Körperlichkeit
Der kreative Körper

Eglė Budvytytė. Songs from the compost mutating bodies, imploding stars
Eglė Budvytytė. Songs from the compost mutating bodies, imploding stars | 2020, Collaboration with Marija Olšauskaitė and Julija Steponaitytė | Foto (Screenshot): Eglė Budvytytė

Von Deimantė Bulbenkaitė, Justė Jonutytė

Das erste Werkzeug der Kreativität, das wir selbst in diese Welt mitbringen, ist unser Körper. Zu Beginn hilft er uns beim Kennenlernen der Umgebung, wir strecken die Gliedmaßen aus, wecken unsere Sensibilität, erkunden den Raum und dessen Verhältnis zu unserer Hautbarriere. Mit der Zeit lernen wir, den Körper durch Stimme, Fuß- und Fingerabdrücke zu erweitern. Schon bald bauen wir die Funktionen des physischen Körpers weiter aus zu intellektuellen Äußerungen, die darauf abzielen, die Grenzen zwischen uns selbst und anderen aufzubrechen oder zu schaffen, Dialoge über Moral, Geschlecht, Sexualität und sogar das Recht auf den Körper in Gang zu setzen. Somit ist der Körper die radikalste und zerbrechlichste Form der Jetzigkeit, denn er ist selbst nicht ewig, jedoch imstande, ein Zeichen für etwas zu hinterlassen, worauf man nur mit künstlerischen Mitteln zurückkommen kann.

Der Körper wirft Fragen auf, regt zu Diskussionen an, bildet Normen oder bricht kühn, allein durch seine einzigartige Gegenwart, mit geltenden Normen. Der Körper ist nicht einfach gegeben. Insbesondere wenn er kreativ eingesetzt wird, ist er stets auch eine Aussage darüber, was er jetzt gerade bedeutet und tut. Der kreative Körper ist Materie in Aktion, die als Leinwand für eine künstlerische Aussage oder auch als Werkzeug zur Schaffung neuer Wahrnehmungsebenen dienen kann. Dieser Text ist ein strukturierter Leitfaden, wie der Körper in der modernen und zeitgenössischen Kunst und Mode verschiedene Rollen einnehmen kann, indem er zum Hauptobjekt des Werkes wird, das sich gleichsam mit dem Subjekt vermengt, und zum Raum, in dem aktuelle Fragen aufgeworfen werden können. Jedes Segment stellt die Perspektive der Künstler*innen auf den Körper vor (Was sonst als der Blick verleiht dem Körper Bedeutung?) und zeigt die Multidimensionalität und Problematik des Körpers als Element des kreativen Prozesses.

Der Körper als Barriere: Donna Huanca (geb. 1980, USA)

Wir erleben die Welt durch Oberflächen und denken nur selten daran, dass auch die Umwelt uns durch unsere Oberfläche – die Haut – erlebt. In Donna Huancas Werken wird diese äußere Barriere unserer Erfahrung, die auch die Grenze unserer irdischen physischen Erfahrung darstellt, zur Hauptleinwand. Huancas künstlerische Praxis wirft Fragen dazu auf, in welcher Weise unsere körperliche Erfahrung Verhalten und Wahrnehmung prägt und welche unsichtbaren Geschichten sich in unseren – sowohl bewussten als auch unbewussten – Körpergesten verbergen. In Huancas Performances verwandelt sich der nackte Körper, versteckt unter Schichten von Farbe, Kosmetika und Latex, plötzlich von einem Subjekt in ein Objekt – für die Betrachtenden abstrakt und unzugänglich. Die Ritualität und die äußerst subtile Choreographie lassen in den Werken der Künstlerin unerwartete Nebenschichten erkennen, da die Beziehung von Performerin und Betrachtenden eine grundlegende Rolle spielt – beide Seiten versuchen, die körperliche Erfahrung durch ein intellektuelles, historisches Prisma wahrzunehmen.

