Projekte und Perspektiven der Inselkolonie
„Wir sind wie eine kleine NGO“
Am 19. März 2013 feiert die Kunstkolonie Nidden der Kunstakademie Vilnius ihren zweiten Geburtstag. Die Abgeschiedenheit und die spezifischen Landschaften der Kurischen Nehrung zogen bereits während des 19. und 20. Jahrhunderts zahlreiche Künstler und Intellektuelle auf der Suche nach Ruhe und Inspiration an. Die Kunstakademie Vilnius initiierte mit der Eröffnung der „Nida Art Colony“ die Wiederbelebung dieser Tradition, um Kunststudenten, professionell arbeitende Künstler und Kunstinteressierte – sowohl aus Litauen als auch aus anderen Ländern – auch heute noch an jenen besonderen Ort zusammen zu bringen und sie dort zum Denken und Schaffen anzuregen. Die heutige Geschäftsführerin Rasa Antanavičiūtė berichtet im Interview vom Heranwachsen der Kolonie.
Was war die Initialzündung für die Kunstkolonie Nidden, wie sie heute besteht?
Der ehemalige Direktor der Kunstakademie, Professor Arvydas Šaltenis, selbst der Malerei verschrieben, hatte die Idee, dass die Akademie eine Basis in Nidden haben sollte. Diese Idee entstand natürlich auch aufgrund von Niddens Geschichte als Schaffensort für namhafte Künstler. Die konkrete Ortswahl fiel schließlich auf ein altes Lagergebäude, das die Akademie dann 1998 kaufte.
Aber die Anlage sieht sehr neu aus.
Ja, bis 2009 fand allerdings keine Renovierung statt. Das Gebäude wurde gerade so hergerichtet, dass es möglich war, darin zu leben. Angefangen hat alles mit sogenannten Sommer-Workshops, für die Studierende und Dozenten nach Nidden fuhren. Diese waren und sind auch noch Teil des Studiums. Zwischen Juni und September finden die Workshops statt, und in anschließenden Ausstellungen werden die besten Ergebnisse präsentiert. 2009 kam schließlich der Gedanke auf, dass Nidden als Zentrum der Akademie für internationalen Austausch dienen könnte, als Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Kunstschulen aus verschiedenen Ländern aufeinander treffen, ihr Wissen austauschen und miteinander arbeiten können. Also formulierten wir ein Projekt. Zu dieser Zeit arbeitete ich im Projektmanagement. Es existierten nur sehr allgemeine Richtlinien, zum Beispiel, dass sowohl professionelle Künstler als auch Studierende willkommen seien, und die Ideen eines Residenzprogramms und der Einrichtung eines Wohnheims für kurze Aufenthalte von Studenten nahmen Formen an – Nidden sollte der Akademie internationale Aufmerksamkeit verschaffen. Finanzierung erhielten wir von European Economic Area und Norway Grants. Dadurch war es uns möglich, das Gebäude zu renovieren und es den Zwecken künstlerischer und kultureller Fortbildung anzupassen. Wir konnten alles besorgen, angefangen bei Ziegeln bis hin zu Computern, Tellern, Löffeln und Tassen, einfach alles, was irgendwie gebraucht wurde.
Also bestand die ursprüngliche Idee vor allem darin, einen Ort des Lernens, Experimentierens und Schaffens für die Studierenden der Kunstakademie in Vilnius zu schaffen. Dies hat sich dann erst später ausgeweitet, weil der Wunsch nach internationaler Aufmerksamkeit und Austausch aufkam.
Ja genau, es gab vorher schon eine Kollaboration vom Institut für Fotografie und Medien mit einer Deutschen Einrichtung, der Kunsthochschule für Medien in Köln. Diese Hochschule beteiligte sich 2008 als erster internationaler Partner.
Was machte Nidden damals zum idealen Ort für euer Vorhaben?
