Litauen in der Fläche
Šalčininkai. Zwischen lokalen Identitäten und großen historischen Erzählungen
Von Simonas Teškevičius
„Žvelk širdimi į širdį/Miej serce i patrzaj w serce!“ („Hab ein Herz und schau ins Herz“) – so lautet die letzte Zeile von Adam Mickiewiczs Gedicht „Romantik“, die nicht von ungefähr in zwei Sprachen auf dem Denkmal für den großen Dichter auf dem wichtigsten Platz im südostlitauischen Rajongemeindehauptort Šalčininkai/Soleczniki prangt. Die Aufschrift steht als Symbol für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgekommene polnische Romantik, in der historische und kulturelle Bilder aus dem ehemaligen Großfürstentum Litauen (GL) eine tragende Rolle spielten. Adam Mickiewiczs Werke und insbesondere die Anrufung Litauens als Vaterland in seinem Pan Tadeusz („Litwo! Ojczyzno moja!“ (Litauen! Mein Vaterland!)) vermittelt in heutigen Kontexten die Idee des staatsbürgerlichen Patriotismus, der den örtlichen Bewohnern die Möglichkeit gibt, Erinnerungskulturen und historische Erzählungen zu kreieren, die sprachliche und ethnische Grenzen überschreiten
Die 45 Kilometer südlich der Hauptstadt Vilnius gelegene Stadt Šalčininkai sticht in Litauen insbesondere durch ihre ethnische und religiöse Vielfalt hervor. Von den gut 30000 Einwohnern sind 80 % ethnische Polen, 10 % Litauer, 5 % Russen und 3 % Belarussen. Die Litauer stellen hier im Gegensatz zum sonst in ethnischer Hinsicht ziemlich homogenen Land eine kleine Minderheit dar. Aus diesem Grund kontrastieren die von den örtlichen Bewohnern geschaffenen, auf die Erhaltung einzigartiger Identitäten ausgerichteten historischen Erzählungen mit dem in der litauischen Mehrheitsbevölkerung dominierenden Bild des „Anderen“. Anhand der Rajongemeinde Šalčininkai, in der vielfältige Identitäten aufeinandertreffen, lässt sich die Problematik der südostlitauischen Region um Vilnius, die im Litauischen als Vilnija oder Vilniaus kraštas bekannt ist und von den polnischsprachigen Bewohnern Wilenszcyzna genannt wird, gut erläutern.
Šalčininkai unter dem Aspekt des „Anderen“
Das heutige Šalčininkai ist der „Schlüssel“ zum Verständnis der auch weiterhin auftretenden interethnischen Spannungen. Ihre Ursachen sind jedoch in historischen Prozessen und der Interaktion der litauischen und polnische Identität im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts zu suchen, die zur Herausbildung von bis heute lebendigen Stereotypen führten. Deshalb kann die Besonderheiten dieser Region nur verstehen, wer sich zuvor mit den historischen Ursachen für die Entstehung dieser Stereotypen auseinandergesetzt hat.Der moderne litauische Ethnos begann sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert herauszubilden. Wie viele andere Völker, die sich zu jener Zeit als Ethnien formierten, suchten auch die Litauer nach einem Ausgangspunkt für die Definition ihrer Andersartigkeit. Aus soziologischer Sicht mussten sie sich eines bewusst werden: „Wir sind wir, denn wir sind nicht die anderen“. Im Rahmen dieses Findungsprozesses kam die Rolle des „Anderen“ der polnischsprachigen, zu jener Zeit erst in der Vorstellung existierenden litauischen Gemeinschaft zu. Mit anderen Worten: Die moderne litauische Identität grenzte sich zuvorderst von den polnischen Identitäten ab: von der alten staatsbürgerlichen Identität des Großfürstentums, verkörpert durch Adam Mickiewicz, und von der sich gerade begründenden modernen, auf ethnoloinguistischen Kriterien beruhenden polnischen Identität. Dies führte zur Herausbildung einer negativen Sicht auf die Bilder der polnischsprachigen litauischen Gesellschaft und der gemeinsamen litauisch-polnischen Geschichte im Rahmen der großen historischen Erzählung des litauischen Volkes. Auch wenn die Sprache mit zu den unmissverständlichsten Unterscheidungskriterien gehörte, die ein Volk vom anderen trennten, konnte der moderne litauische Nationalismus, wenn er sich auf die östlichen Regionen Litauens bezog, nicht auf sprachliche Kriterien beziehen, denn hier war die Mehrheit der Bevölkerung nicht litauischer Muttersprache. Deshalb begann man sie im Rahmen historischer und ethnischer Kategorien zu betrachten – es bildete sich der Stereotyp der polonisierten Litauer heraus: Die Bewohner der Region wurden als Litauer im ethnischen Sinn verstanden, die im Laufe der Jahrhunderte ihre ethnische Identität und Sprache verloren hatten.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen fassten die Stereotypen noch stärker Fuß. Im Laufe der Unabhängigkeitskriege gingen Vilnius und ganz Südostlitauen 1920 für die Litauer verloren und gehörten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zu Polen. In dieser Zeit wuchs eine ganze Generation von Litauern auf, die im Geiste des Verlustes von Vilnius erzogen wurde – dem großen Trauma des litauischen Volkes mit klar definierten Schuldigen.