Körper als Skulptur: Eglė Rakauskaitė (geb. 1967, Litauen)

Der Körper ist uns allen gemeinsam, trennt uns andererseits aber auch unweigerlich voneinander. Diese Erkenntnis gehört zu den Themen, mit denen sich die litauische Künstlerin Eglė Rakauskaitė beschäftigt. Sie gehörte mit zu den Ersten, die die Idee des Körpers als kreatives Werkzeug – insbesondere im Kontext des feministischen Diskurses – in der litauischen Kunst einführte. Als Reflexion über die Befreiung der modernen Frau von sozialen Rollen schuf Rakauskaitė 1995 eine ihrer wirkungsvollsten Performances »Die Falle. Vertreibung aus dem Paradies«, bei der dreizehn Mädchen, an den Zöpfen zusammengebunden, wie eine nicht einzureißende Skulpturenwand im Kreis standen. Sie trugen weiße Kleider, die die weibliche Jungfräulichkeit symbolisieren, und darüber zu große schwarze Männerjacken, die gleichsam die Freiheit der Frauen einschränken. Obwohl von der Symbolik der litauischen Volkskunst (geflochtene Zöpfe, Jungfräulichkeit, Weiß) durchdrungen, ist die saubere und geläuterte Ästhetik der Performance auch universell verständlich.

Der Körper als Krise: Eglė Budvytytė (geb. 1981, Litauen)

Die litauische Künstlerin Eglė Budvytytė, die auf der Biennale 2022 in Venedig viel Lob erntete, sieht in ihren Werken, die Performance, Poesie, Musik und visuellen Ausdruck verbinden, den Körper oft als problematischen Raum, genauer gesagt als Krise, verursacht durch die Abhängigkeit voneinander getrennter Körper und etablierter schädlicher Hierarchien. Die 2017 entstandene Performance »Choreographie für einen laufenden Mann« wird als Statement über die Männlichkeit begriffen. Eine Männlichkeit, die ihrer alten, schädlichen Identität entfliehen möchte, aber nicht weiß, wie sie das tun soll, ohne auf die nicht mehr funktionierenden, aber natürlich erscheinenden Codes des Machismo zurückzugreifen. Auch im Video »Songs from the Compost: mutating bodies, imploding stars« von 2020 sieht Budvytytė den Körper als Krise – nur dass diesmal die Probleme das toxische Verhältnis des menschlichen Körpers zur Umwelt vorwegnehmen.

Der Körper als Verfall: Eva Hesse (geb. 1936, Deutschland, gest. 1970, USA)

Eva Hesses Verhältnis zum Körper war zeitlebens problematisch und von Verlusten geprägt – die Flucht als Jüdin aus dem Dritten Reich, der Selbstmord der Mutter sowie psychologische Traumata und Ängste führten zu einem komplizierten Schaffensweg und einem schwierigen Verhältnis zur Weiblichkeit und zum Ausdruck derselben. Mit ihren Skulpturen aus vergänglichen, aber durch ihre Plastizität beeindruckenden Materialien wie Polyester, Gummi, Silikon, Fiberglas, Latex, Harz oder Kunststoff untersuchte die Künstlerin den Platz des weiblichen Körpers in der Kunstwelt. Hesse sprach sich gegen die Bezeichnung »female artist« aus (männliche Künstler wurden ohne Hervorhebung des Geschlechts einfach »artist« genannt) und schuf unbequeme, merkwürdige Skulpturen, die auf absurde Weise die Attribute des weiblichen Körpers nachahmen. Als gruselig interessante Parallele kann man betrachten, dass sowohl Hesses Werke als auch ihr – bedingt durch ihren frühzeitigen Tod – sehr kurzer Schaffensweg durch einen schnellen Verfall gekennzeichnet sind.
 