Nidden ist ein sehr einzigartiger Ort in Litauen. Die meisten Menschen in Litauen verbringen dort gerne ihren Urlaub, und ein weiterer Grund war, dass der Ort auch auf Menschen außerhalb Litauens sehr anziehend wirkt. Die besondere Landschaft war natürlich viel ausschlaggebender als die Geschichte des Ortes. Nidden ist vom Meer umgeben und liegt unmittelbar vor der russischen Grenze, das fasziniert Menschen und macht es einfacher, auch international zu agieren. Die Abgeschiedenheit spielte natürlich auch eine wichtige Rolle, vor allem für ein Künstler-Residenzprogramm. Außerhalb der Saison ist der Ort sehr ruhig, wir haben immerhin fünf Studios, in denen Künstler arbeiten können, und jeweils parallel zum Residenz-Programm laufen vor Ort auch ständig Kurzzeitprojekte. Das sorgt dafür, dass eine gewisse interne Gemeinschaft entsteht, die sich etwa alle zwei Monate neu aufstellt, je nachdem wie und wann Künstler ein- und ausgehen – der Mindestaufenthalt beträgt normalerweise einen Monat. Diese interne Gemeinschaft hat jeweils ihre eigenen Regeln und funktioniert nach unterschiedlichen Sozialisierungsschemata. Dieser Umstand hat sich als sehr gewinnbringend heraus gestellt. Man begibt sich in ein vollkommen anderes Umfeld, an einen Ort, an dem man vorher noch nie gewesen ist, mit einer speziellen und sehr schönen Landschaft, in der Regel in guter Gesellschaft professioneller Künstler, und das alles über den Zeitraum von mehreren Monaten – hier entsteht der entscheidende Unterschied im Arbeitsprozess.
Sind die Programme der Kunstkolonie inhaltlich vor allem auf die praktische künstlerische Arbeit fokussiert oder spielt die Theorie auch eine Rolle?
Kommt auf das Projekt an. Im Falle der Residenzprogramme: Letztes Jahr wurde eine Kuratoren-Residenz ins Leben gerufen, die verhältnismäßig theoretisch angelegt ist. Die Ausschreibung steht unter einem Thema, das bedeutet, dass sich die Künstler für dieses Thema bewerben und sich darin einarbeiten möchten. Sie werden von den Kuratoren begleitet, die Diskussionen anleiten, und den Abschluss bildet eine Ausstellung.
Also geschieht die Forschung auch hier auf künstlerische Art und Weise.
Ja sicher, es soll Kunst entstehen. Es handelt sich um künstlerische Forschung. Natürlich sind wir auch offen für rein wissenschaftliche Forschung, aber das passiert normalerweise nicht in einem der Residenzprogramme. Manchmal reisen Kuratoren an, um beispielsweise ein Buch vorzustellen, oder Studierende der Kunstgeschichte nutzen den Ort und die Räumlichkeiten, um mit ihren Abschlussarbeiten voran zu kommen, um Abstand von der alltäglichen Routine zu gewinnen und sich fokussieren zu können. Grundsätzlich haben wir uns für die Erforschung der Prozesse künstlerischer Produktion und deren Entwicklung von Bildender Kunst sowie für künstlerische Forschung aufgestellt. Ich würde mir wünschen, dass es bald eine jährliche Veranstaltung gäbe, die der rein wissenschaftlichen Forschung zu Fragen der Kunst und Kultur gewidmet ist. Für uns ist es allerdings schwer, so viele Dinge selbst zu organisieren. Wir freuen uns immer über Leute, die Ideen haben, die etwas aufbauen möchten, und sind gerne dabei behilflich, diese Visionen umzusetzen.
Verfolgt ihr außerdem die Umsetzung von Projekten, die sich der kulturellen Bildung widmen, die also für Menschen konzipiert sind, die bis dahin nicht mit der Produktion von oder der Forschung über Kunst und Kultur in Kontakt waren?
