perücke aufsetzte, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Danach wurde mein Make-up noch dicker. Mein Ich hatte sich in den Clubs von Itaewon verlaufen und wusste nicht, wo es hingehen sollte, aber es begann voller Freude zu tanzen. So wendete ich mich vom Ballett ab und begann meine ersten Schritte als Dragqueen.
Es gibt zwei Aufführungen, die auch für Sie etwas Besonderes gewesen sein dürften: „13 Früchtchen (13 Fruitcakes)“, welches Sie 2019 zum 50. Jubiläum der Stonewall-Unruhen im New Yorker Theater La MaMa aufführten, und die Solo-Performance „More“, mit der Sie 2020 als erste Dragqueen im koreanischen National Museum of Modern and Contemporary Art (MMCA) auftraten. Können Sie uns mehr davon erzählen? Auch von weiteren Aufführungen, die Ihnen in Erinnerungen geblieben sind.
Ich war zum ersten Mal in New York. Im Juni 2019, als ich in New York ankam, wehten überall die Regenbogenflaggen. Nicht nur die Straßen, auch die Gebäude und Restaurants, ja ganz New York war in Regenbogenfarben getaucht. Die USA haben eine kurze Geschichte, daher schienen sie sehr stolz auf 50 Jahre Stonewall-Aufstand zu sein. (In der US-amerikanischen Geschichte sind 50 Jahre ja schon eine lange Zeit).
„13 Fruitcakes“ erzählt von 13 queeren Berühmtheiten und wurde von Brian Byungkoo Ahn inszeniert. Die Komponistin Gihieh Lee komponierte die Musik zu Texten von Walt Whitman, Oscar Wilde, Rimbaud und anderen historischen Persönlichkeiten, die einer sexuellen Minderheit angehörten. Ich spielte die Rolle von Orlando (nach der Hauptfigur des 1929 veröffentlichten gleichnamigen Romans von Virginia Woolf, welche über 400 Jahre hinweg immer wieder ihr Geschlecht wechselt). In der Szene über den Komponisten Tschaikowsky tanzte ich als schwarzer Schwan Ballett; in der Szene über Virginia Woolf wedelte ich mit „jijeon“ (Papierwedeln, die im koreanischen Schamanismus Geldscheine symbolisieren) und tanzte einen koreanischen Tanz; in der Szene über Eleanor Roosevelt spielte ich Roosevelt, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in den Händen hält. Ich war ein Medium, das mit den Seelen der Verstorbenen kommuniziert, und führte als solches in jeder der 13 Vignetten mit einem anderen Musikgenre und einem anderen Erscheinungsbild durch das Stück.
Dass ich im La MaMa Theatre im East Village von Manhattan, in dem in seiner 60-jährigen Geschichte schon legendäre Schauspieler wie Robert De Niro und Al Pacino aufgetreten sind, ein solches Stück aufführen durfte: was für eine Ehre!
Das andere Stück war die Performance „More“, eine Koproduktion des koreanischen Künstlers Kang Seung Lee, der 2024 zur Biennale in Venedig eingeladen wurde, und mit mir als Drag-Künstlerin. Es handelte sich um eine Solo-Performance, die Drag, Tanz und Ballett kombinierte und Themen wie Queersein, Drag und die Performativität von Geschlecht thematisierte. Dass dies im MMCA, einem öffentlichen Raum, stattfand, und eine Dragqueen ein einstündiges Solostück aufführen durfte…. Dieses Stück gab mir das Gefühl, dass ich mich endlich von einer Dragqueen am Rande der Gesellschaft zu einer Künstlerin entwickelt hatte, die sich aus dieser Randzone etwas herausarbeiten konnte.
Ich wollte eine Performance schaffen, die mein ganz eigenes Genre darstellt. Ein Theaterstück, das die Dinge verbindet, die tief in meiner Identität verwurzelt sind: Ballett, Drag, Burlesque. Gott sei Dank wurde es eine Aufführung von sehr hoher Qualität, mit der ich auch selbst zufrieden war. Das einzige Bedauerliche war, dass die Aufführung damals aufgrund der Corona-Pandemie nur auf YouTube live gestreamt werden konnte. Aber dennoch hat mir diese Aufführung viel bedeutet.