Der Körper als Spiel: Ema Milašauskytė (geb. 1996, Litauen)
 
Der Körper muss neue Möglichkeiten für die Kunst schaffen, nicht Barrieren errichten. Das gilt insbesondere, was das Verhältnis zu Selbstdarstellung und Kleidung betrifft. Die Designerin Ema Milašauskytė gibt das geläufige Verhältnis zwischen Körper und Kleidungsstück mit den vier Öffnungen für Kopf, Arme und Oberkörper auf und kreiert auf dem Prinzip des Kimonos beruhende Kleidungsstücke mit mehr als sechs Hauptöffnungen. Somit ermöglichen es die von ihr entworfenen tragbaren Modespielzeuge nicht nur, das Kleidungsstück immer wieder in neuer Weise zu präsentieren, sondern auch die Möglichkeiten des Verhältnisses von Kleidungsstück zu Körper zu erweitern.

Der Körper als Blick auf das Selbst: Nadia Lee Cohen (geb. 1992, UK)

Lange Zeit nur durch das Prisma des männlichen Blicks (englisch male gaze) betrachtet, hat der weibliche Körper im vergangenen Jahrhundert sein Recht auf Autonomie, frei von jeglicher Beurteilung von außen oder auferlegten Aussehensstandards, mutig eingefordert. In Anlehnung an die feministische Kunst veröffentlichte die Modefotografin Nadia Lee Cohen 2020 eine Monografie mit dem Titel »Women«, in der die hyper-surrealistische Ikonografie der Popkultur den weiblichen Körper so zeigt, wie er von den Frauen selbst gezeigt (und gesehen) werden möchte. Cohens Blick ist nicht erotisierend und zwängt den Körper auch nicht in einen engen Wahrnehmungsrahmen – ganz im Gegenteil, denn ihre fotografischen Werke sprechen anhand eines sehr breiten Spektrums von Sexualität über Weiblichkeit und Körperlichkeit und versetzen nicht den Betrachter, sondern das Model in die Machtposition.

Der Körper als Blaupause: Jil Sander (geb. 1943, Deutschland)

Architektin des Minimalismus. So wird die deutsche Designerin Jil Sander oft genannt, die 1973 ihr eigenes Modelabel gründete und als eine der wichtigsten Designerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. Indem sie das Verhältnis von strengem, ja geradezu puristischem Design und konventionell dekoriertem und schön gemachtem weiblichem Körper radikal überdachte, brachte Sander eine intellektuelle Schlichtheit und Reinheit in die Damenmode, mit der sie den Grundstein für die heutige minimalistische Modedesignbewegung legte. Interessant sind die zahlreichen architektonischen Elemente in Sanders Arbeiten, bei denen der Körper als Fundament und das Kleidungsstück als Fassade fungiert, die so angelegt ist, dass sie ihre Wirkung im Zusammenspiel mit dem Körper entfaltet und sich bewegt, ohne ihn in den Hintergrund zu drängen.

Der Körper als Konflikt: Rei Kawakubo (geb. 1942, Japan)

Die vielleicht körperbewussteste Kollektion in der Geschichte der Mode präsentierte im Frühjahr-Sommer 1997 die Designerin Rei Kawakubo (Modehaus »Comme des Garçons«) unter dem Motto »Body Meets Dress, Dress Meets Body«. Die Kleider der Kollektion glichen riesigen Klumpen und Höckern auf den Körpern der Models, die normalerweise als unharmonisch und für die Symmetrie des Körpers von Nachteil betrachtet würden. Nach Kawakubo besteht die Aufgabe von Designer*innen, die mit dem Körper arbeiten, gerade darin, ständig in Frage zu stellen, was wir als konventionelle Schönheit sehen, und Risiken einzugehen, um neue Blickwinkel auf den Körper zu finden. Die Kollektion gilt bis heute als eine von Kawabukos wichtigsten Arbeiten, die die Grenzen der Mode verschob und einen Protest gegen die weiblichen Körperstandards darstellte.

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