Berlinale-Blogger 2020
Im Wettbewerb der Berlinale Shorts: Chaos, Tod, Ungleichheit der Klassen und Geschlechter

Szene aus dem Film „Genius Loci“, Regisseur Adrien Mérigeau
Szene aus dem Film „Genius Loci“, Regisseur Adrien Mérigeau, Section: Berlinale Shorts 2020 | Foto (Detail) © Kazak Productions – Folimage

Die Gewinner der diesjährigen 'Berlinale Shorts' sprechen über die soziale und die Geschlechterungleichheit, Politik und chaotische Selbstsuchen.

„Ich sehe Chaos. Überall. Du kannst das nicht aufhalten.“ Reine, ein junges Mädchen, ist mitten im Chaos. Chaos herrscht in ihrem eigenen Kopf, in der nächtlichen Stadt, und die Blicke der sie umgebenden Menschen zeugen auch von nichts anderem. Der Animationsfilm „Genius Loci“ (2020) des französischen Regisseurs Adrien Mérigeau, der im Wettbewerb der 'Berlinale Shorts' mit dem Audi Short Film Award ausgezeichnet wurde, entdeckt in Reines Suche nach sich selbst ein konfuses Mädchen.
 
Reine lebt zusammen mit ihrer Schwester und dem Sohn der Schwester. Sie öffnet das Küchenfenster und springt 'raus ins nächtliche Dämmerlicht der Straßenlaternen. In der Stadt fliegt Müll durch die Gegend, kaputte Fernseher und Möbel liegen herum; fremde Jugendliche kommen unter der Brücke hervor und fragen sie, was sie hier macht - doch Reine kann keine Antwort geben. Sie weiß es selbst nicht. In der Kirche spielt ihre Freundin Rosie Orgel, für Reine eine Musik als „würde Sturmwind Musik spielen“. Jedoch ist die Verbindung zwischen den beiden Mädchen schon länger abgerissen. Reine hat seit langem nicht mehr mit Rosie gesprochen und hört nicht, was sie sagt. Bald wird ihre Freundin zum Baum – Rosie verschwindet aus Reines Leben. Reine nimmt immer wieder neue Gestalten an und eilt durch die Stadt, an ihr vorbei ziehen Silhouetten fremder Menschen. Indem die (an Wassily Kandinsky erinnernden) Gestalten in andere Silhouetten mutieren, gelingt es dem Regisseur, eine dynamische Unruhe und Frustration des Mädchens zu schaffen, vor der es nicht fliehen kann sondern die es nur hinnehmen kann.

Szene aus dem Film „T“ , Regie Keisha Rae Witherspoon
Szene aus dem Film „T“ , Regie Keisha Rae Witherspoon, Berlinale Shorts 2020 | Foto (Detail) © Third Horizon

Gedenken an Verstorbene

Der Dokumentarfilm „T“ (2019) der amerikanischen Filmemacherin Keisha Rae Witherspoon, der den Goldenen Bären für den besten Kurzfilm gewonnen hat, erzählt von dem jährlich in Miami stattfindenden T-Ball, zu dem die Afroamerikaner zusammenkommen, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Eine Frau erwähnt, dass ihr Bruder begonnen hat, in seinen Werken Bezug auf Rot und Blau zu nehmen. Dies sind die Farben der US-Flagge, die immer wieder als Symbol der Freiheit präsentiert wird; auch kommen diese Farben im Blaulicht der Polizei vor, die beschützen sollte, jedoch kommen wegen Polizisten jedes Jahr auch unschuldige Schwarze ums Leben oder landen wegen falschen Beschuldigungen im Gefängnis. Die vor Leben spriessenden Menschen schmücken sich mit selbst gefertigten Kostümen oder tragen ein T-Shirt mit Bildern der Menschen, die sie verloren haben. „Wir sind da, um unserer Angehörigen zu gedenken, zu trauern, zu weinen, zu tanzen, zu feiern und zu beten, dass dieses Jahr das letzte Jahr ist, in dem wir 'T-Ball' veranstalten."