In meinem Buch „More. Ein haariger Fisch“ habe ich geschrieben: „Ich trage an niederen Orten Stöckelschuhe und an hohen Orten Ballettschuhe.“ Wenn niedere Orte zum Beispiel Itaewon, Drag oder Untergrundkultur sind, dann sind hohe Orte das MMCA, Tanz und Mainstream.
In Ihrem Buch “More. Ein haariger Fisch (털 난 물고기 모어)” und Ihrem autobiografischen Dokumentarfilm “Ich bin More (모어. I am More)” treten außer Ihnen noch drei andere Hauptfiguren auf: Ihre Eltern und Ihr Ehemann Zhenya (Evgeny Shtefan). Was bedeuten Ihnen diese drei Menschen?
Dass ich das Kind meiner Eltern bin, war ein unglaublicher Segen. Ohne ihre Liebe hätte ich das Leben schon längst aufgegeben. Wenn sie mich nicht so angenommen hätten, wie ich war, würde ich immer noch ein unglückliches Leben voller Tränen führen oder nicht mehr auf dieser Welt sein.
Bei der Aufführung von „13 Fruitcakes“ 2019 in New York sagte der Choreograf zu mir: „Dein Leben ist etwas ganz Besonderes“. Selbst in der heutigen Zeit will man jemanden, der Ballett studieren will, meist mit aller Kraft davon abhalten, weil das so ein schwieriger Weg ist. Aber früher auf dem Land einen Jungen zum Ballett zu schicken: Das war schon etwas sehr Besonderes.
Zunächst war mir nicht ganz klar, was der Choreograf damit meinte. Erst, als mein Dokumentarfilm veröffentlicht wurde, konnte ich es nachvollziehen. Erst, als ich meine Geschichte auf der Leinwand sah, konnte ich mein Leben objektiv betrachten.
Als ich meinen Eltern zum ersten Mal sagte, dass ich Ballett tanzen muss, haben sie mich kein einziges Mal ausgeschimpft oder mich dazu gezwungen, etwas anderes zu tun. Ich glaube, meine Eltern hatten vom Tag meiner Geburt an genau gemerkt, dass ich mich sehr von anderen Menschen unterschied. Meine Eltern haben mich immer gleich behandelt. Vielleicht war das der Grund, warum ich, als ich den Film „I am More“ mit ihnen zusammen sah, so viel geweint habe.
Mein Ehemann ist groß und hat blaue Augen. Er ähnelt dem, was ich mir als Kind beim Lesen des Buches „Daddy Langbein“ vorgestellt hatte. Wir lernten uns 1998 kennen, haben also mehr als die Hälfte meines Lebens gemeinsam verbracht. Aus den Augen meines Mannes spricht immer noch Liebe, wenn er mich anschaut. Wie ist es nur möglich, dass sich das nichts geändert hat? Meine Eltern und mein Mann sind für mich wie ewig sprudelnde Quellen der Liebe. Ja, ich bin wirklich von Glück gesegnet.
Aufnahmen von Ihren Aufführungen wirken äußerst pracht- und farbenfroh. Jede Ihrer Dragshows hat ihre ganz eigene Identität. Was ist das Besondere an Ihren Aufführungen, und was möchten Sie mit ihren Shows erreichen?
Zunächst mal sind sie einfach anders, weil ich Ballett studiert habe. Damit möchte ich keinesfalls behaupten, dass ich etwas Besonderes bin. Aber es entsteht eine ganz eigene Ästhetik aus der Kombination des Mainstreams (Ballett) und der Untergrundkultur (Drag). Zudem wurde ich in einer entlegenen Gegend der Provinz Jeollanam-do geboren und trage eine einzigartige Energie in mir, die ich dort aufgenommen habe.
Früher habe ich Schönheit im Skurrilen und Dunklen gesucht. Heute mag ich es, wenn Kern wie Ergebnis schön sind, so wie das Buch „More. Ein haariger Fisch“ und der Film „I am More“. Ich strebe jetzt also nach etwas anderem.
Und nicht nur die Form, auch die Themen haben sich geändert. Früher war es: „Die Welt ist eine Hölle, und erst mit dem Tod enden alle Qualen“. Heute ist es dagegen: „Die Welt ist das Paradies, und wir müssen dieses Glück genießen, solange wir leben“. Das spiegelt eine große Veränderung in meinem Leben wider. Jetzt gefallen auch mir Dinge, die jeder schön findet.