Im Zweiten Weltkrieg verschärften sich die interethnischen Spannungen noch mehr und mündeten in direkte Konflikte zwischen der polnischen Heimatarmee (Armia Kraiowa), prodeutschen litauischen Polizeieinheiten, den Litauischen Sonderververbänden (Vietinė rinktinė), und sowjetischen Partisanen. Die Einwohner der Region hatten mehr als anderswo in Litauen unter deren Kämpfen zu leiden. Davon zeugen heute die Denkmäler, die in der Gegend des Rūdninkai-Waldes an Dörfer erinnern, deren Bewohner zur Gänze ermordet wurden.
Während der beinahe ein halbes Jahrhundert dauernden sowjetischen Okkupation war die Diskussion ethnischer Fragen aufs Eis gelegt. Die ersten Nachkriegsjahrzehnte veränderten die Bevölkerungszusammensetzung der Region von Grund auf: Die Intelligenzia wurde zum Großteil nach Polen expatriiert, dafür kamen viele neue Bewohner aus Belarus in die Gegend von Šalčininkai. Bis zum Tauwetter am Ende der Achtzigerjahre wurden ethnische Fragen jedoch nur selten angesprochen. Erst nachdem Litauen 1990 seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte und die Zensur verschwunden war, konnten die Diskussionen über Fragen der ethnischen Identität und der historischen Erinnerung zu neuem Leben erwachen. Dies führte jedoch zu einer Atmosphäre des Misstrauens, das durch das Bestreben führender polnischsprachiger Exponenten nach kultureller und politischer Autonomie zusätzlich befeuert wurde. Die Mehrheit der Litauer blickte durch den Filter der alten Stereotypen und der Angst vor einem Verlust der Hauptstadt Vilnius auf die Region. Obwohl die politische Spannung nach und nach verebbte, ist ein ganzer Fragenkomplex wie der öffentliche Gebrauch des Polnischen neben der litauischen Staatsprache oder zweisprachige Schilder, den man in Litauen oft als „W“-Problem zusammenfasst, auch weiterhin ungeklärt. Außerdem wird die Multikulturalität der Region nicht selten ignoriert. Ein Beispiel hierfür sind die gesetzlich verankerten ethnokulturellen Regionen Litauens, in deren Rahmen Šalčininkai der Dzūkija zugerechnet wird.
Šalčininkai: lokale Identitäten
Eine ganze Reihe soziologischer und anthropologischer Forschungen belegt, dass die Bewohner der Region sich nicht als Dzūken identifizieren, obwohl in Vilnius tätige Ethnologen nicht selten ein gegenteiliges Bild zu vermitteln suchen. Hier haben einerseits die regionale Identität und überhaupt das Lokale eine herausragende Bedeutung, doch deren Inhalt ist eben gerade nicht die ethnokulturelle Zugehörigkeit zur Dzūkija, sondern die Identifizierung mit der Wilnaer Region (Vilniaus kraštas, Vilnija, Wilenszcyzna). Andererseits empfinden es viele Bewohner der Region als wichtig, auch den staatsbürgerlichen Teil ihrer vielschichtigen Identität hervorzuheben. Deshalb lautet die Antwort eines manchen von ihnen nach seiner ethnischen Zugehörigkeit: litauischer Pole, Litauer polnischer Herkunft, Pole aus der Wilnaer Region oder ähnlich.Entsprechend vielschichtige Identitäten legen auch die hier vorherrschenden historischen Erzählungen offen, wie sie unter anderem an Erinnerungsorten zum Ausdruck kommen. Die Ausstellungen der in den letzten zwei Jahrzehnten erneuerten Museen, Denkmäler und Erinnerungsorte werden von historischen Narrativen dominiert, die das jahrhundertelange Zusammenleben von Litauern und Polen in der Rzeczpospolita (1569–1795) sowie die berühmtesten Persönlichkeiten und Errungenschaften jener Zeit hervorheben. Hier wird auch die Erinnerung an die romantischen Dichter aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Anführer der gemeinsamen litauisch-polnischen Aufstände gegen das Zarenreich sowie die herausragendsten Wissenschaftler jenes Jahrhunderts erinnert. Bei der Darstellung der Ereignisse im 20. Jahrhundert wird die Erinnerung an die Polnischen Heimatarmee aktualisiert, was bei der Mehrheit der Mehrheit der Litauer noch immer für Spannungen sorgt.
Die hier begründeten historischen Erzählungen sind aber in ihrer Gesamtheit auf Formen der Erinnerung ausgerichtet, die Polen, Litauer, Belarussen und Russen einen. Sie heben die Multikulturalität des Šalčininkų rajonas und Elemente des Zusammenlebens hervor. So können die verschiedenen ethnischen Gemeinschaften, die hier leben, ihren eigenen Platz in der litauischen Geschichte finden und sich als vollwertiger und integraler Bestandteil der Zivilgesellschaft fühlen. Auch wenn die regionalen Erinnerungsorte und die von ihnen vermittelten historischen Erzählungen nicht selten mit dem von der litauischen Bevölkerungsmehrheit geschaffenen historischen Narrativ zusammenprallen, wird die Gegend in jüngerer Zeit von immer mehr Litauern aus anderen Landesgegenden besucht, was, um mit Adam Mickiewicz zu sprechen, den Weg für einen Blick von Herz zu Herz und die allmähliche Beseitigung der aus der Vergangenheit ererbten Stereotypen freimacht.