Marcin Wilk empfiehlt
Herkunft
Er gilt als einer der interessantesten Prosaiker der jungen Generation: Saša Stanišić, Immigrant aus dem ehemaligen Jugoslawien, begeistert die deutsche Leser mit seinen poesieerfüllten Romanen. Sein neues Buch ist aber noch mehr – es ist eine überaus persönliche Geschichte. Als Stanišić 1992 nach Deutschland kam, war er erst vierzehn Jahre alt. Deutschland war nicht seine Wahl gewesen, sondern Notwendigkeit, Ort der Zuflucht vor den Schrecken des Balkankrieges. Die ersten Monate in der neuen Heimat gehörten nicht zu den leichtesten. Die Eltern arbeiteten unterhalb ihrer beruflichen Qualifikation, er selbst balancierte zwischen der Neugier und der Unbedarftheit des Neuankömmlings. Dazu musste er noch die Vieldeutigkeit seiner Herkunft entwirren. Erst mit der Zeit gelang es ihm, in die neue Kultur und Gesellschaft einzudringen. Er lernte die deutschen Romantiker, Eichendorff und Hölderlin vor allem, kennen und lieben. Über die Spuren der Annäherung an diese Literatur und ihr Verständnis lesen wir in Herkunft. Und er versuchte in der neuen Sprache zu schreiben. Es gelang. Deutsch wurde ihm zum neuen Heim.
Herkunft ist natürlich keine einfache, lineare und immer klare autobiografische Erzählung, obwohl auf nahezu jeder Seite die enorme Anstrengung spürbar ist, der eigenen Erzählung Ordnung zu verleihen. Was zunächst als Niederlage erscheinen mag, erweist sich schließlich als Triumph der Literatur. Es gibt viel Schatten in diesem Werk, viel schmerzliche Konfrontation. Dennoch ist es großenteils eine Erzählung über das Gedächtnis. Persönliche Erinnerungen und Reflexionen stoßen hier auf Berichte anderer Beobachter, vor allem Angehöriger der Hauptfigur. Die Vergangenheit verquickt sich mit der Gegenwart und das Gefühl mit dem Versuch eines intellektuellen Begreifens der Situation des Emigranten im Allgemeinen. Wie der Titel richtig verrät, geht es hier aber vor allem um das Wiederfinden der eigenen Identität, verstanden als Herkunft, Abstammung, Verwurzelung. Stanišić hat sich eine sehr schwere Frage gestellt, weshalb auch das Buch den Leser vor eine Herausforderung stellt. Vor allem aber ist Herkunft ein literarisch bravouröses autobiografisches Experiment.
Luchterhand Literaturverlag
Saša Stanišić
Herkunft
Luchterhand Literaturverlag, München, 2019
ISBN 978-3-630-87473-9
360 Seiten
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Rezensionen in deutschen Medien:
Perlentaucher
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