Dinge, die schwierig, schräg oder seltsam sind, Konzepte, vor denen die Öffentlichkeit Angst hat: das will ich jetzt nicht mehr machen. Egal, was ich mache, in meinen Handlungen ist die ganze Bandbreite des menschlichen Erlebens unausweichlich eingewoben. Nun möchte ich über das hinaus noch meinen ganz eigenen Humor einbringen. Ich hoffe, dass die Menschen in meinen Aufführungen lachen und weinen können.
In Korea werden Sie eine „lebende Legende unter den Dragqueens“ genannt, so einflussreich sind Sie. Fühlen Sie eine gewisse Verantwortung aufgrund Ihrer Berühmtheit? Was würden Sie gerne noch machen?
Eine Legende – das ist zu viel des Lobes.
Ich möchte nur so, wie ich bin, bis zu meinem Tod schön und selbstbewusst leben. Wenn man sich umblickt, gibt es viele, die das nicht konnten. Ich glaube, viele empfinden eine Ersatzbefriedigung oder ein starkes Gefühl der Zufriedenheit, wenn sie mich sehen. Es mag etwas überspitzt klingen, aber in diesem Leben ist es vielleicht einfach meine Berufung, mit erhobenem Kopf ich selbst zu sein.
Gestern war so, heute ist anders, aber morgen wird einfach nur schön sein.
Wer kommt nach Ihnen? Können Sie uns eine Nachwuchs-Dragqueen nennen, die noch unbekannt ist, aber in Ihre Fußstapfen treten wird?
(Lacht) Tut mir leid, aber ich fürchte, da gibt es noch niemanden.
Die koreanische Gesellschaft ist nach wie vor sehr konservativ geprägt, sodass ich an manchen Punkten äußerst vorsichtig bin, aus Angst, Ihnen nahezutreten. Welche Sichtweise und welches Verhalten würden Sie persönlich sich von den sogenannten normalen (heterosexuellen) Menschen im Umgang mit sexuellen Minderheiten wünschen?
Wir sind doch alle nur Menschen. Ich möchte nicht, dass Angehörige sexueller Minderheiten weiter besonders behandelt werden. Es gibt nichts Abgedroscheneres als das. Ich weiß nicht, wie lange wir noch davon sprechen müssen, dass du und ich anders sind. Wir sind alle einfach nur „Menschen“, die in der heutigen Zeit ein hartes Leben führen.
Ich möchte das Interview mit einigen Zeilen enden, die ich für eine Lesung mit der Musikerin Lang Lee 2023 im Sejong Cultural Center geschrieben habe.
“Warum sagst du nicht, dass ich deine Freundin bin …
Ich bin kein seltsames, fremdes oder unheimliches Wesen.
Ich bin einfach nur deine Nachbarin, die Tag für Tag gewissenhaft ihr Leben lebt.”
Guten Tag. Mein Name ist More und ich wohne in Ilyeong-ri, einem Teil der Stadt Yangju in der südkoreanischen Provinz Gyeongi-do. More wird auf Koreanisch „Mo-eo“ ausgesprochen und setzt sich zusammen aus den Silben „Mo(毛)“ für „Haare“ und „Eo(魚)“ für „Fisch“: ein „haariger Fisch“.
„Ich wollte Balletttänzerin werden. Kein Balletttänzer …“ In Ihrem Ballettstudium sollen Sie auf eine Karriere als Balletttänzerin gehofft haben. Wie war ihre Schul- und Studienzeit, und was hat Sie dazu bewogen, Dragqueen zu werden?
Meine frühe Kindheit war mit Gewalt befleckt. Von dem Moment an, an dem ich über meine „Weiblichkeit“ zu sprechen begann, beschimpften mich die Menschen und wurden auch körperlich gewalttätig. Nur, weil ich anders als die anderen war, war diese so wichtige Zeit sehr schmerzvoll für mich.
Diese Geschichte der Gewalt setzte sich bis in meine Studienzeit fort. Bei der Einführungsveranstaltung für neue Student*innen schrie mich ein älterer Kommilitone an, dass ich meine Weiblichkeit loswerden sollte, und gab mir aus voller Kraft eine Ohrfeige. Ich wurde in eine Ecke des National Theatre of Korea (damals die Tanzschule der Korea National University of Arts) geschleudert und landete auf dem Boden. Damals dachte ich, dass ich aus dieser Welt wohl verschwinden sollte, und wollte sogar sterben.
