Von Julijonas Urbonas
2019 habe ich die „Litauische Raumagentur“, eine Organisation für Raumfahrtkultur, gegründet, deren Ziel es ist, die überirdische Vorstellungskraft und die Gravitationsästhetik zu untersuchen. Die Gründung der Organisation wurde durch den vor 5, 6 Jahren entstandenen Begriff „Neues Weltraumzeitalter“ veranlasst, der für neue Phänomene und Entwicklungen, wie etwa der Raumfahrtwirtschaft, der erheblichen Zunahme nationaler Raumfahrtprogramme und Theoriebildungen zum Astro-Anthropozän – verwendet wird. Diese Liste würde ich noch mit dem zunehmendem Raumfahrtbezug in Geistes- und Kunstwissenschaften ergänzen. Immer mehr Wissenschaftsdisziplinen versehen sich mit dem Präfix „Astro-“ (Astroanthropologie, Astropolitik, Astroethik ...) und überdenken ihre theoretischen Grundlagen aus der Raumfahrt-Perspektive. Alle Disziplinen entstanden und entwickelten sich jedoch auf der Erde, im irdischen Ökosystem, unter menschlicher Aufsicht und zwar mit der Gravitationskraft von 1 G. Diese Einsicht war für die „Litauische Raumagentur“ Anlass zur folgenden Überlegung: wie nämlich sollte man das Überirdische erforschen, wenn wir von Natur aus körperlich und mental an die Erde gebunden sind? Wie könnte man sich von der irdischen Vorstellungskraft und Denkweise befreien?
Staub zu Staub
Die Raumagentur lädt Sie zu einem Gedankenexperiment ein: Vergessen wir für einen kurzen Moment unsere irdische Natur und verzichten wir auf deren Maßstäbe, indem wir unsere Körper als Himmelsobjekte betrachten. Alles ist doch aus kosmischem Staub entstanden, wir unterscheiden uns also in dieser Hinsicht kaum von einem Stein, Sanddünen oder Asteroiden. Jetzt versuchen wir, unseren Körper von der irdischen Umgebung hinter die Kármán-Linie zu verlegen, also hinter eine Grenze in einer Höhe von etwa 100 km über dem Meeresspiegel, die als gedachte Grenze zwischen Erdatmosphäre und freiem Weltraum wird. Würde sie überschritten würde sich je nach Umständen der Körper bald in einen anderen Körper verwandeln und sich in kosmischen Staub auflösen, er würde also in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden.
Der Himmelskörper aus Menschenkörpern
Aber was würde passieren, wenn wir nicht einen, sondern eine Milliarde oder gar eine Sextillionen (1036) Körper losschicken würden? Und wenn wir uns für einen konkreteren Ort im Weltraum entscheiden würden, und zwar für einen der Lagrange-Punkte? Die Lagrange-Punkte sind Positionen zwischen einander umkreisenden Himmelskörpern (z. B. Erde-Mond, Sonne-Erde), wo die Gravitationskräfte beider Himmelskörper ausgeglichen und somit aufgehoben sind und ein dritter Körper, z. B. eine Raumsonde, ortsfest ruht. Die dort schwebenden Körper sind kräftefrei. Sie werden lediglich von einer schwachen eigenen Gravitationskraft beeinflusst (für jedes Objekt mit einer Masse existiert ein Gravitationsfeld). Innerhalb von einigen Monaten würden sich die schwebenden Körper zu einer Masse vereinen, mit der Zeit würde diese menschliche Biomasse durch die vereinte Gravitationswirkung runder werden, die in die Kerne hineingedrückten Körper würden sich durch die Druckkraft aufheizen, aufkochen und zu einer Fett-Lava werden, die dann schließlich an die Oberfläche kommen und eine neue Landschaft des neuen Planeten gestalten würde. Der Planet „Menschheit“.
Das Monument für die Menschheit
Was könnte dieses Gedankenexperiment hier und jetzt bedeuten? Kommen wir wieder auf die Erde herunter. Wir spüren die kommende Apokalypse. Pandemie, Klimawandel, Atomkrieg, Meteore, Außerirdische – das sind nur einige der möglichen Szenarien. Rettungsszenarien gibt es viel weniger: Kolonisierung anderer Planeten, Raumstationen, Kryonik (Tiefkühlung eines Menschen für eine spätere Wiederbelebung). Die Metapher vom „Schwarzen Schwan“ besagt, dass solche Ereignisse plötzlich und gänzlich unerwartet eintreten können. Welchen menschlichen Nachlass außer Weltraummüll werden wir im Universum hinterlassen, wenn wir uns schlimmstenfalls mit dem Ende unseres Planeten und der Geschichte abfinden müssen? Was kann den Menschen besser verewigen als der Mensch selbst?! Man kann sich für bestimmte Orte im Weltraum entscheiden, wie etwa die erwähnten Lagrange-Punkte, wo ein beinahe absoluter Nullpunkt, ein Vakuum, herrscht, wo es keine Sonneneinstrahlung und keine Zusammenstöße mit anderen Himmelskörpern gibt – das wäre der ideale Ort für die Körperkonservierung für eine Milliarde Jahre. Der Weltraum-Friedhof der Menschheit. Das Fossil der Menschheit.
Die Inversion der vitruvianischen Architektur
Eines der größten Probleme der Architektur ist die Gravitation. Was ist Architektur ohne Gravitation? Und noch mehr: was passiert, wenn die Achse der irdischen Architektur, der Mensch selbst, zur Architektur wird? Der im Weltraum schwebende Körper verliert sein Geschlecht, seine Rasse, seinen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontexte. Solche wesentliche Raumbegriffe, wie „oben“ und „unten“, „vertikal“ und „horizontal“ verlieren ihren Sinn. Was ist die Bedeutung von „vertikaler Linie“, wenn die Füße die Verbindung zur Erde verlieren? Der Kopf und der Hintern werden gleichberechtigt. Im Weltraum sind alle gleich: der menschliche Körper ist zu betrachten wie Weltraummüll, oder wie ein Komet, wie ein Stern oder ein Baustein für ein noch zu schaffendes Weltraumbauwerk.
Die Cyborg-Kolonie
Der Begriff „Cyborg“ wurde eingeführt, um eine neue Form des Menschen zu benennen, dessen nackter, jedoch durch künstliche Bauteile modifizierter Körper im rauen Weltraum überlebensfähig sein würde. Wenn wir nicht fähig sind, das Ökosystem zu steuern, vielleicht können wir uns aber doch an die sich wandelnden Umstände durch Selbstmodifikation anpassen? Wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verlieren, wie und wo würden Cyborgs leben? Was würden eine Sextillionen Cyborgs tun oder unternehmen, die im Vakuum des Weltraums schweben und keine Luft, keine Nahrung oder Unterkunft benötigen? Würde zumindest einer der irdischen Begriffe, wie etwa Kultur, Leben, Kunst, Architektur oder Liebe, weiter bestehen?