Klassenunterschiede auf dem Golfplatz

Der mit dem Preis der Jury ausgezeichnete Kurzfilm „Filipiñana“ von Rafael Manuel führt durch den Arbeitstag eines jungen Mädchens namens Isabel auf dem Golfplatz. Wie ihre Mitarbeiterinnen hat auch Isabel ein weißes Kostüm und Kniestrümpfe an, legt den Golfern die Bälle zurecht und trägt ihre Schläger. Isabel sitzt in einer der Golfbuden, die Kamera blickt auf sie von unten durch die gespreizten Beine eines der Männer. Dieses Bild demonstriert die Überlegenheit des Mannes, seine Macht dem Mädchen gegenüber. „Filipiñana“ nutzt den Golfplatz als den einzigen Schauplatz des Films und zeigt treffend soziale Klassenunterschiede. Die Mitarbeiterinnen massieren die Füße der Ehefrauen und bestätigen immer wieder, wie gut diese spielen. Sie beobachten auch deren privilegierte Kinder, die von klein an versuchen, Golf zu spielen. Isabel spaziert über den Golfplatz, legt sich auf die Wiese, wird aber auch ständig mit der Bemerkung konfrontiert, dass nur die Gäste und nicht das Personal sich so benehmen dürfen.
Szene aus dem Film „Atkūrimas“/„Dummy“, Regisseur Laurynas Bareiša
Szene aus dem Film „Atkūrimas“/„Dummy“, Regisseur Laurynas Bareiša, Section: Berlinale Shorts 2020 | © afterschool

Nicht nur über die Straftat

Zum ersten Mal war in der Sektion Berlinale Shorts auch ein litauischer Film im Wettbewerb um den Hauptpreis: „Atkūrimas“/„Dummy“ (2020) von Laurynas Bareiša. Frühere Werke des Regisseurs und Kameramannes („Pirtis“/„By the Pool“, 2017, und „Kaukazas“/„Caucasus“, 2018) wurden auf den Filmfestivals von Venedig und Locarno gezeigt. In dem neuen Film „Atkūrimas“/„Dummy“ lässt sich die Ermittlerin Miglė (Indrė Patkauskaitė) vom Täter am Tatort den Tathergang schildern. Zusammen mit fünf männlichen Beamten schaut sie zu, wie der Täter (Paulius Markevičius), dessen Namen wir nicht kennen, seine Version des Mordes darstellt. Die Ermittlerin folgt dem Ablauf des Geschehens und stellt ihm Fragen, während der Protagonist alle Handlungen mit Hilfe einer geschlechtslosen Puppe wiederholt. Überhaupt wird uns das Geschlecht des Opfers nie offenbart. Bareiša, der auch Drehbuchautor des Films ist, nutzt keine Pronomen oder sonstige Wörter, die ihn dazu zwängen, hier zu identifizieren. Im 13-minütigen Werk, dessen gesamte Handlung die Nachstellung der Tat ist, zeichnet der Regisseur getreu die geschlechtsspezifische Konstellation der Situation nach. Miglės Mitarbeiter bieten ihr als Frau etwa ihre Hilfe an, den Hang herunterzusteigen. Als der Täter die Hose auszieht, kommt eine Zwischenbemerkung: „Schau, was er macht. Willst du zugucken?“. Miglė scheint die einzige zu sein, die daran interessiert ist, eine eingehende Ermittlung durchzuführen, wobei auffällig ist, dass ihre männlichen Kollegen den Täter ein wenig zu freundlich behandeln.

Bareiša entscheidet sich, keine brutalen oder schockierenden Bilder zu zeigen. Das Geschehen wird in Worten rekonstruiert, die in der Vorstellung des Betrachters ein Bild der Tat entstehen lassen. Dieses künstlerische Merkmal ist schon in Bareišas früheren Werken zu finden. In „Pirtis“/„By the Pool“ sehen die Zuschauer Teenager in ausgelassener Stimmung, jedoch verstehen wir, dass das Mädchen, das sich morgens immer noch am Ort befindet, von einem der Jungs vergewaltigt wurde. In „Kaukazas“/„Caucasus“ fahnden Polizisten nach einem Mädchen, das ihren Hund ausgeführt hat. Jedoch verraten weder Mutter noch Großmutter, dass die Tochter dunklere Hautfarbe hat. Indem der Regisseur in seinen Werken bewusst etwas verschweigt oder nicht offen zeigt, kommentiert er treffend die Ereignisse und die nicht mehr zeitgemäßen Traditionen des Landes und ganz Europas.
 

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