Um zu überleben, verkroch ich mich in einem Mauseloch namens Itaewon. An dem Tag, als ich dort zum ersten Mal Stöckelschuhe anzog und eine Perücke aufsetzte, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Danach wurde mein Make-up noch dicker. Mein Ich hatte sich in den Clubs von Itaewon verlaufen und wusste nicht, wo es hingehen sollte, aber es begann voller Freude zu tanzen. So wendete ich mich vom Ballett ab und begann meine ersten Schritte als Dragqueen.
© privat
Ich war zum ersten Mal in New York. Im Juni 2019, als ich in New York ankam, wehten überall die Regenbogenflaggen. Nicht nur die Straßen, auch die Gebäude und Restaurants, ja ganz New York war in Regenbogenfarben getaucht. Die USA haben eine kurze Geschichte, daher schienen sie sehr stolz auf 50 Jahre Stonewall-Aufstand zu sein. (In der US-amerikanischen Geschichte sind 50 Jahre ja schon eine lange Zeit).
„13 Fruitcakes“ erzählt von 13 queeren Berühmtheiten und wurde von Brian Byungkoo Ahn inszeniert. Die Komponistin Gihieh Lee komponierte die Musik zu Texten von Walt Whitman, Oscar Wilde, Rimbaud und anderen historischen Persönlichkeiten, die einer sexuellen Minderheit angehörten. Ich spielte die Rolle von Orlando (nach der Hauptfigur des 1929 veröffentlichten gleichnamigen Romans von Virginia Woolf, welche über 400 Jahre hinweg immer wieder ihr Geschlecht wechselt). In der Szene über den Komponisten Tschaikowsky tanzte ich als schwarzer Schwan Ballett; in der Szene über Virginia Woolf wedelte ich mit „jijeon“ (Papierwedeln, die im koreanischen Schamanismus Geldscheine symbolisieren) und tanzte einen koreanischen Tanz; in der Szene über Eleanor Roosevelt spielte ich Roosevelt, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in den Händen hält. Ich war ein Medium, das mit den Seelen der Verstorbenen kommuniziert, und führte als solches in jeder der 13 Vignetten mit einem anderen Musikgenre und einem anderen Erscheinungsbild durch das Stück.
Dass ich im La MaMa Theatre im East Village von Manhattan, in dem in seiner 60-jährigen Geschichte schon legendäre Schauspieler wie Robert De Niro und Al Pacino aufgetreten sind, ein solches Stück aufführen durfte: was für eine Ehre!
© privat
Ich wollte eine Performance schaffen, die mein ganz eigenes Genre darstellt. Ein Theaterstück, das die Dinge verbindet, die tief in meiner Identität verwurzelt sind: Ballett, Drag, Burlesque. Gott sei Dank wurde es eine Aufführung von sehr hoher Qualität, mit der ich auch selbst zufrieden war. Das einzige Bedauerliche war, dass die Aufführung damals aufgrund der Corona-Pandemie nur auf YouTube live gestreamt werden konnte. Aber dennoch hat mir diese Aufführung viel bedeutet.
In meinem Buch „More. Ein haariger Fisch“ habe ich geschrieben: „Ich trage an niederen Orten Stöckelschuhe und an hohen Orten Ballettschuhe.“ Wenn niedere Orte zum Beispiel Itaewon, Drag oder Untergrundkultur sind, dann sind hohe Orte das MMCA, Tanz und Mainstream.
© privat
Dass ich das Kind meiner Eltern bin, war ein unglaublicher Segen. Ohne ihre Liebe hätte ich das Leben schon längst aufgegeben. Wenn sie mich nicht so angenommen hätten, wie ich war, würde ich immer noch ein unglückliches Leben voller Tränen führen oder nicht mehr auf dieser Welt sein.
Bei der Aufführung von „13 Fruitcakes“ 2019 in New York sagte der Choreograf zu mir: „Dein Leben ist etwas ganz Besonderes“. Selbst in der heutigen Zeit will man jemanden, der Ballett studieren will, meist mit aller Kraft davon abhalten, weil das so ein schwieriger Weg ist. Aber früher auf dem Land einen Jungen zum Ballett zu schicken: Das war schon etwas sehr Besonderes.
Zunächst war mir nicht ganz klar, was der Choreograf damit meinte. Erst, als mein Dokumentarfilm veröffentlicht wurde, konnte ich es nachvollziehen. Erst, als ich meine Geschichte auf der Leinwand sah, konnte ich mein Leben objektiv betrachten.