Es gibt dazu einige Initiativen. Eine davon war Telling the Baltic, ein künstlerisches Projekt, in dem die Teilnehmer Geschichten mit einem Bezug zum Meer, erzählt von der Ortsbevölkerung Niddens, sammelten, und diese dann künstlerisch umsetzten. Die Geschichtenerzähler wurden eingeladen, am Projekt teilzunehmen, also die Kolonie zu besuchen und an der Ausstellungseröffnung teilzuhaben. Außerdem organisieren wir Tage der offenen Tür für die Studios für diejenigen, die einfach neugierig sind und sehen wollen, was bei der Kolonie vor sich geht, was die Künstler dort machen, wie sie arbeiten und ähnliches. Dieses Konzept hat sich nicht als besonders erfolgreich herausgestellt, weswegen wir nun versuchen, es zu verändern und andere Wege zu finden. Möglicherweise sind Ausstellungen die bessere Herangehensweise. Diese Tage der offenen Tür funktionieren eventuell deswegen nicht, weil die beiden Gruppen so spontan einfach keinen Zugang zueinander finden können. Letztes Jahr fanden Filmvorführungen für die Ortsbevölkerung statt, aber die Untertitelung der Filme erwies sich als so arbeitsintensiv, dass wir dieses Jahr häufiger mit Filmfestivals kooperieren, zum Beispiel mit dem des Goethe-Instituts oder des Institut Français oder dem immer im Frühling statt findenden Kino Pavasaris.
Und wie sprecht ihr das Publikum außerhalb von Nidden an?
Es gibt eine Kunstschule, die wir letzten Sommer bereits durchgeführt haben und auch diesen Sommer gerne wiederholen möchten. Hier bieten wir Kurse in Fotografie und Drucktechnik an, für die man sich anmelden kann. Es muss eine Gebühr für das Honorar der Lehrenden gezahlt werden, und wir laden professionelle Künstler und Dozenten der Kunstakademie in Vilnius ein, in Nidden zu unterrichten. Normalerweise ist man als Teilnehmer zwischen drei und vier Tage lang anwesend und reist mit eigenen künstlerischen Produkten in den Händen wieder ab.
Was sind deine Aufgaben als Geschäftsführerin?
Das ist eine schwierige Frage. Wir sind ein sehr kleines Team, bestehend aus Geschäftsführung, künstlerischer Leitung und dem Projektkoordinator, der in Nidden lebt, während Vytautas Michelkevičius, der künstlerische Leiter, und ich hin und her pendeln. Grundsätzlich teilen wir uns also die Verantwortlichkeiten, abhängig davon, wer gerade wo ist. Wer in Nidden ist, macht mehr oder weniger alles. Das beginnt damit, die Leute mit Handtüchern und Schlüssel zu versorgen. Wenn ich aber in Vilnius bin, stehe ich mehr mit der Akademie in Kontakt, treffe Menschen, erstelle Jahresbilanzen, schreibe Anträge und so weiter. Vytautas ist in der Regel mehr in der Kolonie, steht also mehr in Kontakt mit den Besuchern und Künstlern. Aber es gibt auch einige Projekte, die wir jeweils eigenständig durchführen. Ein sogenanntes Erasmus-Intensiv-Programm ist zum Beispiel mein Projekt, und Vytautas hat auch so seine Projekte. Insgesamt ist Vytautas eher für das künstlerische Programm zuständig, wie die Bezeichnung schon sagt, und ich bin für alles zuständig: für das Programm als auch für den finanziellen Teil, für Personal, Gehälter und all diese Dinge.
Finanziert ihr euch unter anderem über die Akademie?
Die Akademie möchte, dass die Kunstkolonie nachhaltig arbeitet und unabhängig ist, was uns zu einer kleinen NGO macht – zumindest in der Theorie. Wir müssen die Gelder, um das Gebäude instand zu halten, und um alle weiteren anfallenden Kosten auszugleichen, beispielsweise auch unsere eigenen Gehälter, selbst aufbringen. Das war bisher nicht möglich. Also hat die Akademie Teilbeträge zugesteuert, um die Kolonie am Leben zu erhalten. Letztes Jahr war es ein Drittel des benötigten Budgets, dieses Jahr ist es schon viel weniger, etwa ein Fünftel. Wir machen also Fortschritte und können hoffentlich schon bald ohne die Hilfe der Akademie überleben. Das ist das Ziel – finanziell unabhängig zu sein.
Rasa Antanavičiūtė, Mitinitiatorin und derzeitige Geschäftsführerin der Kunstkolonie Nidden; Doktorandin der Kunstgeschichte; forscht vor allem zum Themengebiet der Kunst im öffentlichen Raum zu nicht-künstlerischen Zwecken, dazu gehören Diskurs über Macht, (Re-)Konstruktion der Erinnerung und Darstellungsbildung etc; Zuvor arbeitete sie im International Office, dann im Projektmanagement-Büro der Kunstakademie Vilnius.