Als ich meinen Eltern zum ersten Mal sagte, dass ich Ballett tanzen muss, haben sie mich kein einziges Mal ausgeschimpft oder mich dazu gezwungen, etwas anderes zu tun. Ich glaube, meine Eltern hatten vom Tag meiner Geburt an genau gemerkt, dass ich mich sehr von anderen Menschen unterschied. Meine Eltern haben mich immer gleich behandelt. Vielleicht war das der Grund, warum ich, als ich den Film „I am More“ mit ihnen zusammen sah, so viel geweint habe.
© privat
© privat
Zunächst mal sind sie einfach anders, weil ich Ballett studiert habe. Damit möchte ich keinesfalls behaupten, dass ich etwas Besonderes bin. Aber es entsteht eine ganz eigene Ästhetik aus der Kombination des Mainstreams (Ballett) und der Untergrundkultur (Drag). Zudem wurde ich in einer entlegenen Gegend der Provinz Jeollanam-do geboren und trage eine einzigartige Energie in mir, die ich dort aufgenommen habe.
Früher habe ich Schönheit im Skurrilen und Dunklen gesucht. Heute mag ich es, wenn Kern wie Ergebnis schön sind, so wie das Buch „More. Ein haariger Fisch“ und der Film „I am More“. Ich strebe jetzt also nach etwas anderem.
Und nicht nur die Form, auch die Themen haben sich geändert. Früher war es: „Die Welt ist eine Hölle, und erst mit dem Tod enden alle Qualen“. Heute ist es dagegen: „Die Welt ist das Paradies, und wir müssen dieses Glück genießen, solange wir leben“. Das spiegelt eine große Veränderung in meinem Leben wider. Jetzt gefallen auch mir Dinge, die jeder schön findet.
Dinge, die schwierig, schräg oder seltsam sind, Konzepte, vor denen die Öffentlichkeit Angst hat: das will ich jetzt nicht mehr machen. Egal, was ich mache, in meinen Handlungen ist die ganze Bandbreite des menschlichen Erlebens unausweichlich eingewoben. Nun möchte ich über das hinaus noch meinen ganz eigenen Humor einbringen. Ich hoffe, dass die Menschen in meinen Aufführungen lachen und weinen können.
© privat
Eine Legende – das ist zu viel des Lobes.
Ich möchte nur so, wie ich bin, bis zu meinem Tod schön und selbstbewusst leben. Wenn man sich umblickt, gibt es viele, die das nicht konnten. Ich glaube, viele empfinden eine Ersatzbefriedigung oder ein starkes Gefühl der Zufriedenheit, wenn sie mich sehen. Es mag etwas überspitzt klingen, aber in diesem Leben ist es vielleicht einfach meine Berufung, mit erhobenem Kopf ich selbst zu sein.
Gestern war so, heute ist anders, aber morgen wird einfach nur schön sein.
Wer kommt nach Ihnen? Können Sie uns eine Nachwuchs-Dragqueen nennen, die noch unbekannt ist, aber in Ihre Fußstapfen treten wird?
(Lacht) Tut mir leid, aber ich fürchte, da gibt es noch niemanden.
Die koreanische Gesellschaft ist nach wie vor sehr konservativ geprägt, sodass ich an manchen Punkten äußerst vorsichtig bin, aus Angst, Ihnen nahezutreten. Welche Sichtweise und welches Verhalten würden Sie persönlich sich von den sogenannten normalen (heterosexuellen) Menschen im Umgang mit sexuellen Minderheiten wünschen?
Wir sind doch alle nur Menschen. Ich möchte nicht, dass Angehörige sexueller Minderheiten weiter besonders behandelt werden. Es gibt nichts Abgedroscheneres als das. Ich weiß nicht, wie lange wir noch davon sprechen müssen, dass du und ich anders sind. Wir sind alle einfach nur „Menschen“, die in der heutigen Zeit ein hartes Leben führen.
Ich möchte das Interview mit einigen Zeilen enden, die ich für eine Lesung mit der Musikerin Lang Lee 2023 im Sejong Cultural Center geschrieben habe.
“Warum sagst du nicht, dass ich deine Freundin bin …
Ich bin kein seltsames, fremdes oder unheimliches Wesen.
Ich bin einfach nur deine Nachbarin, die Tag für Tag gewissenhaft ihr Leben lebt.”